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AKZENTE/133: Rückblick auf das Kommunistische Manifest (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012

"... worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist"
Rückblick auf das Kommunistische Manifest

Von Hanjo Kesting



"Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus": die ersten Worte des "Kommunistischen Manifestes" sind der berühmteste Anfang in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Die Schrift, entstanden am Vorabend der Revolution von 1848, ist eine Mischung aus politischer Agitationsschrift und geschichtsphilosophischer Analyse und zielt auf eine Gesellschaft ohne Klassen und Klassengegensätze, einmündend in den Imperativ: "Proletarier aller Länder, vereinigt euch!". In seinem Buch "Grundschriften der europäischen Kultur", das soeben in drei Bänden im "Wallstein Verlag" erschienen ist, hat Hanjo Kesting auch das "Kommunistische Manifest" behandelt. Wir dokumentieren Auszüge.


Karl Marx ist, wie vor ihm Rousseau, ein Meister der triumphierenden Eröffnung. Das erste Kapitel der Schrift beginnt mit dem Satz: "Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen." Hier wird der zentrale Gedanke der marxistischen Geschichtsauffassung formuliert, die Überzeugung von der überragenden Bedeutung der Ökonomie. Diese bildet nicht nur die Basis aller gesellschaftlichen Verhältnisse, sondern durchdringt auch die gesamte gesellschaftliche Struktur bis in die feinsten Verästelungen von Politik und Rechtswesen bis hin zum Kultur- und Geistesleben. In bündiger Form hat Marx es mit dem berühmten Satz ausgedrückt: "Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt." Auf den geschichtlichen Prozess bezogen heißt das: "Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken..." Das entspricht der im Manifest aufgestellten These, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft die Geschichte von Klassenkämpfen sei, zuletzt zugespitzt auf den großen historischen Dualismus von Bourgeoisie und Proletariat.

Der historische Entwicklungsweg der Bourgeoisie wird im Manifest nicht ohne Faszination, ja Bewunderung beschrieben, etwa wenn es heißt: "Die Bourgeoisie hat in der Geschichte eine höchst revolutionäre Rolle gespielt." Mit anderen Worten, Unternehmer und Kapitalisten haben auf ihre Weise dem geschichtlichen Fortschritt gedient und ihn in ungeahnter Weise befördert. Und so lesen sich einige Seiten der Schrift wie ein Hymnus auf die Entfesselung der Produktivkräfte und die Macht des Kapitals. Das Kapital wird beschrieben als weltbewegende Kraft, deren Dynamik alles bestimmt und hervorbringt, vom "Weltmarkt" bis zur "Weltliteratur".

Das Wort Weltliteratur ist eine Prägung von Goethe, der, 20 Jahre vor Marx, die Welt geistig und materiell zusammenwachsen sah. Goethe antizipierte die Entfaltung der modernen Produktivkräfte, sowohl in ihrer befreienden als auch zerstörerischen Kraft, für die er das Wort "veloziferisch" erfand, das in kühner Wendung "velocitas" (Schnelligkeit) mit luziferischem Teufelswerk verbindet. Im zweiten Teil von Faust macht er seinen Helden zum Repräsentanten dieser veloziferischen Ambivalenz. Marx, in seinem Manifest, legt diesen Gedanken in großem Stil aus. Er weist darauf hin, dass die modernen Produktivkräfte, an einem bestimmten Punkt der Entwicklung, in Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten (damit sind vor allem die Eigentumsverhältnisse gemeint). Regelmäßig, so stellt Marx fest, gerät die kapitalistische Produktionsweise in Krisen, die vor allem durch das regelmäßige Auftreten von Überproduktion gekennzeichnet sind. Der Kapitalismus gleiche somit Goethes Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht bannen könne.


Zyklische Krisen

Diese Analyse ist im Großen und Ganzen gültig geblieben. Die enorme, seit Marx' Epoche ungeheuer gesteigerte Produktivität hat weder konjunkturelle Krisen verhindern können noch katastrophale Zusammenbrüche des Systems wie die große Weltwirtschaftskrise von 1929 und die nicht weniger große Krise von 2008, die im Wesentlichen eine Krise der Finanzmärkte war. Dass solche Krisen regelmäßig auftreten ist unbestritten, es gibt offenbar kein wirksames Instrumentarium, sie zu verhindern.

Nur ist seit 1929 die Technik verfeinert worden, die sozialen und politischen Folgen solcher Krisen zu begrenzen. So wurden in der großen Finanzkrise von 2008 allein in Europa Hunderte Milliarden, weltweit mehrere Billionen an Steuermitteln eingesetzt, um den Zusammenbruch des Finanzsystems, man könnte auch sagen die Implosion des Kapitalismus, zu verhindern. Die Ursachen sind allgemein bekannt: ein Finanzmarkt, der eigenen Gesetzen folgt und sich von der Realwirtschaft weitgehend abgekoppelt hat, die Deregulierung des Ordnungsrahmens für Banken, die einem weitgehenden Verzicht der Politik auf Steuerung der Ökonomie gleichkommt, obszönes Gewinnstreben, Spieltisch-Mentalität, nicht zuletzt der Terror spekulativer Profitmaximierung, und zwar ohne Risiko, da, nach dem Prinzip "too big to fail", die Allgemeinheit für den angerichteten Schaden einstehen muss. Die seit langem betriebene staatliche Schuldenpolitik wirkt daran mit, das Problem zu vergrößern.

Was sich hier vollzieht, ist bereits von Marx analysiert worden, und gerade in seiner späten Zeit ist er unablässig bemüht gewesen, die Analyse solcher ökonomischen Vorgänge zu verfeinern und ihre rationale Gesetzmäßigkeit zu ergründen, in dem Glauben, es gäbe eine solche Gesetzmäßigkeit. Zugleich meinte er das Ende aller Krisen voraussehen zu können - durch die Überwindung des Kapitalismus: "Die Waffen, womit die Bourgeoisie den Feudalismus zu Boden geschlagen hat, richten sich jetzt gegen die Bourgeoisie selbst. Aber die Bourgeoisie hat nicht nur die Waffen geschmiedet, die ihr den Tod bringen; sie hat auch die Männer gezeugt, die diese Waffen führen werden - die modernen Arbeiter, die Proletarier."

Hier wird jenes machtvolle, vielköpfige Wesen beschworen, das nach der Überzeugung von Marx und Engels den krisenhaften Kapitalismus beseitigen würde: das Proletariat. Heute wird der Begriff kaum noch verwendet, er hat eine eigentümliche historische Patina angenommen. Zahlenmäßig längst von den Angestellten überholt, repräsentiert die Arbeiterschaft nicht mehr das größte Segment der modernen Arbeitswelt; der Anteil körperlicher Arbeit ist zurückgegangen, tarifliche Regelungen haben die organisierte Despotie früherer Fabrikarbeit beseitigt oder gezähmt. Das gilt zumindest für die westlichen Industrieländer, auch wenn Leiharbeit und tariffreie Räume wieder rapide zunehmen. Heute verwendet man Begriffe wie "Prekariat" oder "neues Proletariat" zur Kennzeichnung der in der neoliberalen Ära entstandenen neuen Unterschichten, deren Struktur aber viel diffuser ist als die des einstigen Proletariats. Vor allem ist das vor 100 Jahren hoch entwickelte und scharf ausgeprägte proletarische Klassenbewusstsein fast vollständig verlorengegangen. So hängt die zentrale Aussage des Manifestes: "[Die Bourgeoisie] produziert... ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich", die einst von so großer Wirkung war, heute eigentümlich in der Luft; sie ist von der Wirklichkeit widerlegt worden.


Die Poesie des Manifests

Welches Proletariat sollte heute gegen die Macht des Kapitals aufstehen? Was verbindet den schwarzen Grubenarbeiter in den Kupferminen von Transvaal mit dem kleinen Handwerker aus Polen, der in die Eurozone ausschwärmt, was die Flüchtlinge von Lampedusa, die ihre afrikanische Heimat verlassen, mit den Reisbauern in Vietnam, was die Jugendlichen in den Slums von Bombay mit den Kindersoldaten des Kongo, was die somalischen Piraten mit den Hartz IV-Empfängern der Bundesrepublik im Genuss ihrer "spätrömischen Dekadenz"? Sie alle sind auf irgendeine, aber sehr unterschiedliche Weise Spielbälle des global operierenden Kapitals, dessen geheimnisvolle Macht Marx nicht hat brechen können, auch wenn er sie ingeniös analysiert hat. Die faszinierendsten Seiten des Manifestes stehen am Anfang, im ersten Kapitel, worin die universelle, alles durchdringende, alles umfassende, alles verändernde, ja umstürzende Kraft des Kapitals beschrieben ist:

"Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen, und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übrig gelassen, als das nackte Interesse, als die gefühllose 'bare Zahlung'. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt. Sie hat die persönliche Würde in den Tauschwert aufgelöst, und an die Stelle der zahllosen verbrieften und wohlerworbenen Freiheiten die eine gewissenlose Handelsfreiheit gesetzt. Sie hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt."

Stephan Hermlin, der bedeutende Lyriker aus der DDR, ausgerechnet in Chemnitz geboren, der Stadt, die man später für knapp vier Jahrzehnte in Karl-Marx-Stadt umbenannte, hatte solche Passagen im Auge, als er schrieb: "Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das 'Kommunistische Manifest'; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten."

Der poetische Stil tut noch immer seine Wirkung, aber die Schlüssigkeit wirkt nicht mehr bestechend. Das Gespenst des Kommunismus hat seinen Schrecken verloren oder es wandelt längst in anderer Gestalt. Joseph Vogl, Professor an der Hurnboldt-Universität in Berlin, veröffentlichte kürzlich ein Buch, das sich mit den Konvulsionen der modernen Finanzmärkte beschäftigt und sogleich ein Bestseller wurde. Es heißt Das Gespenst des Kapitals, ein Titel, der in doppelter Weise auf Marx Bezug nimmt, einmal auf dessen Hauptwerk Das Kapital, zum anderen auf den Anfang des Kommunistischen Manifestes. Es ist kein marxistisches Buch, doch die Geldtheorie von Marx wird darin nahtlos fortgeschrieben und zugleich auf den Kopf gestellt. Dazu genügt ein Satz aus einem Roman von Don De Lillo, der in New York auf dem Börsenticker an der Fassade einer Investmentbank erscheint: "EIN GESPENST GEHT UM IN DER WELT - DAS GESPENST DES KAPITALISMUS."

Mit anderen Worten, der moderne Finanzkapitalismus, misst man ihn allein an seiner ökonomischen Dynamik, hat längst auf höhnische Weise seine Überlegenheit erwiesen, wobei allerdings seine zerstörerischen Potenzen nicht weniger drastisch hervortreten: der Verschleiß an Ressourcen, der Wahn ständigen Wachstums, die Besinnungslosigkeit des Konsums, die ungleiche Verteilung der Güter, die obszöne Gier nach Reichtum und Luxus, die Missachtung menschlicher Solidarität, die Wiederkehr der Klassengesellschaft in neuer Form, nicht zuletzt die Gefährdung der Demokratie und des sozialen Gleichgewichts (eines Mindestmaßes an Gleichgewicht) durch die Unterwerfung der Politik und die Gängelung des Bewusstseins mittels Märkten und Medien. Mühelos scheint dieser Kapitalismus jeden Widerspruch zu verschlucken und sogar die Energien zu verzehren, die gegen ihn aufbegehren.


Kapitalismus als Glaubenslehre

Unter der Maske reiner Rationalität regiert der "homo oeconomicus" die Welt, wobei als "rational" jenes Geflecht aus Aktien, Währungen, Krediten und Derivaten gilt, das selbst für die Hohenpriester der Marktgläubigkeit undurchschaubar geworden ist. Das Beben der Finanzmärkte, das so heftig und unerwartet kam wie der große Tsunami in Japan, hat diese Rationalität als bloße Glaubenslehre erwiesen. Das Gesetz des Marktes beruht vor allem darauf, dass man daran glaubt und jeden Verstoß gegen diesen Glauben als Verstoß gegen die quasi-natürliche Weltordnung betrachtet. Man könnte mit Giorgio Marazzi, dem italienischen Ökonomen, vom "Kommunismus des Kapitals" sprechen. Alle Bereiche der Gesellschaft, vom Bildungssystem über die Wissenschaft bis zu den Medien, müssen marktförmig werden, während alles, was sich der Marktrationalität widersetzt, bis hin zu den sperrigen Resten der Hoch- und der Subkultur, exorziert werden muss. Wie stark diese Glaubenslehre inzwischen Allgemeingut geworden ist, lässt sich daran ablesen, dass selbst das große Finanzbeben als eine Erschütterung erlebt wird, zu der es keine Alternative gibt. Auch die weltweiten Protestbewegungen, die sich seit Herbst 2011 zögerlich organisieren, sind nicht als Einspruch gegen den kapitalistischen "Markt" zu verstehen, sie richten sich lediglich gegen die Auswüchse eines Finanzsystems, das sich die Politik unterworfen und gefügig gemacht hat.

All das hat Marx nicht vorausgesehen, als er 1848 in seinem Manifest die Morgenröte der klassenlosen Gesellschaft aufdämmern sah. Doch kann es nicht schaden, die Ohren für das zu spitzen, was er in der wichtigsten Passage seiner Schrift für die klassenlose Gesellschaft der Zukunft in Aussicht stellt: "An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist." Aber: Ist "die freie Entwicklung eines jeden" nicht die Keimzelle der Ungleichheit? Hat sie nicht die Unterjochung der Schwächeren durch die Stärkeren zur Folge? Widerspricht sie nicht jeder Vorstellung von Sozialismus? Gemeint ist hier jedoch, dass die freie Entwicklung eines jeden ihm die Verfügung über die eigenen Produkte seiner Arbeit sichern soll, auch wenn die Produkte genossenschaftlich nach Plan produziert und verteilt werden. Es ist eine eigentümlich rückwärtsgewandte, vorindustrielle Vorstellung, die sich vermutlich aus den - von Marx und Engels an anderer Stelle dargelegten - Ideen eines Urkommunismus herleitet, in dem noch die sogenannte "lebendige Arbeit" den Wert einer Ware bestimmt, die somit im eigentlichen Sinn gar keine Ware ist, sondern Ausdruck der Einheit von Arbeit und Genuss. Die Vorstellung dieser Einheit ist sehr viel älter als die moderne, vom Geld bestimmte Industriegesellschaft, und nur in der Figur des Künstlers hat sie in phantastischer Weise überlebt. Es ist wie der Rückweg ins Paradies, der uns bekanntlich nicht offensteht.

150‍ ‍Jahre nach Marx bezeichnen wir die wichtigste Gesamtbewegung unserer Gegenwart als "Globalisierung". Sie hat kaum mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, um sich in einer Weise zu entfesseln, dass kein Bewohner des Globus sich ihr mehr entziehen kann. Noch den Eskimo in Grönland und den Aussteiger in Neuseeland erreicht sie in der Gestalt des Klimawandels, von den überall möglichen Ölpesten und Atomunfällen ganz zu schweigen. Nach welcher Gesetzmäßigkeit sie sich vollzieht, vermag niemand zu sagen, aber jeder weiß, dass hinter ihr jenes Bündnis von Technologie und Kapital steht, dem es gelungen ist, die Geschichte und Realität unseres Planeten nahezu restlos in ein Verwertungsphänomen zu verwandeln. Der Geldwert, allgegenwärtig, aber spukhaft ungreifbar, bildet darin den einzigen Fixpunkt. Er ist der Gott der Moderne - wenn denn Gott die Kraft ist, die alles bewegen, der Geist, der alles durchdringen, die Substanz, die sich in alles verwandeln kann. Dieser Gott verbirgt sich in den Regeln des Marktes nach einer Gesetzmäßigkeit, die keiner durchschaut. Wie in jeder Religion, gewinnt man Seligkeit nur im Glauben.

Ist das nun die geschichtliche Widerlegung von Marx oder am Ende seine philosophische Bestätigung, die Bestätigung auch seiner Aktualität? Die Antwort soll ein erstaunliches Gedicht von Heinrich Heine (S. 64) geben, "Die Wanderratten", entstanden in der Zeit der freundschaftlichen Verbindung Heines mit Marx und der Auseinandersetzung mit dessen Lehren und Prophetien, die darin skeptisch und illusionslos entzaubert werden. Man denkt bei der Lektüre an die Flüchtlingsströme, die allüberall unseren Globus überziehen, von Afrika nach Europa, von Mexiko in die USA, von Pakistan und Indien in die reichen Ölstaaten am Golf und noch auf vielen anderen Wegen. Es ist ein ebenso prophetisches wie unheimliches Gedicht, doch kann man nicht sicher sein, ob es Marx gefallen hätte:



Heinrich Heine
DIE WANDERRATTEN

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Sie wandern viele tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die lebenden lassen die toten zurück.

Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze;
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
Ganz radikal, ganz rattenkahl.

Die radikale Rotte
Weiß nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
Die Weiber sind Gemeindegut.

Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

So eine wilde Ratze,
Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.

Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe.
Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen - die Zahl ist Legion.

O wehe! Wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren!
Der Bürgermeister und Senat,
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium
Des sittlichen Staats, das Eigentum.

Nicht Glocken geläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,
Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
Sie helfen Euch heute, Ihr lieben Kinder!

Heut helfen Euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.

Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurst-Zitaten.

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radikalen Rotten
Viel besser als ein Mirabeau
Und alle Redner seit Cicero.


Hanjo Kesting (* 1943) ist Kulturredakteur der Zeitschrift Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte. Soeben erschien bei Wallstein: Grundschriften der europäischen Kultur. Erfahren, woher wir kommen.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012, S. 59-64
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Mai 2012