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AKZENTE/132: Literatur und Künste in der Armutsforschung (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012

Ein noch nicht ausgeschöpftes Kapital
Literatur und Künste in der Armutsforschung

Von Susanna Brogi



Vor genau 100 Jahren, 1912, begann Franz Kafka mit der Niederschrift seines Romans Der Verschollene, den Max Brod 1927 unter dem Titel Amerika postum veröffentlichte. Darin stellt sich die Hauptfigur, der 15-jährige Karl Roßmann, beim Betreten eines heruntergekommenen Nachtquartiers mit den Worten vor: "Ich bin vollständig arm und ohne Aussichten". Noch tags zuvor hatte Karl eine steile Karriere in der New Yorker Geschäftswelt gewunken. Sein anfängliches Erstaunen über die in Amerika gebotenen Aufstiegsmöglichkeiten scheint durch den Onkel - Personifikation des Selfmademan - bestätigt: "Alle Entwicklungen gehen hier so schnell vor sich". Mit der Naivität des europäischen Einwanderers überhört Karl zunächst die darin enthaltene implizite Drohung. Erst als alle sozialen und beruflichen Verbindungen gekappt sind, gelangt er, um einige Illusionen ärmer, zu der Einsicht: "Es kam nicht so sehr auf die Art der Arbeit an, als vielmehr darauf sich überhaupt irgendwo dauernd festzuhalten."

Kafkas Roman spiegelt in einzigartiger Weise das ganze Panorama kapitalistischer Arbeitswelten. Arbeiterstreiks und Wanderarbeit inbegriffen, wird die menschliche Unterordnung im Fordismus ebenso gezeigt wie die Gefahr des Herausfallens aus geordneten Verhältnissen bis hin zur völligen Entwurzelung und Verarmung. Der schwindenden Aussicht auf finanzielles Auskommen hinterherziehend, geht es für Karl schon bald nicht mehr um Fragen der persönlichen Eignung oder Selbstverwirklichung. Als Plakate des "Naturtheaters von Oklahoma" damit werben, für jeden, so er sich rechtzeitig melde, Arbeit bereitzustellen, lässt Kafka (mit unüberhörbarer Selbstironie) seinen noch immer für Utopien empfänglichen Protagonisten feststellen: "Künstler werden wollte niemand, wohl aber wollte jeder für seine Arbeit bezahlt werden."


Wissenschaftliche Würdigung von Prekarität

Auf welche Verhältnisse würde Kafka, der wie kein anderer die widersprüchlichen Erfahrungen der Moderne festgehalten hat, in unserer Gegenwart abzielen? Trotz aller wohlfahrtsstaatlichen Sicherungsmaßnahmen trifft die Selbstbeschreibung "arm und chancenlos" für eine steigende Zahl von Personen und Personengruppen zu, nachdem sich die Zeit- und Planungshorizonte, auch der mittleren Schichten, drastisch eingeengt haben. Eine ganze Reihe von Ausstellungen und Tagungen der letzten Jahre zeigt, dass die einstigen kulturwissenschaftlichen Analysekategorien "class - race - gender" (mittlerweile ergänzt um "age" und "religion") zusätzlich "poverty" integrieren müssen, um sich heutigen Exklusionsphänomenen zu nähern. Die Dringlichkeit zur umfassenden Bewertung über soziologische und politologische Forschungen hinausgehenden Beschäftigung mit Prekarität liegt auf der Hand. Und anders als noch vor rund 15 Jahren ist jüngst in entsprechende wissenschaftliche Vorstöße investiert worden.

Ein maßgebliches Projekt stellt der an der Universität Trier verortete Sonderforschungsbereich "Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Antike bis zur Gegenwart" dar, der im vergangenen Jahr mit der Ausstellung "Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft" eine breite Öffentlichkeit erreichte. (Die Ausstellung wurde in Trier vom 10.4.-31.7.2011 und später in Ulm vom 11.9.-6.11.2011 gezeigt.)

Der Katalog besitzt den Charakter eines Handbuchs und reagiert auf die diskursive wie visuelle Ausgrenzung von Erscheinungsformen der Armut und Prekarität in den westlichen fortgeschrittenen Industriegesellschaften. Eine Einführung enthält Herbert Uerlings Themenaufriss samt konzeptioneller und methodischer Darlegung, ergänzt um eine historische Einordnung von Lutz Raphael, in der die nach wie vor gültigen politischen, ökonomischen und religiösen Sichtweisen auf Armut in den hierarchischen Gesellschaften Europas dargelegt werden.

Im Hauptteil folgt eine lexikonartige Heranführung von A wie Almosen bis Z wie Zuchthaus. Ziel ist eine tagesaktuelle Belange berücksichtigende kulturelle, religiöse und historische Öffnung der Thematik, die sowohl Kontinuitäten als auch Transformationen und Neuerungen veranschaulicht. In 30 Aufsätzen, bestehend aus Überblicksessays und "Fallstudien", finden sich sehr unterschiedliche Untersuchungen zu Armuts-Repräsentationen und Armutsdiskursen, gefolgt von einem, die thematischen Schwerpunkte der Ausstellung wiedergebenden, Katalogteil: Perspektive Dokumentation, Perspektive Ideal, Perspektive Stigma, Perspektive Reform und schließlich Armut in der Antike. Entlang des Konzeptes "Inklusion/Exklusion" fragen die Aufsätze, wie Armut (und Fremdheit) als Grenzsituationen sozialer, politischer oder religiöser Zugehörigkeit seit der Antike konstituiert worden sind. Neben der Untersuchung von Semantiken und Praktiken der In- und Exklusion geht es um die Analyse von Bildern diverser medialer Erscheinungsformen. Hier finden sich eine Bestandsaufnahme der künstlerischen Verfahrensweisen zur Sichtbarmachung des Tabu-Themas der absoluten Armut von Obdachlosen, Bettlern und Straßenkindern in der westlichen Welt ebenso wie Beiträge zu Formen künstlerischer Reflexion "relativer" Armut sowie Analysen gesellschaftlicher und kultureller Stigmatisierungspraktiken.


Die Entdeckung des Elends

Im Jahr 2007 hatte das Wien Museum mit seiner Ausstellung "ganz unten" Armutsphänomene als einen genuinen Teil der Metropolenforschung sichtbar gemacht und in diesem Kontext "Die Entdeckung des Elends" (so der Untertitel) analysiert. Die Ausstellungsmacher richteten, indem sie frühe Fotografien der Armut aus dem Wiener Untergrund zeigten, ihren Blick buchstäblich "nach unten" in die Tiefen menschlichen Lebens auf Höhe der Kanalisation. Wie auch die Trierer Armuts-Ausstellung belegt, begegnen im literarisch-künstlerischen Darstellen von Armut und Prekarität immer wieder dokumentarische Verfahren.

Zu den Strategien der Authentizitätsvermittlung gehört das Auffinden überzeugender "Settings" der empirischen Wirklichkeit, wie sie die Metropole New York auf einmalige Weise präsentiert. Nirgendwo sonst ist die Vertikale von Reichtum und Armut städtebaulich so extrem verkörpert wie in New York, und für wohl keine zweite Großstadt gibt es so viele darauf abhebende literarisch-künstlerische Repräsentationen (darunter Colum McCanns Roman This Side of Brightness von 1998, der die prekären Lebensverhältnisse und auch das dadurch bewirkte Sterben der Menschen in den Tunneln des New Yorker Subway-Systems beleuchtet).

Der Einsicht, dass sich der konkrete lebensweltliche Ort bestimmend auf Prekaritätserfahrungen auswirkt und dass entsprechende künstlerische wie mediale Auseinandersetzungen einen "Mehrwert" an Erkenntnis bereithalten, trägt das von 2007 bis 2010 geförderte Großprojekt "ÜberLeben im Umbruch" Rechnung. Im Unterschied zu dem um Systematisierung und Vielfalt ringenden Trierer Projekt steht hier mit der Stadt Wittenberge ein einziger konkreter Ort im Mittelpunkt.

Es ist das Anliegen dieses von mehreren namhaften Institutionen getragenen Unterfangens, die prekären Grenzerfahrungen einer Stadt in ihrer Gesamtheit aufscheinen zu lassen. Wittenberge, noch in den 80er Jahren ein führender Industriestandort, unterliegt seit 1989 einem massiven Schrumpfungsprozess, weil nach der Wende das zuvor weltweit tonangebende Nähmaschinenwerk geschlossen wurde, der wichtigste Garant für einen mehrere Generationen umgreifenden Stolz der Arbeiterschaft und das Aushängeschild eines Systems, dessen Utopie jedem einen Platz in der Gesellschaft versprochen hatte. Seither ist die Bevölkerungszahl (bei weiter fallender Tendenz) von 33.000 auf 19.000 gesunken.


Das Einmalige und das Repräsentative

So gesehen ist es kein Zufall, dass die Herausgeber Heinz Bude, Thomas Medicus und Andreas Willisch bereits in ihrem Vorwort auf die legendäre Untersuchung "Die Arbeitslosen von Marienthal" abheben, jene soziologische Forschungsleistung, die im Zuge einer ähnlichen Entwicklung in den frühen 30er Jahren der nahe Wien gelegenen Arbeitersiedlung Marienthal gegolten hatte. Anders als dort arbeitete in Wittenberge ein interdisziplinär besetztes Team von Wissenschaftlern, Theatermachern, Performern und Journalisten zusammen, um im Austausch mit der Bevölkerung die Bedingungen des Wandels zu reflektieren und darüber hinaus "Überleben" zu gestalten. Darauf bauend, dass sich in diesem Zusammenwirken Synergieeffekte ergeben würden, verbrachten die Beteiligten längere Zeit vor Ort, um "am Beispiel Wittenberges Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft" zutage zu fördern. Für die Verantwortlichen erfüllt der Untersuchungsstandort zweierlei: Neben dem Einmaligen, das diesen Ort charakterisiert, sollen das Repräsentative und Verallgemeinerbare der Entwicklung ermittelt und Parallelen zur Deindustrialisierung anderer vormaliger Industriestädte (wie Bochum oder Nürnberg) aufgezeigt werden.

Wie der Titel "ÜberLeben im Umbruch" andeutet, ist im Rahmen von Forschung und künstlerischem Arbeiten die Rolle der zeitlichen Dimension maßgeblich für die Frage danach, wie Neues generiert werden könnte: Welche Rolle spielen die vielen zu beobachtenden Bezugnahmen auf die Vergangenheit für die Gegenwart und welche Auswirkungen hat dies wiederum für die Zukunft? Welche Praktiken, Rituale, Gesten und Haltungen zur Bewältigung veränderter Realitäten, in denen der Zugriff sozialstaatlicher Maßnahmen an der Tagesordnung ist, sind auszumachen, und wie lassen diese sich verbalisieren und theatralisch umsetzen?

Das umfangreiche Kompendium selbst lässt den Facettenreichtum des Projektes aufscheinen: Um einen Eindruck zu vermitteln, widmen sich jeweils zwei seiner sechs Rubriken den entstandenen Reportagen (von recht unterschiedlichem Niveau), wissenschaftlichen Aufsätzen sowie den in diesem Zusammenhang produzierten und realisierten Theaterstücken. Letzteren werden entsprechende Interviews an die Seite gestellt, die freilich mehr als bloße Vorarbeiten darstellen. Und vice versa sollen auch die Theaterstücke dem Wunsch der Verantwortlichen gemäß mehr sein als literarisch-theatrale Aufarbeitungen gesammelter Daten. Die eigenen wissenschaftlichen "Laborbedingungen" kritisch reflektierend, stellt diese Dokumentation für ihre Leserschaft ein enorm anregendes Unterfangen dar. Doch weil - anders als noch von Karl Roßmann angenommen - der Fall Wittenberge zeigt, dass bloßes Auskommen zum Überleben zu wenig ist und dazu führen kann, den letzten Mut zu verlieren, bleibt zu wünschen, dass dort, wo bisher Resignation und Rückzug vorherrschten, den theatralen Auftritten 'reale' Aufbrüche nachfolgen werden.


Susanna Brogi (* 1971) ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Neue Deutsche Literaturwissenschaft der Universität Erlangen-Nürnberg und forscht zu Armut in der Gegenwartskultur.
(sbrogi@web.de)


LITERATUR

Werner Michael Schwarz/Margarethe Szeless/Lisa Wögenstein (Hg.):
Ganz unten. Die Entdeckung des Elends. Wien, Berlin, London, Paris, New York. Christian Brandstätter, Wien 2007, 190 S., 39,90 Euro.

Herbert Uerlings/Nina Trauth/Lukas Clemens (Hg.):
Armut. Perspektiven in Kunst und Gesellschaft. Primus, Darmstadt 2011,448 S., 49,90 Euro.

Heinz Bude/Thomas Medicus/Andreas Willisch (Hg.):
ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft. Hamburger Edition, Hamburg 2012, 360 S., 39,00 Euro.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012, S. 55-59
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Mai 2012