Eberhard Karls Universität Tübingen - 14.11.2016
Wörter und Knochen erzählen die gleiche Geschichte
Tübinger Wissenschaftler finden Übereinstimmungen bei der Entwicklung von Sprache und Schädelknochen
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Tübingen haben Belege dafür gefunden, dass die Ausprägung bestimmter menschlicher Schädelknochen Rückschlüsse auf die Zugehörigkeit zu einer Sprachgemeinschaft zulässt. Die Ausbildung unterschiedlicher Sprachfamilien und Sprachen und die unterschiedliche Ausprägung der Gesichtsknochen habe sich in verschiedenen menschlichen Populationen offenbar zeitlich und räumlich parallel vollzogen, erklärten der Sprachwissenschaftler Professor Gerhard Jäger und die beiden Paläoanthropologen Professorin Katerina Harvati und Dr. Hugo Reyes-Centeno. Für ihre Studie untersuchten die Forscher 265 Schädelfunde aus Afrika, Asien und Ozeanien sowie den Wortschatz von über 800 Sprachen und Dialekten aus den genannten Regionen. Ihre Ergebnisse veröffentlichten sie in der aktuellen Ausgabe der Fachzeitschrift Scientific Reports.
Sollten sich die Ergebnisse bei weiteren Untersuchungen bestätigen, hätte
die Forschung ein Merkmal, mit dem sich die Entwicklung unterschiedlicher
Sprachfamilien bis in die Frühzeit des Menschen zurückverfolgen ließe. Die
Sprachwissenschaftler entwickelten eine Methode, um den Grad der
Ähnlichkeit zwischen zwei Sprachen komplett automatisiert zu messen, indem
sie den Grundwortschatz heute gesprochener Sprachen verglichen. Die
Paläoanthropologen fanden Wege, die Ähnlichkeit von Eigenschaften der Form
und Gestalt von wenige hundert Jahre alten menschlichen Schädeln bei
Messungen zu quantifizieren. "Wir können davon ausgehen, dass sich Sprache
in dieser vergleichsweise kurzen Zeit nicht wesentlich verändert", betonte
Jäger. Die Forscher gingen davon aus, dass die durchschnittliche
Ähnlichkeit zwischen Populationen mit der geografischen Entfernung
abnehmen müsste, sowohl im Hinblick auf sprachliche wie auch biologische
Eigenschaften. Weiterhin nahmen sie an, dass Populationen mit sprachlicher
Ähnlichkeit tendenziell auch biologisch ähnlich sind und umgekehrt. Wenn
diese Korrelationen auch zwischen Populationen bestehen, die sich vor mehr
als 10.000 Jahren aufgeteilt und in der Folge unterschiedlich
weiterentwickelt haben, würde dies den Beweis dafür liefern, dass Sprache
ein älteres historisches Zeugnis bewahrt als bisher gedacht.
In ihrer Studie kommen die Autoren zu dem Schluss, dass tatsächlich beide Erwartungen zutreffen, und dies auch über die Grenzen von Sprachfamilien hinaus. Sie stellten außerdem fest, dass die sprachliche Verwandtschaft vor allem mit den Eigenschaften der Gesichtsknochen des Schädels zusammenhängt, weniger dagegen mit dem Neurocranium, also den Schädelknochen, die das Gehirn umhüllen. Dies spiegelt möglicherweise eine unterschiedliche Evolutionsrate der Eigenschaften wider, bei denen Sprache und Gesichtszüge sich schneller ändern als Eigenschaften des Neurocraniums.
Bisher gingen Wissenschaftler in der historischen Sprachwissenschaft davon aus, dass sich Sprachen nur als verwandt erkennen lassen, wenn ihre letzte gemeinsame Form vor höchstens 10.000 Jahren gesprochen wurde. Es hat bereits Versuche einzelner Wissenschaftler gegeben, diese Grenze weiter in die Vergangenheit zurück zu schieben. Doch sind diese Unterfangen bei Sprachexperten allgemein auf Skepsis gestoßen. Die von den Tübinger Forschern entwickelte Methode könnte das Tor nun deutlich weiter in die Vergangenheit aufstoßen, da die Sprachwissenschaftler damit auch paläoanthropologische Funde für ihre Ziele nutzbar machen könnten. Jäger, Harvati und Reyes-Centeno gehören zum Kern der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Kolleg-Forschergruppe "Words, Bones, Genes, Tools. Tracking Linguistic, Cultural and Biological Trajectories of the Human Past", die im vergangenen Jahr ihre Arbeit an der Universität Tübingen aufgenommen hat. "Wir hoffen, dass wir die Prozesse, durch die Sprache evolviert, in Folgearbeiten weiter aufklären können", erklärten die Wissenschaftler abschließend.
Publikation:
Hugo Reyes-Centeno, Katerina Harvati & Gerhard Jäger:
Tracking modern human population histo-ry from linguistic and cranial
phenotype.
Scientific Reports,
DOI 10.1038/srep36645,
http://www.nature.com/articles/srep36645
Weitere Informationen unter:
http://www.wordsandbones.uni-tuebingen.de/
- Kolleg-Forschergruppe der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Words, Bones,
Genes, Tools. Tracking Linguistic, Cultural and Biological Trajectories of
the Human Past"
Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81
*
Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Dr. Karl Guido Rijkhoek, 14.11.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de
veröffentlicht im Schattenblick zum 16. November 2016
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