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SPRACHE/707: Von Kiezdeutsch bis Platt (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Das Potsdamer Universitätsmagazin 3/2010

Von Kiezdeutsch bis Platt
Im Potsdamer Zentrum "Sprache, Variation und Migration"
arbeiten Wissenschaftler zu Facetten der Entwicklung des Deutschen

Von Matthias Zimmermann


Nahezu jeder fünfte Einwohner der Bundesrepublik verfügt über einen Migrationshintergrund. Viele von ihnen sprechen auch in der neuen Heimat weiter ihre Muttersprache oder wachsen zumindest zweisprachig auf. Eine Folge ist, dass sich das Deutsche - ohnehin durchzogen von zahlreichen Varietäten - durch den Kontakt mit den Muttersprachen der Migranten verändert. Mit Gewinn, wie Potsdamer Sprachwissenschaftler in ihren derzeitigen Forschungsprojekten zeigen wollen.


Jens Roeser arbeitet im Zentrum "SVM", Heike Wiese auch. Was sie verbindet, ist ihre Leidenschaft für die deutsche Sprache und ihre verschiedenen Erscheinungsweisen, egal, ob Platt- oder Kiezdeutsch. Während der 24-jährige Roeser demnächst seinen Bachelor in Germanistik und Allgemeiner Theoretischer Linguistik abschließt, ist Heike Wiese Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart. Das Zentrum für "Sprache, Variation und Migration" bringt über 20 Potsdamer Wissenschaftler und bislang neun exklusiv betreute Studierende in einer ganzen Reihe von Projekten zur Entwicklung des Deutschen zusammen. Es vermittelt Sachargumente an die Öffentlichkeit - "insbesondere in Bereichen wie Jugendsprache, Mehrsprachigkeit und dialektale Variation, in denen die Diskussion zum Teil sehr emotional aufgeheizt ist", so Wiese, Sprecherin des Zentrums.

Sie selbst hat während der Arbeit an ihrem Projekt zum "Kiezdeutsch" mehrfach erfahren, wie groß die "Moral Panic" der Öffentlichkeit über den angeblichen Verfall des Deutschen angesichts von Jugendsprachen wie sie in Kreuzberg, Wedding oder auch Potsdam-Waldstadt anzutreffen sind, sein kann. Dabei sei "Kiezdeutsch" keineswegs "gebrochenes Deutsch, sondern eine Bereicherung des deutschen Varietätenspektrums" und ausgesprochen kreativ. Immerhin könne man hier beobachten, wie "quasi im Zeitraffer ein neuer Dialekt des Deutschen entsteht". Zugleich dokumentieren die Potsdamer Sprachwissenschaftler aber auch das Verschwinden regionaler Lekte - etwa des Platt -, wie es die Untersuchung zur "Sprachvariation in Norddeutschland" von Joachim Gessinger zeigt.

Erkenntnisse wie diese will man mithilfe des Zentrums nicht nur innerhalb wissenschaftlicher Kreise diskutieren, sondern mit denen, die sie später einmal brauchen: den Studierenden, vor allem den angehenden Lehrern und Sprachwissenschaftlern. Frühzeitig sollen sie sensibilisiert und gerüstet werden für Veränderungsprozesse, die zwar hervorragend an sprachlichen Phänomenen ablesbar sind, aber weit darüber hinausreichen: in die Kognitionswissenschaften auf der einen und bis hinein in die Bildungspolitik auf der anderen Seite.

Nicht zuletzt deshalb sind am Zentrum "SVM" zugleich Kognitionswissenschaftler und Vertreter der Potsdamer Empirischen Bildungswissenschaft beteiligt. Und neue Forschungsprojekte wie das von Prof. Dr. Christoph Schroeder zur "Entwicklung der mündlichen und schriftlichen Kompetenzen in der Erst-, Zweit- und Fremdsprache bei mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen" tragen dem "Einfluss migrationssoziologischer und bildungspolitischer Parameter", wie Schroeder sagt, ausdrücklich Rechnung.

Doch die ehrgeizigen Ziele des Ende 2009 gegründeten Potsdamer Zentrums reichen noch weiter. Denn die Wissenschaftler und Studierenden wollen sich einmischen in "sprachen- und bildungspolitische Diskussionen", so Wiese, wollen ihre Kompetenzen einbringen, wenn es darum geht, - sprachliche und damit auch gesellschaftliche - Integration als Voneinander-Lernen zu verstehen. Das bedeutet zum einen, in die Schulen zu gehen und mit Schülerprojekten "Jugendliche anzuregen, über Sprache und Grammatik nachzudenken, und sie darin zu unterstützen, ein positives sprachliches Selbstbild aufzubauen", führt Wiese aus. Ab 2011 sollen dann Unterrichtsmaterialien zum Kiezdeutsch für Lehrer erarbeitet werden. Zum anderen ist man im Zentrum darum bemüht, durch Interviews, öffentliche Vorträge oder Ausstellungen und Präsentationen Aufklärungsarbeit zu leisten. Erst kürzlich bestand dazu sowohl beim Schüler-Campus in Cottbus als auch bei der Langen Nacht der Wissenschaften Gelegenheit. Genau darin sieht Jens Roeser, der nach dem Bachelor einen Master anschließen möchte, eine Möglichkeit der "praktischen Umsetzung der Forschungsarbeiten".


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Quelle:
Portal - Das Potsdamer Universitätsmagazin 3/2010, Seite 33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. August 2010