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SPRACHE/1025: "Sprache ist Kultur" - und Berlin spricht viele Sprachen (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

"Sprache ist Kultur" - und Berlin spricht viele Sprachen

Wir machen uns in diesem Beitrag auf die Suche nach jungen und älteren Menschen, die ihren Alltag in zwei Sprachen gestalten.

von Antje Vieth und Carlos Ramos



Zwei Frauen mit roter Clownsnase - die eine duckt sich unter einen Regenschirm, die andere pustet Seifenblasen - Foto: © Rotonda Teatro

Szene aus dem Theaterstück 'Britta die kleine Ratte' von Rotonda Teatro
Foto: © Rotonda Teatro

(Berlin, 16. Dezember 2020, npla).- In Berlin wachsen etwa ein Drittel der Kinder mit zwei oder mehr Sprachen auf. Denn Berlin spricht viele Sprachen: Deutsch führt die Liste an, gefolgt von Türkisch, Arabisch, Russisch und Englisch. Aber auch Spanisch, oft mit lateinamerikanischer Prägung, ist im Alltag und in den verschiedensten Lebensbereichen zu hören. Wir machen uns in diesem Beitrag auf die Suche nach jungen und älteren Menschen, die ihren Alltag in zwei Sprachen gestalten: beim Arbeiten, in der Schule, in ihrer Freizeit oder auf dem Spielplatz. Zweisprachige Kinder werden immer noch mit Stereotypen konfrontiert. Sie würden keine Sprache richtig lernen, Kinder würden später sprechen lernen etc. Dabei stellen monolinguale Menschen - also jene, die nur eine Sprache sprechen - global wohl die Minderheit dar. Barcelona zum Beispiel ist zweisprachig (Katalanisch und Spanisch), auch die Schweiz hat offiziell vier Sprachen. In Südafrika gibt es sogar elf Amtssprachen. Das Land mit den aller meisten Sprachen ist Papua-Neuguinea: Sieben Millionen Einwohner*innen teilen sich hier mehr als 850 Sprachen. Viele haben allerdings weniger als 1.000 Sprecher*innen und sind vom Aussterben bedroht.


Zweisprachige Schulen

Nagore Soroa ist Grundschullehrerin an einer Europaschule in Berlin-Kreuzberg. Sie selbst ist als Baskin zweisprachig aufgewachsen. Eine Sprache, sagt sie, sei viel mehr als eine Sprache, dahinter stehe eine ganze Kultur. Von sich selbst erzählt sie, dass sie ganz klar baskisch erzogen wurde. Sie spreche nicht nur Baskisch, sie ist baskisch. Ihr wurde von Anfang an klar gemacht: Wenn sie ihre Sprache nicht sprechen, wird sie sterben. Es ist also auch ihre Verantwortung, die Sprache am Leben zu halten. Die ersten Babywörter mussten Baskisch sein. Im Baskenland dreht es sich neben den sozialen Bewegungen und der Politik auch sehr viel um Sprache.

In Berlin gibt es viele zweisprachige Schulen, vor allem für europäische Sprachen: Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch, auch Türkisch - viel geprochene, aber vielfach negativ besetzte Sprachen wie Arabisch bisher nicht. Dabei ist weithin bekannt, dass der Zugang zu Sprache für alle Klischees aufbricht. Diese Erfahrung gibt Nagore Soroa auch an ihre Schüler*innen weiter: "Es ist für uns alle sehr bereichernd, unterschiedliche Sprachen in den Straßen zu hören - für die Kinder, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes. Es gibt Debatten um Mehrsprachigkeit und Menschen, die das unterstützen."


Die Theatergruppe Rotonda Teatro geht spielerisch mit Sprache und Zweisprachigkeit um

María Ruiz Larrea und Raquel Rivze kommen beide aus Barcelona und leben seit über 15 Jahren in Berlin. Ihre Leidenschaft für Theater und ein Alltag in mehreren Sprachen verbindet sie. So gründeten sie vor knapp zehn Jahren die Theatergruppe Rotonda Teatro. Angefangen haben sie mit Theater für Erwachsene, aber das, was eigentlich gut lief, war das Kindertheater, erzählt María. Und so richteten sie sich immer mehr an ein junges Publikum. Sie hatten alle ihre kindlichen Anteile und ihre Zweisprachigkeit war das, was sie von den anderen Theatergruppen der Stadt unterschied.

Raquel ergänzt, dass es anfangs nicht leicht war. Doch dann fanden sie mehr Verbreitung und wurden immer besser. Ihre Aufführungen wurden zu einem Treffpunkt für zweisprachige Familien. Und so brachten sie das nächste Stück heraus und das nächste... bis heute ist das so geblieben. Sie achten darauf, dass die Stücke nicht nur für zweisprachige Familien verständlich sind, dass sie zum Beispiel auch die Großeltern verstehen, die nur deutsch können. Sie gehen spielerisch mit der Sprache und der Zweisprachigkeit um. So zum Beispiel in ihrem beliebten Stück 'Britta, die kleine Ratte'. "Man kann mit Sprache spielen und am Ende ist Sprache Kultur. Das gleiche Wort kann in verschiedenen Sprachen sehr unterschiedliche Bedeutungen haben", erzählt uns María.


Stofftierratte mit in die Stirn geschobener Brille sitzt zwischen zwei aufgehängten Regenmänteln - Foto: © Rotonda Teatro

Britta, die kleine Ratte
Foto: © Rotonda Teatro


Zweisprachige Familien

Ani ist Argentinierin und arbeitet bei der Organisation Mamis en Movimiento in Berlin. Ein kleiner Verein, der Kulturangebote für zweisprachige Familien schafft. Sie selbst wuchs zweisprachig auf: Spanisch und Englisch. Ihre beiden Kinder sprechen deutsch und spanisch. Mit ihrem Partner redet sie Englisch. Auch sie empfindet die Mehrsprachigkeit als eine große Bereicherung. "Ich genieße die Möglichkeiten, die die Sprachen mit sich bringen. Hinter einer Sprache kannst du neue Welten entdecken, nicht nur die in der du jetzt, in diesem Moment bist", schwärmt sie. Mit ihrem Partner benutzen die beiden weiterhin Englisch als Hauptsprache, besonders dann, wenn es wichtig ist, den anderen sehr genau zu verstehen. Sie selbst ist es gewohnt zu wechseln, innerhalb einer Unterhaltung, sogar innerhalb eines Satzes... Diesen Wechsel, mit dem sie aufgewachsen ist und den auch ihre beiden Kinder machen, kann ihr Partner nicht, weil er einsprachig aufgewachsen ist. Es ist für ihn sehr schwer diese schnellen Wechsel nachzuvollziehen.


Warum Mehrsprachigkeit nicht einfach als Jackpot betrachten?

Immer noch wird viel über die Zwei- oder Mehrsprachigkeit, mit der Kinder aufwachsen, diskutiert, in Kinderarztpraxen, in Kitas und Schulen. Sollte man das überhaupt problematisieren und nicht einfach als Jackpot betrachten? Während das Theater mit den Sprachen spielt, bei Anis Familie ein munteres Sprachgremisch am Abendbrottisch entsteht, plädiert Nagore Soroa dafür, bei einer Sprache zu bleiben: "Ich bin da vielleicht konservativ, weil ich glaube, dass es tatsächlich wichtig ist, die Eindeutigkeit beizubehalten und den Kindern eine klare Nachricht zu senden. Zum Beispiel: Ich möchte mit dir in genau dieser Sprache sprechen."

Egal ob Sprachmischmasch, klare Aufteilung, gezieltes Lernen oder spielerischer Umgang. Wichtig ist, dass wir Lust haben miteinander zu kommunizieren. Ursula Fischer ist Logopädin und leitet eine Praxis in Berlin, die vor allem mit Kindern arbeitet. Seit vielen Jahren begleitet sie mehrsprachige Kinder. Sie fasst für uns ihre wichtigsten Erfahrungen zusammen: "Für mich ist das Vertrauen der Eltern zu ihren Kindern am wichtigsten. Und, dass sie in die Kommunikation ihrer Kinder vertrauen, wie sie die Welt sehen und was sie für Träume haben, darüber unterhalten sich Kinder gerne und das liegt eben gar nicht an der Sprache, in der man spricht." Die Logopädin plädiert für das Vertrauen von Eltern darein, dass Kinder unglaublich flexibel sind, sich auf andere Welten einzulassen - und, dass Eltern von ihren Kindern sehr viel mitnehmen können in Bezug auf die Flexibilität des Neuen und des Andersartigen.


Alltagsentscheidungen

Dann muss das ganze ja auch in den Alltag passen. Ani berichtet, dass ihr großer Sohn gerade mit der Schule begonnen hat und die Diskussion war, ob er auf eine zweisprachige Schule geht oder die Einzugsschule nimmt. Natürlich will die Familie, dass er beide Sprachen fließend lernt und das geht eben nur auf einer zweisprachigen Schule. Für den Familienalltag war allerdings der Preis zu hoch, ihn jeden morgen durch die halbe Stadt zu fahren. Nun geht er auf eine Schule im Kiez.


Anmerkungen:

Zu diesem Text gibt es auch einen Audiobeitrag!
https://www.npla.de/thema/kultur-medien/hola-my-friend-ca-va-und-du-berlin-spricht-viele-sprachen/

Mehr Informationen findet ihr bei Mamis en Movimiento & Rotonda Teatro
https://www.mamisenmovimiento.de/
http://rotondateatro.org/language/de/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/thema/kultur-medien/am-ende-ist-sprache-kultur-und-berlin-spricht-viele-sprachen/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2021

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