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UNIVERSITÄT/101: Mobile Lehre, Smart durch Smartphone - Hohenheim erprobt Lehre via Handy (idw)


Universität Hohenheim - 05.05.2014

Mobile Lehre: Smart durch Smartphone - Universität erprobt Lehre via Handy

Didaktisches Neuland: Modellprojekte der Universität Hohenheim verknüpfen Lernstoff und reale Welt für nachhaltigere Wissensvermittlung

von C. Schmid und Klebs



Sie schwärmen durch die Weinberge, Supermärkte, Fußgängerzonen und zoologischen Gärten und machen die Welt zu einer Ansammlung digital markierter Lernorte: Als Teil ihrer Ausbildung fotografieren Studierende der Universität Hohenheim Praxisbeispiele für den Vorlesungsstoff, zapfen Hintergrundinformationen zu markierten Pflanzen und Tieren ab, dokumentieren das Wachstum von Weintrauben, holen via live-chat Expertenmeinungen ein oder steigen über Foren in die Diskussion mit Kommilitonen ein. Möglich macht dies eine spezielle App. Mittlerweile experimentieren mehrere Dozenten in allen drei Fakultäten mit Konzepten von Mobiler Lehre bis hin zum sogenannten Blended-Learning.

Die Welt ersetzt den Hörsaal. Denn mit der App "Mobile Lehre" der Universität Hohenheim lernen Studierende nicht nur in Vorlesungen, sondern vertiefen ihr Wissen auch im echten Leben. Derzeit wird die App an allen drei Fakultäten der Universität in mehreren Pilotprojekten sehr unterschiedlich eingesetzt. Nicht ausgeschlossen, dass sie einmal noch breiter angewendet werden. "Die Möglichkeiten sind noch nicht ausgereizt", meint Prof. Dr. Michael Kruse, Prorektor für Lehre.

Bei der Mobilen Lehre lernen die Studierenden Botanik am Baum, Wirtschaftswissenschaft im Wirtschaftsleben, Agrarwissenschaft auf dem Acker. Das Konzept gibt die Möglichkeit, gelernte Informationen mit Erlebnissen zu verknüpfen und dieses Wissen zu verinnerlichen - oder selbst zum Lehrer für Mitstudierende zu werden. Der große Vorteil:Studierende können sich die Zeit dafür selbst einteilen. Heraus kommen ganz persönliche Mini-Exkursionen oder hochindividuelle Kurzpraktika.

Dabei solle die Mobile Lehre aber nicht das Konzept der Vorlesung ersetzen. "Das Gelernte soll Studierenden unter die Haut gehen und ihren Blick auf die Welt verändern." Die App sei kein Selbstzweck sondern "ein didaktisches Mittel, das von den Professoren genutzt werden kann, um die - vor allem - räumlich beschränkten Vorlesungen zu erweitern."


Bundesweit einmalige App der Universität Hohenheim

Um die Mobile Lehre anwenden zu können, musste die Universität Hohenheim selbst kreativ werden und eine eigene App entwickeln. Zwar werden Smartphones auch schon an anderen Universitäten verwendet um beispielsweise den Campusplan abrufen zu können. Die Lernorte jedoch seien eine Premiere", erklärt Cornelius Filipski, der das Projekt als Lehrcoach der Universität Hohenheim ursprünglich mit aus der Taufe hob.

Natürlich hat die App auch die typischen Standardfunktionen: man kann die Mensa-Karte abrufen, online auf dem Campusplan nach Hörsälen suchen und hat die aktuellen News rund um den Campus aufgelistet. Das Konzept hat sie jedoch erweitert: Mit der Hohenheim App können Studierende sogenannte Lernorte aufsuchen, dort Aufgaben lösen, neue Lernorte in Eigeninitiative hinzufügen, Ergebnisse diskutieren oder im live-chat Fragen stellen. Eine weitere Einsatzmöglichkeit: die Abstimmungs-Funktion, Blitzumfragen oder einen Kurzquiz direkt im Hörsaal möglich macht.


Beispiel Agrarwissenschaften: Smartphone vermittelt Wissen im Weinberg

Im Weinberg der Universität nestelt eine Studentin zwischen den Blättern eines Rebstocks. In einer Hand ruht der Fruchttrieb mit den ersten Trauben, in der anderen das Smartphone. Auf dem Display: eine Checkliste, um die Entwicklung der Trauben wissenschaftlich zu bewerten.

Die angehende Agrarwissenschaftlerin besucht die Vorlesung Biologie der Rebe. Ihre Aufgabe: Die Rebenentwicklung von zwei Sorten zu analysieren. Von April bis Juli besucht sie bis zu zweimal pro Woche ihre Reben, bewertet die Rebenentwicklung von Blüte bis zur Traube, schießt ein Foto und schickt Bild und Ergebnisse via Smartphone an ILIAS, eine spezielle Lernplattform der Universitäten.

Das Handy-Display zeigt ihr auch die Ergebnisse der Kommilitonen und erlaubt Vergleiche: reift die eigene Sorte besonders schnell oder langsam? Haben sie von Sonnenwochen besonders profitiert oder reagiert sie sehr empfindlich auf Regen? Bei Unklarheiten schickt sie eine Frage an den Dozenten - oder stellt sie in eine Art Forum des Kurses ein, so dass alle Studierenden darüber diskutieren.

Seit Sommersemester 2013 ergänzt Dr. Nikolaus Merkt die Wirklichkeit des Weines durch Virtualität. "In der Vergangenheit fiel mir auf, dass das Thema der Reben-Entwicklung und ihrer Stadien für viele Studierenden meistens zu abstrakt war", erinnert sich der Dozent. "Sie konnten es nicht nachvollziehen, weil sie es nie erlebt, sondern nur davon gehört hatten. In der Prüfung haben sie die Fragen zu den Entwicklungsstadien dann trotz gewissenhafter Vorbereitung meist falsch beantwortet."

Im digitalen Raum fügten sich die Einzelergebnisse einzelner Studierender dann zu einem Gesamtbild zusammen: "Viele Studierende haben erst dadurch ein Gespür dafür bekommen, wie umweltabhängig viele Vorgänge in der Natur sind", so die Beobachtung von Dr. Merkt. Das habe sich auch beim Prüfungsergebnis bemerkbar gemacht.

Trotzdem könne die App die Vorlesung nicht komplett ersetzen. "Ich sehe die Mobile Lehre als Möglichkeit zur Vertiefung und Festigung des Stoffes, aber nicht als Ersatz für den Professor." Auch im Sommersemester 2014 will Dr. Merkt das Konzept wieder anbieten.


Beispiel Naturwissenschaften: Per Navi zum Rendezvous der Sommergoldhähnchen

Ein paar hundert Meter vom Weinberg entfernt tönt lautes Vogelgezwitscher aus dem Handy eines Biologie-Studenten. Von fern antwortet ein Sommergoldhähnchen. Die Rufe kommen näher und schließlich lässt sich das Vogelmännchen auf der Fichte über dem Naturforscher nieder.

Der Smartphone-Vogel-Dialog ist Teil des Kurses Systematische Zoologie von Prof. Dr. Johannes Steidle. Dem Biologen ist dieser Baum schon seit langem bekannt: Es ist der Stammplatz eines Sommergoldhähnchen-Paares, das dort auch regelmäßig brütet.

Für seinen Kurs hat Prof. Dr. Steidle den Nadelbaum als einen von 10 Lernorten auf dem Campus markiert. Wer den Unterrichtsstoff praktisch vertiefen will, lässt sich über die Navi-Funktion von Ort zu Ort führen. Am Lernort angekommen gibt die App Hintergrundwissen über den jeweiligen Lebensraum und die Tierarten vor Ort preis - darunter auch Tonbeispiele, durch die sich sogar Vogelarten anlocken lassen.

Auch hier können Studierende die Hintergrundinfos durch eigene Beobachtungen ergänzen, Fragen stellen oder die von Kommilitonen diskutieren. Und das bei völlig freier Zeiteinteilung. "Die Mobile Lehre hilft uns, individuelle Schlüsselerlebnisse zu schaffen", beurteilt Prof. Dr. Steidle. "Selbst Sehen, Lesen und Erleben verknüpft den Unterrichtsstoff viel besser im Kopf, als die Vorlesung, bei der man nur von etwas hört, es aber nicht erlebt."

Die Stärke der Mobile Lehre-App sei, dass sie alle Funktionen vom Navi, das zum Lernort führt, über die Wissensvermittlung bis zur virtuellen Diskussion verknüpfe - und das bei völlig freier Zeiteinteilung für die Studierenden. Auch zukünftig will Prof. Dr. Steidle die Lernorte in seinem Vorlesungsalltag integrieren.


Beispiel Wirtschaftswissenschaften: Mobile Analysen von Marketing-Strategien

In der Einführungsveranstaltung Marketing machen die Studierenden selbst die ganze Welt zu ihrem Forschungslabor. So zum Beispiel die Studentin, die ein Aktionsplakat einer Tankstelle fotografiert: Jeder, der hier tankt, erhält einen Rabatt-Coupon für die Restaurants einer Fastfood-Kette. Die wiederum belohnt jede Mahlzeit mit einem Tankgutschein.

Die Aktion der beiden Tank- und Fastfood-Ketten ist ein gutes Beispiel für Kooperationsstrategien im Marketing, wie Marketing-Professor Markus Voeth in seiner Einführungsveranstaltung erklärte. Nun sollen die Studierenden Praxisbeispiele im wirklichen Leben finden und digital mit Foto und Erläuterung in Karten markieren.

Die Ergebnisse analysieren und diskutieren Dozent und Studierende gemeinsam im Hörsaal. "Die Studierenden hatten es selbst in der Hand, welche Marketing-Beispiele sie auswählen und präsentieren wollen. Allein im letzten Semester sind 150 Beiträge eingegangen - das zeigt uns, dass das Konzept der erlebenden Lehre funktioniert", berichtet Prof. Dr. Markus Voeth.

Um den Ehrgeiz anzuspornen, gestaltete der Marketing-Professor die Aufgabe sogar als Wettbewerb: "Über die Voting-Funktion der App haben die Studierenden selbst die 10 besten Beiträge gekürt." Die Gewinner bekamen Punkte für die Klausur gutgeschrieben.


Von Mobiler Lehre zum Blended-Learning

Seit diesem Semester umfassen die Neuerungen in der Grundvorlesung Marketing noch einiges mehr als die Aufgabe, Praxis-Beispiele im realen Leben einzufangen.

"Ein Semester lang haben wir mit der Mobilen Lehre experimentiert. Danach entwickelten wir das Konzept gemeinsam mit Prof. Dr. Uta Herbst und ihrem Lehrstuhl für Marketing der Universität Potsdam weiter. Dabei folgten wir dem Ansatz des sogenannten Blended-Learning - das ist eine Kombination aus klassischer Vorlesung, Diskussion und Eigenstudium mit speziellem didaktischem Material."

Dazu teilte Prof. Dr. Voeth den Stoff in vier große Themenblöcke. "In jedem Themenblock gibt die Vorlesung nur einen Überblick über das Stoffgebiet. Die Aufgabe der Studierenden ist es, den Stoff anschließend mit Anleitung zu vertiefen. Unter anderem bieten wir eine Vielzahl von Video-Clips mit jeweils fünf bis 15 Minuten Länge, die richtig in die Tiefe gehen. Dazu kommt der Wettbewerb um gute und schlechte Praxisbeispiele und das klassische Literaturstudium."

Zurück im Hörsaal runden Diskussionsveranstaltungen das Selbststudium zu jedem Themenblock ab. Seit Beginn der zweiten Semesterhälfte bietet Prof. Dr. Voeth einen zusätzlichen live-chat an, in dem die Studierenden Fragen stellen können.

Auch eine eigene App hat der Lehrstuhl mit der Universität Potsdam für die Veranstaltung entwickelt: "Mobil bieten wir alle Unterlagen, die Lehrclips, den Praxis-Beispiel-Wettbewerb und Zugang zu aktuellen Informationen. Dazu gibt es noch ein Schlagwortverzeichnis mit über 600 Begriffen."

"Meine Motivation war, dass ich diese Grundvorlesung nun schon seit 10 Jahren halte. Und obwohl ich sie ständig verbessere, sind die Prüfungsergebnisse der Studierenden eher schlechter geworden." Prof. Dr. Voeths Fazit: "Die Art und Weise, wie Studierende heute Informationen aufnehmen, hat sich verändert - doch wir wenden immer noch fast das gleiche Konzept wie vor 100 und mehr Jahren an, als ein Professor in der Vorlesung tatsächlich vorgelesen hat."

Seine Studierenden würden durch das neue Konzept durchaus gefordert: "Es reicht eben nicht, die Powerpoint-Folien aus der Vorlesung auswendig zu lernen." Dafür sprächen die verschiedenen Lernmöglichkeiten auch ganz unterschiedliche Lerntypen an. "Natürlich kann man es nicht allen recht machen. Doch in der App haben wir auch eine Feedback-Funktion - und die überwiegende Zahl der Rückmeldungen ist sehr positiv."

Dass das Konzept funktioniert, bestätigt auch das Zeugnis, das die Studierenden der Vorlesung im Rahmen der üblichen Veranstaltungsevaluation selbst gaben. "Die Durchschnittsnote der Teilnehmer liegt bei 1,47 (sehr gut bis gut). Verglichen mit den letzten Jahren wurde sie noch nie so gut bewertet."

Inzwischen zeigten auch die Klausurergebnisse: "So gut hat schon lange kein Jahrgang mehr abgeschnitten".

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution234

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Hohenheim, Florian Klebs, 05.05.2014
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Mai 2014