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HINTERGRUND/002: "Yellow Kid", die erste offizielle Comic-Figur


Ein kleiner Junge erobert die Welt


Der 5. Mai 1895, der Tag, an dem die erste Folge der Serie "Hogans Alley" in der Sonntagsausgabe der New York World erschien, gilt offiziell als die Geburtsstunde der Comics. Wenn man sich jedoch mit der Entstehung und Geschichte dieses Mediums beschäftigt, stößt man recht schnell darauf, daß Comics nicht erst mit diesem Tag entstanden sind, sondern vielmehr eine lange Geschichte haben und ihre Vorläufer überall dort zu finden sind, wo Menschen sich in irgendeiner Form darstellerisch verewigt haben. Als früheste Beispiele werden in diesem Zusammenhang gerne Wandzeichnungen oder Reliefs genannt, die Bildergeschichten enthalten. Diese Geschichten erklären sich zum Teil selbst, das heißt, man erfaßt ihren Inhalt zumindest in groben Zügen, auch ohne die jeweilige Kultur zu kennen. Das liegt daran, daß bestimmte, grundlegende Symboliken, beispielsweise, daß die wichtigste Person größer als die anderen und im Mittelpunkt stehend dargestellt wird, auch über die Grenzen von Jahrhunderten und Kulturen hinweg verstanden werden.

Später, als Sprache und bildnerische Darstellung sich mehr und mehr differenziert hatten - in "Literatur" und "Kunst", die den vornehmeren und wohlhabenderen Kreisen der Bevölkerung vorbehalten waren -, läßt sich die Spur der Comics in den im Mittelalter sehr populären und beliebten Bilderbogen verfolgen, die von Moritatensängern oder Erzählern vorgetragen wurden. Aber auch unter betuchteren Zeitgenossen, für die es nicht schicklich war, sich auf dem Marktplatz unter dem niederen Volk zu zeigen, waren diese illustrierten Geschichten und Begebenheiten sehr beliebt. Sie erwarben vervielfältigte, zum Teil kolorierte Bilderbogen, die als eine Art Vorläufer der Illustrierten in erster Linie den Damen des Hauses der Unterhaltung und Information dienten.

Von hier aus führt die Spur weiter zu den frühen Formen der Zeitungen, zu denen auch fliegende Blätter oder politische Handzettel gehörten, die reichlich mit Illustrationen oder den ebenfalls sehr beliebten Karikaturen ausgestattet waren. Mit Hilfe der Drucktechnik war hier eine Möglichkeit entstanden, aktuelle Geschehnisse, politische Ereignisse oder Begebenheiten, die einfach nur der Unterhaltung dienten, "unters Volk" zu bringen. Häufig waren in diesen Blättern mit Texten versehene Bildergeschichten vertreten, die zum Teil schon Vorformen der Sprechblase, die sogenannten "filatterios" enthielten, eine Art Spruchbänder, die dem Erzählenden aus dem Mund flatterten. Durch ihre Ergänzung von Wort und Bild hatten diese Bildergeschichten einen hohen Informationsgehalt auch für diejenigen, die kaum oder gar nicht lesen konnten, und eigneten sich somit hervorragend als Kommunikationsform für die breite Bevölkerung.

Genau aus diesem Grunde hatten insbesondere Bildergeschichten unter den gebildeteren Mitmenschen von Anfang an einen schlechten Ruf und waren ihnen ein Dorn im Auge. Bisher waren Kunst, in Form von teuren Originalwerken, und Literatur, in Form von nur für belesene Menschen verständlichen, gut gehüteten Büchern und Schriftrollen, nur einem Kreis weniger wohlhabender und einflußreicher Menschen vorbehalten gewesen, die aus ihrem Wissen entsprechend Kapital schlugen. Nun gab es ein Medium, das diese Privilegien anzukratzen drohte. Gegen die Gefahr, daß einem auf diese Weise plötzlich ein Teil jenes Wissens "weggenommen" und dem gemeinen Volk zugänglich gemacht wurde, setzte man sich mit Verachtung zur Wehr. Schnell verbreitete sich die Meinung, es handele sich um billigen und niederen Schund, den da plötzlich jeder Hans und Franz verstehen und sich leisten konnte. In diesem Zusammenhang gesehen, haben die heutzutage immer noch bestehenden Vorurteile gegen Comics eine lange "Tradition".

Die Entwicklung der Comics ging unter anderem über die Karikatur, die schon früh Stilelemente entwickelte, welche sich zum großen Teil auch in modernen Comics finden. So enthielten Karikaturen Bewegungslinien und Sprechblasen, überzogene Darstellungen von Figuren, "lebendige" Gegenstände, Tiere, die sprechen konnten, usw. Karikaturen wurden zum großen Teil als Vervielfältigungen verbreitet, was übrigens die englische Regierung wegen der schnell um sich greifenden Sitte, Raubdrucke anzufertigen, dazu veranlaßte, das Urheberrecht einzuführen.

Einige berühmte Karikaturisten gelten als bedeutende "Vorväter" der Comics, so unter anderem William Hogarth, (1697-1764), Rodolphe Töpffer (1799-1846) und Wilhelm Busch (1832-1908). Der in England lebende Maler, Graveur und Karikaturist William Hogarth war mit seinen Zeichnungen sehr beliebt und erfolgreich. Seine oft als Serie angelegten, detailreichen Bilder erzählten regelrechte Geschichten. Ein weiteres gemeinsames Element von Comic und Karikatur, das beide als echte Kommunikationsmedien auszeichnet, ist in der Liebe zum Detail, der "Mitteilsamkeit", zu finden, von der ein guter Comic oder eine gute Karikatur leben. Wenn man Bildergeschichten von Rodolphe Töpffer oder Wilhelm Busch ansieht, kann man kaum einen Unterschied zu den uns bekannten, modernen Comics entdecken. Zwar verwendeten sie keine Sprechblasen, aber das tat zum Beispiel Hal Foster in seinem Comic-Epos "Prinz Eisenherz" auch nicht.

Schon an diesem kurzen Abriß kann man erkennen, daß die Entwicklung des Comics fließend verlaufen ist, und man nicht von einer "Entstehungsstunde" sprechen kann.

Mit der zunehmenden Bedeutung, die die Comics als Massenkommunikationsmittel bekamen, war man auch bestrebt, ein bestimmtes Datum festzulegen, welches die "Geburtsstunde" der Comics bezeichnete, damit sie offiziell als eigenständige Darstellungsform gelten konnten. Deshalb suchte man ein Symbol, gewissermaßen einen ersten "Meilenstein", der für die Entstehung des Mediums Comic stehen kann.

Hierfür bot sich eine der Serien an, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts in den Wochenendbeilagen amerikanischer Tageszeitungen als "comic supplements" - komische Beilagen, erschienen, mit denen die Verleger versuchten, neue Leser zu gewinnen. Anfangs waren es vor allem Witzbilder und gezeichnete Karikaturen des amerikanischen Alltagslebens. Bei einigen dieser Bildergeschichten schrieb man den Text unter die Bilder, bei anderen mitten ins Bild; auch Spruchbänder, Mundfahnen oder Sprechblasen fanden Verwendung. Manche dieser Witzbilder hatten feste Figuren, die Woche für Woche wiederkehrten. Und so entwickelten sich nach und nach Serien, die zum großen Teil jenen Grundvoraussetzungen entsprachen, die nach heute gültiger Meinung das Medium Comic ausmachen: Erzählungen in mehreren Bildern, wiederkehrende Personen und der ins Bild integrierte Text. Eine von ihnen war die im Slum-Milieu angesiedelte Serie "Hogans Alley" (Hogans Gasse). Ihr Zeichner war Richard Felton Outcault. Jede Folge bestand aus einen großen Einzelbild zu einem bestimmten Thema, auf dem es von zahlreichen Gestalten, Bewohnern der Hogans Alley, wimmelte. Mitten unter ihnen befand sich ein zunächst noch namenloser Junge mit Segelohren, der mit einem blauen Nachthemd bekleidet war. Auf seinem Hemd trug er bissige Kommentare und rotzfreche Bemerkungen, die genauso respektlos wie die zahlreichen übrigen Sprüche waren, mit denen das Bild ausgefüllt war.

Besonders gegen Obrigkeiten hatten die Leute aus der Hogans Alley so einiges einzuwenden. Ein Bild hieß zum Beispiel: "Was die Bewohner der Hogans Alley mit dem Hundefänger machen" - mit dem Mann hätte man wahrlich nicht tauschen mögen! Gerade diese unverhohlene Respektlosigkeit liebte das Publikum, und die Serie bekam regen Zuspruch. Pulitzers Rechnung ging auf.

Im Laufe der Zeit wurden einige Neuerungen eingeführt, so verwendete Outcault zum Beispiel ab Februar 1896 Sprechblasen. Aber die wohl wichtigste Änderung ging mit einer technischen Neuerung einher - es war erstmals gelungen, eine gelbe Druckfarbe für den Zeitungsdruck zu entwickeln. Am 5.1.1896 ließ Outcault das bis dahin blaue Nachthemd des namenlosen Jungen knallgelb werden, was seine Beliebtheit und seinen Bekanntheitsgrad schlagartig ansteigen ließ. Er bekam nun auch einen Namen, "The Yellow Kid", in den später die ganze Serie umbenannt wurde.

Obwohl die Serie "Yellow Kid" eigentlich gar kein "richtiger" Comic war, denn ihr fehlte das wesentliche Element der Bilderreihung, schien sie im nachhinein besonders geeignet zu sein, symbolisch als "erster" Comic zu gelten. Die Einführung der gelben Druckfarbe, die bei dieser Serie mitverfolgt werden konnte, war ein wesentlicher Grund. Zum anderen kann der kleine Junge Yellow Kid als die erste über dieses Medium hinaus bekannt gewordene Comic-Persönlichkeit gelten. Er wurde als Werbefigur verwendet, es gab "Yellow Kid"-Spiele und Figuren und einen Nachdruck seiner Abenteuer als Buch. Übrigens soll auch der Ausdruck "Yellow Press" (Skandalpresse), von dieser Serie herrühren, um die sich ein regelrechter Pressekrieg zwischen den beiden Großverlegern Hearst und Pulitzer entspann: 1896 kaufte William Randolph Hearst die Serie für sein New York Journal. Pulitzer überbot ihn und holte Outcault plus "Yellow Kid" zurück, nur um von Hearst nochmals überboten zu werden. Am Ende erschien in den Zeitungen beider Verleger jeweils eine andere Version von "Yellow Kid", in Pulitzers "New York World" eine, die nun der Maler George Lucas zeichnete, in Hearsts "New York Journal" die Version von Outcault. Schon bald darauf wurden jedoch beide Serien eingestellt, da die ringsherum wie Pilze aus dem Boden schießenden "echten" Comic-Strips Yellow Kid bereits veraltet wirken ließen.

Man kann "Yellow Kid" somit als Bindeglied zwischen den frühen Comics und ihren Vorläufern und dem technischen Zeitalter verstehen. Beides ist in dieser Figur symbolisiert, die Herkunft der Bildergeschichten durch die Hauptdarsteller der Serie, die einfachen Leute aus der "Hogans Alley", und die industrielle Entwicklung durch die Einführung der gelben Druckfarbe und das Massenmedium Zeitung.