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SPRACHE/576: Sprachenvielfalt - Ungenützte Potentiale (Südwind)


Südwind Nr. 10 - Oktober 2008
Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung

Ungenützte Potenziale

Von Hans-Jürgen Krumm


In der EU wird der Reichtum der sprachlichen Vielfalt betont und Mehrsprachigkeit gefordert und gefördert. Zu wenig Gewicht wird allerdings den Sprachen der MigrantInnen beigemessen, nicht nur zum Schaden der Betroffenen, sondern auch der Aufnahmeländer.


So unterschiedlich wie Herkunft und Motive der MigrantInnen zeigte sich vor 30 bis 40 Jahren die Politik der einzelnen Mitgliedsländer der EU gegenüber ihren Einwanderern: England, Frankreich und die Niederlande zum Beispiel machten nicht nur Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien den Zugang zur sozialen und rechtlichen Gleichstellung relativ leicht. Länder wie Deutschland und Österreich dagegen orientierten sich an der Vorstellung vom "Gastarbeiter", der, hat er erst einmal genug verdient, wieder in sein Herkunftsland zurückkehrt. Solange die Einwanderer als Arbeitskräfte gebraucht wurden, spielten Sprachprobleme kaum eine Rolle, die Initiative wurde ihnen selbst überlassen.

Erst mit der ersten Nachkriegsrezession um 1975 wurden die Einwanderer zum "Problem", auf das die europäischen Länder unterschiedlich reagierten: Während etwa in den Niederlanden und in Schweden umfangreiche Sprach- und Integrationsprogramme entwickelt wurden, negierten andere Länder wie Österreich das Problem und hielten trotz steigender Einwandererzahlen an der Vorstellung fest, "kein Einwanderungsland" zu sein.


Es war zunächst der Europarat, der auf Grund seiner menschenrechtlichen Tradition erste übergreifende Prinzipien für die Behandlung von ArbeitsmigrantInnen formulierte und forderte, sie finanziell und sozial den einheimischen Arbeitskräften gleichzustellen. Eine eigene Politik der EU entwickelte sich erst, als sich herausstellte, dass das Gastarbeiterprinzip nicht funktionierte und die MigrantInnen für das Sozial- und Bildungswesen eine dauerhafte Aufgabe darstellten. Insbesondere ehemaligen Entsendeländern von ArbeitsmigrantInnen wie Italien, Spanien und Portugal ist es zu verdanken, dass sich um 1990 in der EU bei aller Unterschiedlichkeit der Maßnahmen im Einzelnen doch ein genereller Konsens für eine europäische Integrationspolitik herausbildete:

• Integration in das Aufnahmeland erfordert ein gezieltes Angebot an die Zuwanderer und ihre Familien, die Landessprache zu erlernen.
• Integration in das Aufnahmeland schließt eine Angleichung der rechtlichen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen der MigrantInnen an die Standards des Aufnahmelandes ein.
• Integration bedeutet auch, die Herkunftssprachen und -kulturen der Zuwanderer zu respektieren und ihnen dazu Bildungsangebote zu machen.
• Integration gibt der Aufnahmegesellschaft die Chance, die Anwesenheit der MigrantInnen und ihrer Familien als Gelegenheit der kulturellen Öffnung und Erweiterung zu nutzen.

Diesem Konsens liegt die seinerzeit unstrittige Erkenntnis zu Grunde, dass Integration ein zweiseitiger Prozess ist, der Anstrengungen und Angebote auf beiden Seiten verlangt, nicht nur eine einseitige Anpassung der MigrantInnen an das Aufnahmeland. Umgesetzt wurde er freilich in höchst unterschiedlicher Weise. Während die Niederlande, Schweden und Deutschland auch für die erwachsenen MigrantInnen Integrationsmaßnahmen entwickelten, beschränkte sich Österreich weitgehend auf die Kinder: Ab 1990 gab es Lehrpläne für Deutsch als Zweitsprache und den muttersprachlichen Unterricht.

Der skizzierte Konsens besteht heute nicht mehr. Die sozialen Probleme (einschließlich Arbeitsmarkt und Bildungswesen), die nicht länger verdrängt werden können, die Terrorismus-Debatte und das Aufkommen rechtsgerichteter, nationalistisch argumentierender Parteien, die oftmals offen fremdenfeindlich agieren und dabei teilweise erfolgreich sind, haben in den meisten europäischen Ländern Veränderungen der Migrationspolitik gebracht: In Österreich führte die Fremdengesetz-Novelle von 2002 erstmals den sogenannten Integrationsvertrag ein, das Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz sowie das Staatsbürgerschaftsgesetz von 2006 verschärften die Anforderungen für MigrantInnen im Hinblick auf Aufenthaltsrecht und den Zugang zur Staatsbürgerschaft.

Besonderes Augenmerk wird dabei - in Österreich wie in den meisten europäischen Ländern - der Sprache des Aufnahmelandes gewidmet, während die Förderung der Herkunfts- und Familiensprachen ebenso wie Fragen der sozialen und rechtlichen Gleichstellung öffentlich kaum noch thematisiert werden. Gefragt ist mit wenigen Ausnahmen die sprachliche und kulturelle Assimilation - hier zeichnet sich ein neuer EU-Konsens ab, der sich nicht zuletzt dadurch erklärt, dass die Zuständigkeit für Migrations- und Integrationsfragen inzwischen in nahezu allen EU-Ländern bei den Innenministerien liegt und nicht mehr bei den Erziehungs- und Unterrichtsministerien. Die "innere Sicherheit" dominiert, womit sich die oftmals als "Integrationsvertrag" bezeichneten Regelungen eher als Abwehr- und Exklusionsregelungen erweisen. Nur wenige Stimmen, insbesondere etwa im Rahmen des Europarats, weisen noch darauf hin, dass etwa bei der Familienzusammenführung Menschenrechte verletzt werden, wenn diese vom Bestehen einer Sprachprüfung oder der Höhe des Gehaltes abhängig gemacht wird.


Mit der amerikanischen Linguistin Nancy Hornberger kann man es das Mehrsprachigkeitsparadox nennen, dass unsere Gesellschaft Mehrsprachigkeit einerseits als wichtiges ökonomisches Kapital betrachtet, die Mehrsprachigkeit in vielen Deklarationen schützt und hoch bewertet ("Die Union achtet die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen", heißt es in Art. 22 der EU-Grundrechtecharta von Nizza), andererseits aber die Sprachen, die MigrantInnen mitbringen, weder anerkannt noch gefördert werden. PopulistInnen propagieren sogar das Verbot dieser Familiensprachen auf dem Schulhof oder in der Öffentlichkeit. Dass ausgerechnet Österreich, ein Land mit einer vielsprachigen Vergangenheit, MigrantInnen ausschließlich nach ihren Deutschkenntnissen beurteilt und zweisprachige Erziehung weitgehend auf das Sprachenpaar Deutsch-Englisch reduziert, ist, wie inzwischen auch EU-Studien zeigen, wirtschaftlich unvernünftig und aus sprachwissenschaftlicher Sicht auch für den Erwerb der deutschen Sprache von Nachteil.

Sprachen werden als unterschiedlich wertvoll und lernenswert betrachtet: Soziale und ökonomische Wertungen spielen dabei eine besondere Rolle. Die englische Sprache hat mit dem Siegeszug der amerikanischen Wirtschaft ihren Wert erhöht, afrikanische und osteuropäische Sprachen werden dagegen eher mit wirtschaftlicher Rückständigkeit assoziiert. Sprachen, die von vielen Menschen in verschiedenen Ländern gesprochen werden, das Spanische oder Chinesische zum Beispiel, gelten als "wertvoller" als sogenannte kleine Sprachen wie das Tschechische. Der "Sprachenmarkt" reagiert aber nicht nur auf wirtschaftliche Stärke, auch symbolische Handlungen sind wichtig: Welche Sprachen werden im Fernsehen, in internationalen Organisationen, von populären SchauspielerInnen gesprochen? Hindi, obwohl schon seit 1965 Amtssprache in Indien, ist auch in anderen indischen Sprachregionen erst mit den Bollywoodfilmen als Verständigungssprache populär geworden. Das heißt, symbolische Handlungen sind wichtig, sollen die Herkunftssprachen der MigrantInnen aufgewertet werden, so dass vielleicht auch ÖsterreicherInnen sie wahrnehmen und vielleicht sogar lernen wollen.


Dazu aber müssen diese Sprachen öffentlich sichtbar und hörbar werden. Das beginnt bereits im Kindergarten, in dem Kinder mit der Sprachenvielfalt ihrer Lebenswelt vertraut gemacht werden, indem sie auch in anderen Sprachen singen und spielen und damit die Angst vor fremden Klängen verlieren.

Testet man hingegen Kinder im Kindergarten und Erwachsene beim Stellen des Antrags auf die Staatsbürgerschaft nur im Hinblick auf ihre Deutschkenntnisse, so signalisiert das den Deutschsprachigen etwas Falsches, nämlich die Vorstellung, dass Einsprachigkeit (mit ein wenig Englisch) ausreiche. Die frühe Vertrautheit mit Sprachenvielfalt dagegen bereitet auch die deutschsprachigen Kinder auf Sprachenvielfalt und kulturelle Offenheit vor, macht sie neugierig auf andere (Sprach-)Welten.

Das sollte sich im (muttersprachlichen) Deutschunterricht fortsetzen. Die deutschsprachigen Kinder erfahren so, wie viele Sprachen - und mit ihnen viele uns heute wichtige und vertraute Errungenschaften - in die deutsche Sprache eingewandert sind: Die Jause zum Beispiel aus dem Slowenischen und die Karawane aus dem Persischen.

Der Umgang mit anderen Sprachen schärft das Sprachbewusstsein für die eigene Sprache und bildet eine wichtige Grundlage für erfolgreiches weiteres Sprachenlernen. SprachwissenschaftlerInnen empfehlen daher, dass deutschsprachige Kinder zunächst im Kindergarten im spielerischen Umgang Kontakt mit Sprachen aus der eigenen Lebenswelt bekommen und auf dieser Grundlage dann Englisch und andere Schulsprachen lernen.


"Mehrsprachigkeit macht schlau" - diese Erkenntnis des kognitiven Zugewinns durch Mehrsprachigkeit gilt vom Kindergarten bis zum Erwachsenenalter, aber nur wenige EU-Länder wie z.B. Großbritannien setzen diese Erkenntnis adäquat um. Wir enthalten den deutschsprachigen Kindern viele wichtige Erfahrungen vor, wenn wir ihnen keine Chance geben, früh Lernerfahrungen in Sachen Sprachenvielfalt zu machen: Abbau von Ethnozentrismus, Entwicklung von Sprachbewusstheit, kognitive Fähigkeiten wie das Vergleichen und Unterscheiden sind wichtige Ergebnisse mehrsprachigen Aufwachsens. Und auch für Erwachsene gilt, dass Englischkenntnisse in unserer Gesellschaft von allen erwartet werden, dass ein individuelles Profil aber erst mit der Kenntnis weiterer Sprachen entsteht.

In Österreich ist diese Sprachenvielfalt vorhanden, gibt es verdienstvolle Projekte der mehrsprachigen Arbeit in Kindergärten (beispielhaft z.B. in den niederösterreichischen Landeskindergärten) und auch eine Tradition des muttersprachlichen Unterrichts in der Schule. Leider ist dieser eher marginalisiert als unverbindliche Übung, nicht als Lernchance für alle, auch für österreichische Kinder. Die Drohung, bei mangelnden Deutschkenntnissen etwa bei Schulbeginn die Eltern zu bestrafen (vgl. die Novellierung des Schulunterrichtsgesetzes Paragraph 3 im Dezember 2007) oder die Kinder auszusondern, blockiert nicht nur die Entwicklung einer zwei- oder mehrsprachigen Identität bei den MigrantInnen, sie ist auch für die Deutschsprachigen das falsche Signal.


Eine Politik, die nahezu ausschließlich die deutsche Sprache als Schlüssel zur Integration sieht, vernachlässigt alles, was wir über erfolgreiche Integrationsprozesse wissen. Natürlich müssen (und wollen übrigens auch) MigrantInnen die Landessprache lernen - diese lernen sie aber am Besten, wenn sie sie "gebrauchen" können, das heißt durch Teilhabe an unserer Gesellschaft, am Arbeitsmarkt usw. Und sie lernen sie dann, wenn ihre Herkunft, ihre Familie (und auch die Familiensprache) nicht diskriminiert und unterdrückt, sondern anerkannt werden, weil ansonsten nicht die Integration, sondern die Ghettobildung gefördert wird. Eine entwickelte Mehrsprachigkeitsdidaktik, Programme zweisprachiger Alphabetisierung und Erziehung können dabei helfen, ebenso wichtig aber ist eine Akzeptanz dieser Sprachen durch uns Deutschsprachige. Das intensivste Sprachprogramm wird ohne Änderung der sozialen Rahmenbedingungen nicht funktionieren: Nicht die einfache Lösung (eine österreichweite Deutsch-Einheitsprüfung für alle) wird zielführend sein, es braucht vielmehr differenzierte Programme (Deutsch am Arbeitsplatz, Deutsch kombiniert mit Angeboten zur sozialen, gesundheitlichen oder ähnlichen Information, zweisprachige Alphabetisierung). Hier wäre das Unterrichtsministerium gefordert, nicht das Innenministerium.

Die gegenwärtige Politik erwartet von MigrantInnen als "Eintrittskarte" Deutschkenntnisse und bedroht alle, die hier versagen, mit Sanktionen. Aber - wie viele Ausweisungen in jüngerer Zeit zeigen - nicht einmal exzellente Deutschkenntnisse (und ein vorhandener Arbeitsplatz) schützen vor Abschiebung. Da kann es nicht verwundern, wenn viele MigrantInnen die Deutschprüfungen eher als Schikane denn als Hilfsangebot werten. Erfolgreich kann eine Politik nur sein, wenn die Betroffenen diese als glaubwürdig auch in ihrem Interesse sehen.


Hans-Jürgen Krumm ist Leiter des Lehrstuhls Deutsch als Fremdsprache (DaF) am Institut für Germanistik der Universität Wien.


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Quelle:
Südwind - Magazin für internationale Politik, Kultur und Entwicklung
29. Jahrgang, Nr. 10/2008 - Oktober 2008, Seite 33-35
Herausgeber: Südwind-Entwicklungspolitik (ehem. ÖIE)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2008