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AKZENTE/134: Muslimische Stimmen in der Gegenwartsliteratur (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 2/2012

Dass es etwas Größeres gibt
Muslimische Stimmen in der Gegenwartsliteratur

Von Christoph Gellner



In der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur mehren sich Stimmen, die die Beschränkungen einer zu eng gefassten monokulturellen Selbstwahrnehmung aufbrechen wollen. Besonders herausfordernd für den Religionsdialog ist die eben erst entstehende deutsch-muslimische Literatur, die sich in ganz verschiedener Weise auf den Islam bezieht.


Die Terrorattacke auf die "Twin Towers" von Manhattan hat sich durch die zu Ikonen gewordenen Medienbilder unauslöschlich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. In seinem viel gerühmten, lyrischen Gegenwartsroman "September. Fata Morgana" (2010) verdichtet Thomas Lehr das Epochengefühl des vom 11. September 2001 imprägnierten Jahrzehnts - das in dem Massaker eines antimuslimischen Terroristen in Oslo im Juli 2011 seinen absurden Tiefpunkt fand.

Lehrs Roman erzählt von zwei Familien, in New York und Bagdad, die zufällige Opfer der irrsinnigen Konfrontation zwischen islamistischem Dschihad und dem "Krieg gegen den Terror" werden. Der deutschamerikanische Germanist Martin verliert seine Tochter und seine geschiedene Ehefrau bei den Anschlägen auf das World Trade Center, der irakische Arzt Tarik Frau und Tochter bei einem Bombenattentat radikaler Islamisten drei Jahre später. In alternierend aufeinander folgender Figurenrede - jeweils mit Muna, Sabrina, Tarik oder Martin überschrieben - wird der politische und persönliche Hintergrund erhellt. Vorbild ist Homers "Ilias"-Devise: Wenn man einen Krieg erzählen will, muss man beide Seiten darstellen. Nur so nähert man sich der Wahrheit.


West-östliches Requiem

"In 'September' ist der Dialog die Voraussetzung der Definition der eigenen Kultur", erläutert Lehr. Bewusst verbindet der Roman assoziativ-reflektierende westliche Diskursformen mit dem Rhapsodisch-Märchenhaften orientalischen Erzählens. Lehr hat jahrelang recherchiert, aus dem Mythenschatz Babylons und seinen biblischen Spiegelungen zitiert er ebenso wie persisch-arabische Dichter und Mystiker. Unaufdringlich schildert der Berliner Autor, wie das unter Saddam Hussein weitgehend marginalisierte muslimische Alltagsleben immer wieder zwischen schiitisch-sunnitische Fronten gerät. Vom Miteinander von Christen, Juden und Muslimen im Andalusien der arabischen Herrschaft bis zur Blüte der europäischen Arabistik im 19. Jahrhundert macht Lehr Jahrhunderte alte dialogische Verflechtungen sichtbar, denen heute Vorbildfunktion zukommt.

Martin nähert sich der islamischen Kultur über Johann Wolfgang von Goethes "West-östlichen Diwan", Sabrina über die Hafis-Übersetzungen Friedrich Rückerts, dem polyglotten Begründer der deutschen Orientalistik, der auch den Koran übersetzte. Mehrfach wird Sure 5,32 zitiert: "Wer einen Menschen tötet, tötet alle Menschen". Tarik emigrierte nach dem Sechs-Tage-Krieg gegen Israel zum Studium nach Paris, 1974 kehrte er zurück, als "poetischer Atheist" trägt er alle Züge eines europäisch gebildeten Intellektuellen. Gegenläufig zu der als Motto vorangestellten Einsicht Goethes, Geschichte sei "der Irrgarten der Gewalt", endet der Roman mit dem in der Alhambra von Granada allgegenwärtigen Leitwort der Nasriden, die von der katholischen Reconquista außer Landes getrieben wurden: "Wa la ghalib illa-llah/Es gibt keinen Sieger außer Gott."

Für interreligiöses Lernen ist nicht zuletzt Tariks Jerusalem-Vision wichtig: "Selbstverständlich müssen sich unsere Nachfahren dereinst frei am Tempel und an der Moschee dort treffen können (oder keine Mühe und kein Leid hätte sich gelohnt) (...), aber ich sage euch, dass nichts stimmt, wenn sich nicht auch agnostische alte Mediziner wie ich einfinden dürfen mit (...) ihrem profunden Unglauben und dem unbedingten Verlangen nach Kulturen und Zivilisationen, die ihren Namen wirklich verdienen". Kaum weniger bedeutsam ist Lehrs Respekt gegenüber der Andersheit der fremden Kultur. Sie kommt literarisch darin zum Ausdruck, dass das ganze irakische Geschehen auch als Fata Morgana lesbar ist, als eine Erfindung Martins, der sich in seiner Trauer in die andere Seite hinein imaginiert.


Insbesondere seit dem 11. September 2001 wird die Religion der Muslime als Bedrohung und Herausforderung begriffen. Zugleich wird in Diskussionen um den Islam als dem heimisch werdenden Fremden das eigene Verhältnis zu Religion, Säkularität und Modernisierung neu reflektiert. Durch Arbeits- und Bildungsmigranten sowie durch Flüchtlingsströme in Millionenstärke präsent, stellt der Islam heute eine Nachbarschaftsreligion inmitten von Europa dar. Dabei spielt die Präsenz muslimischer Religion und Kultur nicht nur in der öffentlichen Diskussion eine bedeutende Rolle, sie wird auch in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur zunehmend wichtiger.


Dies war auch der Ausgangspunkt für eine interdisziplinäre Tagung im Rahmen des Projekts "Islam in Deutschland - Interkulturalität und interreligiöser Diskurs in der Literatur", die im vergangenen Jahr am neugegründeten Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften der Universität Paderborn stattfand. Der Blick auf Neuformatierungen muslimischen Denkens in der Gegenwartsliteratur als Ort der Reflexion über Diskurse des Eigenen und des Fremden eröffnet eine Fülle von Feldern, die nur in der Kooperation von Vertretern aus Literatur-, Kultur- und Religionswissenschaft sowie christlicher und muslimischer Theologie sinnvoll bearbeitet werden können, bisher jedoch kaum aufgegriffen wurden (vgl. HK, Januar 2009, 38).

Zu Recht setzte die Tagung mit der Islam-Rezeption bei Gotthold Ephraim Lessing, Goethe, der deutschen Romantik und Heinrich Heine ein. Waren sie doch im deutschen Sprachraum Pioniere des Dialogs zwischen den Religionen und Kulturen, für die gerade die islamisch inspirierte Kunst, Poesie und Spiritualität zum Objekt der Neugier und des künstlerischen Interesses wurde. Nicht unberechtigt ist der Hinweis der österreichischen Schriftstellerin und Islamkundlerin Barbara Frischmuth, dass wir "im Hinblick auf eine literarische Wahrnehmung des 'Orientalischen' weit hinter die Standards des neunzehnten Jahrhunderts zurückgefallen sind". Und doch geht es bei der Auseinandersetzung mit dem Islam als Teil unserer Gegenwartsgesellschaft um eine nochmals ganz neue Situation und Herausforderung.


Neue deutsch-muslimische Literatur

Anders ist das bei zeitgenössischen muslimischen Autorinnen und Autoren türkischer, persischer oder arabischer Herkunft, die einiges aus ihrer "Mutterzunge" (so der Titel des ersten Erzählbandes von Sevgi Emine Özdamar) in ihre Schreibsprache Deutsch und damit in eine deutschsprachige Öffentlichkeit herübergerettet haben. Die deutsch-türkische Literatur bildete einen ersten Themenschwerpunkt, der paradigmatisch das literarische Schaffen von Zafer Senocak und Feridun Zaimoglu auf Spiegelungen des Islam hin untersuchte. Überaus innovativ war die Verschränkung von literaturwissenschaftlichen und theologischen Sichtweisen, die sich wechselseitig ergänzen und erhellen, bisweilen aber auch gegenseitig korrigieren.

Im zweiten Themenschwerpunkt wurde die Rezeption türkischer Literatur im deutschsprachigen Raum im Blick auf die beiden namhaften Gegenwartsautoren Nedim Gürsel und Orhan Pamuk beleuchtet. Erlaubt dies doch einen Vergleich der Modernisierung und Säkularisierung in der Türkei und in Deutschland. Bemerkenswert für die Neuformatierung muslimischen Denkens in der Gegenwartsliteratur ist bei Nedim Gürsel die starke Betonung des mystischen Islam, bei Orhan Pamuk der Sehnsucht nach religiösem Sinn im Spannungsfeld von Tradition und Moderne.

Der dritte Schwerpunkt war dem literarischen Erzählwerk sowie den islamwissenschaftlich-theologischen Studien ("Gott ist schön", 1999; "Der Schrecken Gottes", 2005) des deutsch-iranischen Schriftstellers und habilitierten Orientalisten Navid Kermani gewidmet (der Tagungsband "Islam in der deutschen und türkischen Literatur", Michael Hofmann und Klaus von Stosch [Hg.], erscheint im April 2012 im Verlag Schönigh, Paderborn).


Ähnlich wie wir seit den achtziger und neunziger Jahren eine Renaissance deutsch-jüdischer Literatur erleben, lässt sich bei einer wachsenden Zahl Deutsch schreibender Autoren muslimischer Provenienz eine allmählich stärker werdende literarische Präsenz des Islam im deutschsprachigen Raum beobachten. Islamisch inspirierte Gegenwartsautoren wie Zafer Senocak, Feridun Zaimoglu und Navid Kermani belegen eine deutlichere Sichtbarkeit muslimischer Religiosität in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Dass die religionsbezogenen Fragestellungen notorisch ausblendende Germanistik ihre Texte meist der deutsch-türkischen oder einer anderen Ethno-Nische zuweist, trifft nicht das wirklich herausfordernd Neue dieser eben erst entstehenden deutsch-muslimischen Literatur. Wird darin doch nicht nur kulturelle, sondern auch religiöse Differenz auf ganz unterschiedliche Weise literarisch produktiv.


Von einem "markanten 'Muslim Turn'" (Karin E. Yesilada) zu sprechen, scheint indes übertrieben. Angesichts der negativen Stigmatisierung nahezu alles Islamischen, wollen nicht wenige Autoren eine Reduktion ihres literarischen Schaffens auf ihre Herkunftsreligion vermeiden und versuchen sich kollektivistischen Zuschreibungen möglichst zu entziehen.

Kein Wunder, dass Feridun Zaimoglu im Interview mit Martin Lätzel (Was Dichter glauben. Gespräche über Gott und Literatur, 2011) öffentliche Rollenerwartungen an muslimische Intellektuelle unmissverständlich zurückweist: "Ich bin ganz sicher nicht der Pressesprecher einer Weltreligion". Selbstironisch reagiert er auf neue und alte antiislamische Negativstereotypien: "Als Moslem bin ich ja eigentlich ein Idiot mit Gendefekt, so wird man mittlerweile beschrieben", als zu bekehrender "Heidenmoslem" dürfe er "eigentlich so gar nicht vorkommen". Dennoch bekennt der Poet aus Kiel sich klar als "ein gläubiger Muslim" und zu seinem Engagement für einen "deutschen Islam". Er mache jedoch "einen großen Unterschied zwischen der Religion und den Pfaffen und dem Glutkern des Glaubens und den Propheten". Im Grunde sei der Glaube Privatsache, doch äußere er sich "in letzter Zeit häufig dazu, weil der Islam heftig debattiert wird".


Vielfältige Innenansichten

Pointiert stellt Zafer Senocak in seiner Essaysammlung "Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift" (2011) heraus: "Wenn es deutsche Staatsbürger muslimischen Glaubens gibt, dann gehört der Islam selbstverständlich zu Deutschland. Was sonst?" Die Sprachregelung geht auf den "Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens" zurück, der die akkulturierten bürgerlich-liberalen Juden in Deutschland repräsentierte - so wie sich heute die überwiegende Mehrheit der Muslime in Deutschland mit dem säkularen Rechtsstaat arrangiert hat. "Es war die Generation meines Großvaters, die den Kaftan ablegte, die fest daran glaubte, dass es möglich war, europäisch und muslimisch zugleich zu sein", bringt Senocak eine zentrale familiäre Erfahrung in den deutschsprachigen Islam-Diskurs ein.

Kaum weniger aufschlussreich ist Senocaks Beobachtung hinsichtlich des Wandels der Wahrnehmungskategorien: "Früher war ich ein Schriftsteller, dann war ich ein 'Gastarbeiterautor', später ein 'türkischer Migrantenautor', und heute bin ich ein 'muslimischer Autor'." Vor allem nach dem 11. September 2001 wurde Religion zum zentralen, wenn nicht alleinigen Identitätsmerkmal, unter Ausblendung der höchst unterschiedlichen individuellen Positionierung. Die an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg lehrende deutsch-iranische Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur spricht von einer pauschalisierenden "Muslimisierung der Muslime" (Manifest der Vielen. Deutschland erfindet sich neu, Hilal Sezgin [Hg.], Berlin 2011).


Wie sich am vielstimmigen deutsch-jüdischen Diskurs Autorinnen und Autoren beteiligen, die nicht dezidiert religiös sein müssen, um sich öffentlich als Juden zu artikulieren, liegen etwa von SAID oder Sherko Fatah Wortmeldungen von Muslimen vor, die sich selbst nicht als gläubig verstehen. In der Deutschen Islam-Konferenz haben diese säkularen Muslime eine eigene Vertretung: "der exilierte, inzwischen mehr als ein vierteljahrhundert auf der flucht, in freiheit", markiert SAID in seinen west-östlichen Betrachtungen "Das Niemandsland ist unseres" (2010) seine Position, "kann den kreis seiner religiosität nicht verlassen, freilich ohne je einem der gottesverwalter gefront zu haben".

Sherko Fatah erinnert in seinem in Bagdad und Berlin spielenden Roman "Ein weißes Land" (2011) an die Kollaboration arabo-islamischer Nationalisten mit dem Hitlerfaschismus. Gemeinsam propagierte man den Dschihad gegen die britische Kolonialherrschaft wie gegen die jüdische Einwanderung in Palästina.


Ein ganz eigener Fall ist der deutsch-bulgarische Schriftsteller Ilija Trojanow, er fing in Indien an, sich für den Islam zu interessieren. In "Die Versuchungen der Fremde. Unterwegs in Arabien, Indien und Afrika" (2011) legt er eine Neuausgabe seiner Pilgerfahrt nach Mekka und Medina ("Zu den heiligen Quellen des Islam") sowie seiner Reise entlang dem heiligsten Strom Indiens, dem Ganges ("An den inneren Ufern Indiens") vor - "ein zentraler Teil meiner interreligiösen Wanderschaft, die fortdauert und noch lange fortdauern wird".


Aufsehen erregte der von Fotos beglaubigte, autobiographisch gefärbte Debütroman "Gott im Reiskorn" (2010) der deutsch-afghanischen Autorin Mariam Kühsel-Hussaini, die von einem Afghanistan aus der Zeit vor den Taliban, ja, noch vor den Sowjets erzählt. Als "Tochter beider Epen", des morgen- wie des abendländischen, ja, "mit dem Atem zweier Himmel" vergegenwärtigt die 23-Jährige in neun "Bildern" die untergegangene große Kultur ihres orientalischen Herkunftslands, das sie als Kind verlassen musste, als ihre großbürgerliche Familie von Kabul über Delhi nach Deutschland emigrierte.

Unsere Geschichten beginnen vor unserer Geburt

Die Gedichte von Sayed Rafat Hussaini, ihres Vaters, beschreibt sie ebenso eindringlich wie die islamische Schönschreibkunst ihres Großvaters, Sayed Mohammed Da'ud Hussaini. Dieser berühmte Meisterkalligraph des letzten afghanischen Königs verstand es sogar, eine Koransure - nicht von ungefähr die Fatiha, die Eröffnerin des Korans, die für Muslime eine ähnlich zentrale Bedeutung hat wie für Christen das "Vater unser" - auf ein Reiskorn zu bannen: "die wohl enthusiastischste Formel seines Glaubens auf dem ,

zerbrechlichsten Grund", formuliert die Enkelin, "auf dem Zartesten und Harmlosesten aller Dinge angeordnet (...) die berührendste und unvermutet filigranste Darstellung des Islam". Gerade so lässt die "sinnliche Anbetung" dieser Miniaturkalligraphie den Atem einer Kultur spüren, die faszinierend anders pulst als unsere spirituelle Betriebsordnung.


Navid Kermanis viel beachteter, 1200 Seiten starker Riesentagebuchroman "Dein Name" (2011) erzählt eine westöstliche Familiengeschichte und verbindet seine kosmopolitische Kölner Gegenwart mit der Vergangenheit seiner Vorfahren aus Isfahan sowie seiner Eltern, die in den sechziger Jahren zum Studium nach Deutschland kamen. Anhand der Memoiren seines Großvaters mütterlicherseits, ein gottesfürchtiger Muslim und Republikaner, der nach dem Grundsatz handelte: "Jeder gute Mensch ist ein guter Muslim", entfaltet Kermani ein politisch-religiöses Panorama Irans im 20. Jahrhundert, das sich 1906 die erste demokratische Verfassung des Nahen Ostens gab, die aber von Briten und Russen ausgehebelt wurde.

Vom Putsch der CIA gegen den demokratisch gewählten Premierminister Mohammad Mossadegh im Jahr 1953 über die Entmachtung des Schahs und die Islamische Revolution Ayatollah Chomeinis bis zu den Protesten 2009 in Teheran lässt Kermani die jüngste Geschichte Irans Revue passieren. "Wegen der religiösen Diktatur emigrierte die Mehrheit meiner Familie nach Amerika, manche mussten auf abenteuerliche Weise über die kurdischen Berge fliehen, ein Cousin saß jahrelang im Gefängnis, der Schwager meiner Tante wurde hingerichtet. Das alles geschah in unserer eigenen Familie, die so große Hoffnung auf die Revolution gesetzt hatte", legt er die Schreibmotivation für seine opulente Familiensaga dar.

"Zugleich konnte ich - und zwar nicht nur aus emotionalen Gründen - die Werte meiner eigenen religiösen Erziehung nicht vergessen und das Vorbild an Güte nicht übersehen, das mir manche ältere und besonders fromme Verwandte weiterhin waren." "Dein Name" ist ein Hohelied auf die mystisch-aufgeklärte, ebenso traditionelle wie tolerante Religiosität seines Großvaters, das Plädoyer für eine gleichermaßen gottgemäße wie menschenfreundliche Ausprägung des Islam.


Hymnus auf das Wunder des Lebens

Doch auch die unmittelbare Gegenwart fließt in Kermanis von 2006 bis 2011 reichende Lebensmitschrift ein: "Die Literatur kennt keine Abfälle. Jedenfalls lehren das Alte Testament und der Koran, dass alles auf Erden ein Zeichen Gottes sei." Vorbild ist der ausufernde Fabulator Jean Paul, der Poetik und Alltagsbeobachtungen, das Höchste und das Niederste, Philosophie und Neunmalkluges aneinanderreihte und gerade so der Simultaneität des Erlebens eine literarische Entsprechung zu geben verstand. Wie Jean Paul macht Kermani sich selber zur Figur seines Buches und stellt mit ständigen Kommentaren das eigene Romanschreiben in seinem Kunstcharakter heraus. Durch die Verbindung von Profanem und Heiligem, Recherche und Fiktion, Reportage und akademischem Essay, von mittelalterlicher Kunst, Mystik und aktueller Politik, öffnet Kermani seinen Mammutroman bewusst zum Unendlichen hin.

Ein Buch über Religionen und das Religiöse der Literatur: Friedrich Hölderlin ("der Sonderling, der Närrische und Verlachte, bis hin zum Aufschrei, zum Verglühen, zur Auflösung") feiert Kermani als "Sufi der deutschen Literatur": "Die anderen schreiben über Mystik, er verkörpert sie". Gewiss beziehe sich Hölderlin auf das Christentum, ja, "das Vokabular von Entwerden, Reinheit und Leersein, das Großvater freitags bei Pir Arab in Isfahan hörte und jeden Abend in Rumis Masnawi las, kannte Hölderlin aus den Liedern der eigenen Kirche. Was dem Leser, weil er Orientalist ist, sufisch anmutet, aber in allen mystischen Traditionen Belege fände, entsteht dort, wo Hölderlin vom christlichen, also personal verstandenen Begriff des Heiligen fort- und zugleich zurückschreitet zu der Abstraktion des reinen Anderen, zum bloßen Pneuma, das nicht mehr und noch nicht Subjekt ist. 'Eines zu sein mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen. Eines zu sein mit Allem, was lebt, in seliger Selbstvergessenheit wiederzukehren ins All der Natur, das ist der Gipfel der Gedanken und Freuden (...) Eines zu sein mit Allem, was lebt!'"


In Nachrufen gedenkt Kermani Personen, die im Berichtszeitraum gestorben sind: Verwandte, flüchtige Bekannte, Freunde und Kollegen, darunter finden sich anrührende Portraits des Dichters Mahmud Darwisch, des Koranwissenschaftlers Nasr Hamid Abu Zaid oder von Großajatollah Hussein Ali Montazeri. "Wie Gott es verbietet, Seinen Namen auszusprechen, müssen die Vergänglichen beim Namen gerufen werden, um ihre Vernichtung noch ein, zwei weitere Generationen hinauszuzögern". Gegenläufig stimmt Kermani, ähnlich wie Thomas Lehr, geradezu einen Hymnus auf das unerschöpfliche Wunder eines jeden einzelnen Lebens an.


Schlüsseltext der eben erst entstehenden deutsch-muslimischen Literatur

Neben hellsichtigen Reiseberichten aus Krisenregionen wie Afghanistan und Kaschmir oder über die "Flüchtlingsbekämpfung" auf der Insel Lampedusa nimmt der Roman ironisch-satirisch den medialen Meinungsbazar aufs Korn, der Islam-Erklärer und Berufsmuslime wie Kermani laufend in Talkshows und Dialogforen zu aktuellen Stellungnahmen anheuert. Die bemerkenswertesten Passagen dieses "großartigen selbstbiographischen Epos" (Roman Bucheli in der Neuen Zürcher Zeitung) berühren den Streit um die Zuerkennung des hessischen Kulturpreises an Kermani. Offen angesprochene Skrupel hinsichtlich der eigenen Gebetspraxis im hiesigen areligiösen Kontext wie Schilderungen konkreter Koranrezitation machen "Dein Name" zu einem Schlüsseltext der eben erst entstehenden deutsch-muslimischen Literatur.

"Man ist sich all der Vorbehalte selbst am genauesten bewusst (...) Was soll einer, der nicht selbst betet, schon denken beim Anblick eines Muslim, der sich vor Gott niederwirft? Selbst im Gespräch wäre es unmöglich, einem Menschen ohne religiöse Schwingung zu erklären, was es mit dem Gebet auf sich hat und aus welchen abgelegenen Quellen sich die Zugehörigkeit speist, die man zum Islam hat, zu Mohammad und seinen Nachfahren, zu Abraham und seinen Nachfahren. Dass man für den Lobpreis Gottes seinen Tag unterbricht, das hat innerhalb kultureller Eliten Westeuropas Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts etwas - nein, nicht einmal etwas Anstößiges, etwas vollständig Fremdes, das aber die Fremden untereinander, gleich welcher Religion, wiederum verbindet."

Gleichwohl bete er gern, "aber nicht weil es guttut". Das Gebet tue gerade dadurch gut, dass es nicht dafür da ist gutzutun. Es ist Pflicht, endlich einmal nicht Wellness. Es tut wohl, sich vor etwas Höherem niederzuwerfen, das kein Mensch und nicht einmal eine Vorstellung ist, anzuerkennen, dass es etwas Größeres gibt als einen selbst, als die Menschen alle, aber dafür muss man stehen, und nach der Unterwerfung muss man sich rasch wieder aufrichten, die prinzipielle Gebetshaltung nicht gebeugt, mit gefalteten Händen, sondern aufrecht, die Arme ausgebreitet, die Handflächen nach oben.


Dr. theol. Christoph Gellner (geb. 1959) ist Lehrbeauftragter für Theologie und Literatur, Christentum und Weltreligionen an der Universität Luzern. Publikationen: Schriftsteller lesen die Bibel. Die Heilige Schrift in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Sonderausgabe Darmstadt 2010; Der Glaube der Anderen. Christsein inmitten der Weltreligionen, Düsseldorf 2008; Westöstlicher Brückenschlag. Literatur, Religion und Lebenskunst bei Adolf Muschg, Zürich 2010.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 2, Februar 2012, S. 102-106
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juni 2012