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PROFIL/090: Die Glut des roten Oktobers - Erinnerung an Isaak Babel (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2015

Die Glut des roten Oktobers
Erinnerung an den russischen Schriftsteller Isaak Babel

Von Hanjo Kesting


Isaak Babel, geboren 1894 in der Moldawanka, dem jüdischen Viertel von Odessa, gestorben vor 75 Jahren in sowjetischer Haft, trat Anfang der 20er Jahre in die russische Literatur ein als genialer Dichter kühner Visionen und einer Prosasprache von neuer, unerhörter Dichte und Farbigkeit.

Er war das Kind einer Kaufmannsfamilie. Seine Vorfahren waren spanische Rabbiner, deutsche Gelehrte, Händler und Geldwechsler gewesen, die ihn mit der jüdischen Tradition vertraut machten. In Odessa, dem größten Zentrum des Judentums in Russland, war der Antisemitismus stark ausgeprägt, hier kam es zu Exzessen, häuften sich die Pogrome - bis zu dem Oktoberpogrom des Jahres 1905, den der elfjährige Babel miterlebte und später in einer seiner Erzählungen - sie heißt Die Geschichte meines Taubenschlages - beschrieben hat. Damals stürmte eine fanatische Menge unter Führung fahnenschwenkender Priester in das Judenviertel von Odessa, das oft mit dem Witebsk von Marc Chagall verglichen worden ist.

Als Schriftsteller kehrte Babel später in die Moldawanka zurück, einmal weil ihre Atmosphäre ihn anzog, zum anderen um sie genau zu studieren. Es war kein Zufall, dass er, wie so viele jüdische Zeit- und Leidensgenossen, zum Sänger der Oktoberrevolution wurde und sogar dem Bürgerkrieg eine romantisch-abenteuerliche Seite abgewann. Er besuchte die höhere Handelsschule in Odessa, doch der Zugang zur Universität blieb ihm als Juden verwehrt. 1915 siedelte er nach Petrograd über, wo Maxim Gorki sein literarischer Mentor wurde. Zwischen 1917 und 1923 übte Babel verschiedene Tätigkeiten aus, war Soldat, Beauftragter im Bildungswesen, Journalist und Kriegskorrespondent, unter anderem in der Reiterarmee des legendären Generals Budjonny. In diesen Jahren entstanden viele literarische Skizzen und Studien, doch nur wenige Arbeiten, die er selber als gültig betrachtete. Er war, nach dem Zeugnis von Konstantin Paustowski, der ihn in seiner Autobiografie porträtiert hat, ein Autor, der unermüdlich an seinen Texten feilte, sie verknappte, verdichtete, immer wieder überarbeitete. "Die Klarheit und Kraft der Sprache", pflegte er zu sagen, "besteht gar nicht darin, dass man zu einem Satz nichts mehr hinzufügen kann, sondern darin, dass man aus ihm nichts wegstreichen kann".

Paustowski, der wie Babel aus Odessa stammte, berichtet über den drei Jahre Jüngeren, dass dieser etwa seine Erzählung Ljubka Kosak in nicht weniger als 22 Varianten ausgearbeitet habe, bis sie vor den Augen des Autors bestehen konnte. Und selbst dann blieben Zweifel: "Ich für mein Teil bin noch nicht sicher, ob die zweiundzwanzigste Variante druckreif ist. Ich glaube, sie lässt sich noch knapper fassen. Eben dies Eliminieren ... führt zu der selbständigen Kraft der Sprache und des Stils." Babel erscheint hier wie ein Märtyrer der Kunst, der um die genaue Formulierung, den richtigen Ausdruck nicht weniger beharrlich und verzweiflungsvoll rang als Flaubert - Paustowski zitiert ihn mit den Worten: "Man sollte uns allen einen Schwur abnehmen. Den Schwur, dass keiner von uns sein Werk je verrät."

1924/25 schrieb Babel die meisten der Geschichten, die ihn berühmt machten: rund drei Dutzend konzentrierte und bildhafte Prosastücke, an denen er unermüdlich verbesserte und feilte, erfüllt von dem Ehrgeiz, ein russischer Maupassant zu werden. Auf den französischen Novellenautor hat er sich nach dem Zeugnis von Paustowski immer bezogen; Maupassant war, wie auch Elias Canetti überliefert hat, "sein eigentlicher Meister".

Morgenröte der Avantgarde

Babel komponierte seine Geschichten in Zyklen. Budjonnys Reiterarmee ist ein solcher Zyklus, 34 Erzählungen über Revolution und Bürgerkrieg, die in glutvollen Bildern beschrieben werden. Tucholsky notierte unter dem Eindruck der Lektüre: "Schwarze Wolken - blaue Bohnen - rote Soldaten - grüne Wälder - graues Elend - weiße Armee." Babel war nicht an die Front gegangen, um als Kriegsberichterstatter Propaganda zu machen. Er zog mit Budjonnys Soldaten durch Wolhynien und Galizien und schrieb auf, was er gesehen und gehört hatte. Auf die Geschehnisse fallt der Blick des intellektuellen luden, der erfüllt ist von Trauer und Melancholie über eine ihm fremd und feindlich erscheinende Welt. So entsteht ein unverfälschtes Bild der Geschehnisse, knappe, pointierte Skizzen voller Gewalt und Grausamkeit, eines willkürlichen und grausamen Mordens. Schon die erste Geschichte schockiert durch das Erlebnis des Erzählers, die Nacht im Bett neben einer Leiche verbracht zu haben: "Da liegt ein toter alter Mann, auf den Rücken geworfen. Die Kehle herausgerissen, das Gesicht in zwei Hälften zerhackt, blaues Blut liegt in seinem Bart, wie ein Stück Blei." Man begreift, was Tucholsky so verwirren und verstören konnte: "Auf welchem Planeten diese Geschichten spielen, weiß ich nicht. Die Leute auf den Kampfwagen, und die verrückten Heiligenmaler, und der Mann, der neben dem Toten schlafen muss, und dieses unbegreifliche Durcheinander..."

Babels Buch wurde von der Leserschaft begeistert aufgenommen, nicht aber von den offiziellen Stellen, vornan der General Budjonny. Er nannte es eine "ungeheuerliche Verleumdung" der von ihm kommandierten Reiterarmee und schrieb in einem offenen Brief an Gorki, "dass es zur Beschreibung eines heroischen, in der Geschichte der Menschheit einmaligen Kampfes der Klassen vor allem erforderlich ist, das Wesen und den Klasseninhalt dieses Kampfes zu begreifen, das heißt, Dialektiker, marxistischer Künstler zu sein..." "Ich glaube", schloss der Reitergeneral, "dass man den Heroismus unserer Tage nicht wie Babel beschreiben darf". Das konnte in einer Zeit, in der Stalin bereits fast uneingeschränkt zum Machthaber aufgestiegen war, durchaus als Drohung gelesen werden.

Budjonnys Reiterarmee stellt eine Art Tagebuch dar, in dem nicht der äußere Ablauf der Ereignisse geschildert wird, sondern die Wirkung der Revolution, die wie eine Elementarkatastrophe über die Gesellschaft hereinbricht, auch auf den privaten Bereich jedes einzelnen. Der kleine Talmudschüler aus Odessa reitet in den Reihen der barbarischen, ihm und seiner Mentalität fremden und feindlichen Kosaken durch die zertrümmerten jüdischen Dörfer Polens.

Noch deutlicher als an den Erzählungen lässt sich Babels seelische Erschütterung an seinem Kriegstagebuch über den Polen-Feldzug von 1920 ablesen, einer Skizzensammlung, die ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war und mit fast 70 Jahren Verspätung aus dem Nachlass ans Licht kam. Sie offenbart, wie stark der scheinbar kühle Beobachter von den Exzessen der Revolutionsarmee betroffen war: "Warum will meine Traurigkeit nicht vergehen?" notiert er einmal: "... weil wir zerstören, weiterziehen wie ein Wirbelsturm, ein Lavastrom, von allen gehasst, das Leben stiebt auseinander, ich bin auf einer großen, nicht enden wollenden Totenmesse". An anderer Stelle: "Wie wir die Freiheit bringen - schrecklich!" Obwohl Babel damals noch überzeugter Kommunist war, verstörte es ihn, mit welch rücksichtsloser Grausamkeit die Reiterarmee die neue Heilslehre nach Westen zu verbreiten suchte. Er selber nahm teil am Geschehen: "... ich erzähle meine Märchen über den Bolschewismus, das Aufblühen, die Schnellzüge, die Moskauer Manufaktur, die Universitäten, kostenlose Speisung - [...] und versetze all diese gepeinigten Menschen in Begeisterung". Dann wieder, bei der Einquartierung in polnischen Gutshöfen, heißt es: "Ach, wie es nach Europa roch, nach Cafes, Zivilisation, nach Kraft, nach der alten Kultur..." So spricht kein Proselytenmacher der Weltrevolution. Babels Bilanz im Jahre drei der Revolution lautet: "Alles ist dumm, bösartig, kraftlos, unbegabt und erstaunlich wenig überzeugend."

Das persönliche Notizbuch kann man als Subtext lesen, der in die Geschichten aus Budjonnys Reiterarmee eingewoben ist, auch wenn Ilja Ehrenburg, der Einblick hatte in Babels Notizen, in seinen Erinnerungen die Meinung vertrat, das fertige Buch sei anders: "Durch das Grauen des Krieges, durch das raue Klima jener Jahre bricht der Glaube an die Revolution und an den Menschen." Doch hätte Babel sein Buch ohne eine solche Transformation kaum veröffentlichen können. Vielleicht ist der Gegensatz auch nur scheinbar: In Budjonnys Reiterarmee ist aus der kleinen grausamen Welt von Odessa mit ihren Pogromen die große grausame Welt der Revolution geworden, in deren Chaos Babel voll Trauer und Sehnsucht die Scherben einer zerbrochenen Ordnung aufsammelt und den Spuren einer Gemeinschaft nachgeht, in der er aufgewachsen ist und die es nicht mehr gibt. So verschlingen sich die Wege und Irrwege der vom Bürgerkrieg mitgerissenen Menschen in diesem Werk zu einem Gesamtbild von mythischer Kraft.

Die gemordete Avantgarde

Budjonnys Reiterarmee erschien 1926. Noch im selben Jahr kamen in deutscher Übersetzung die Geschichten aus Odessa heraus, während die russische Buchausgabe erst fünf Jahre später publiziert wurde. Die Geschichte meines Taubenschlages, ein weiterer Zyklus mit sieben Geschichten, ist nie selbstständig als Buch erschienen. So ist das Werk Babels, rund 60 kurze Geschichten und Skizzen, die gut 800 Seiten füllen, in wenigen produktiven Jahren entstanden. Es gehört in den Zusammenhang des russischen Modernismus, von Chlebnikow und Malewitsch, mit einem starken Einschlag neoromantischer Elemente, jener künstlerischen Aufbruchsbewegung, der Stalin seit 1930 mit dem Gebot des "Sozialistischen Realismus" ein jähes Ende bereitete. Milo Dor und Reinhard Federmann haben in ihrer Anthologie Gemordete Literatur eine direkte Verbindung hergestellt zwischen Babels Buch und seiner späteren Ermordung: "... Babels offenherzige Schilderungen widersprachen krass dem Kult der revolutionären Heroen-Romantik und der geforderten Propagandatendenz in der Literatur".

Babel unternahm in den folgenden Jahren zahlreiche Reisen nach Frankreich und Italien, durch die Ukraine und den Kaukasus. Auf einer dieser Reisen, die ihn nach Berlin führte, ist er dem jungen Elias Canetti begegnet, der damals einige bewegte Monate in der deutschen Hauptstadt verbrachte. Für Canetti war es die wichtigste Begegnung in einer Zeit, die sonst vorn "Gedränge der Namen" bestimmt war: "Er war ein kleiner, untersetzter Mann, mit einem sehr runden Kopf, an dem dicke Brillengläser als erstes auffielen. Vielleicht war es ihnen zuzuschreiben, dass auch die Augen, die er weit offen hielt, besonders rund und aufgerissen wirkten. Man fühlte sich, kaum dass er erschienen war, gesehen", heißt es in Canettis Lebensgeschichte. "Ich habe nie jemanden erlebt, der mit solcher Intensität sah, er blieb dabei vollkommen ruhig, durch das Spiel um die Augenpartien wechselte der Ausdruck der Augen unaufhörlich. Er verwarf beim Sehen nichts, denn er hatte für alles den gleichen Ernst, das Gewöhnlichste wie das Ungewöhnlichste war für ihn von Bedeutung."

Seit etwa 1930 verstummte der Schriftsteller Babel, über den Gorki damals noch seine schützende Hand hielt. Nach Gorkis Tod wurde Babel im Mai 1939 im Zuge der Stalinschen "Säuberungen" verhaftet. Sein Tod während der Haft wird nach heutigem Kenntnisstand auf den 27. Januar 1940 datiert. Nach Stalins Tod erfolgte im Dezember 1954 die Rehabilitierung des Schriftstellers durch das Militärkollegium des Obersten Sowjets - "wegen Fehlens eines kriminellen Tatbestandes". Aber, um Walter Jens zu zitieren, "kein Tauwetter bringt die Zeiten der Avantgarde zurück. Meyerhold und Eisenstein, Majakowski und Blok, Belyi und Babel - welch eine Blüte der Künste! Was für ein Schwung und wie viel Genialität beherrschte jene siebzehn Jahre zwischen der Revolution und dem ersten Kongress, an dessen Ende die Inthronisation der Kleinbürger-Ideale, die Verherrlichung von Marmor und Plüsch stand: der sozialistische Realismus Stalinscher Art."


Isaak Babel: Mein Taubenschlag. Sämtliche Erzählungen (Hg. von Urs Heftrich, Bettina Kaibach. Aus dem Russischen von Bettina Kaibach und Peter Urban). Hanser, München 2014, 862 8., 39,90 EUR.


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschienen seine Bücher Augenblicke mit Jean Améry (Wallstein Verlag Göttingen) und Das Geheimnis der Sirenen. Bilder und andere Abenteuer (Wehrhahn Verlag Hannover).

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1-2/2015, S. 84 - 87
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von
Kurt Beck, Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka,
Thomas Meyer und Bascha Mika
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Februar 2015

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