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PROFIL/095: Der traurige Prophet der Vernunft - zum 150. Geburtstag von H.G. Wells (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016

Der traurige Prophet der Vernunft
Zum 150. Geburtstag von H. G. Wells

Von Hanjo Kesting


Herbert George Wells, geboren vor 150 Jahren, am 21. September 1866, in Bromley bei London, könnte als Musterbeispiel für die Vergänglichkeit des Ruhmes dienen. Zu Lebzeiten war er einer der meistgelesenen Schriftsteller, nicht nur in England, sondern in der gesamten literarischen Welt. Seinen Einfluss auf das Bewusstsein der Zeitgenossen kann man sich nicht machtvoll und tiefgreifend genug vorstellen. George Orwell hat ihn mit den Worten beschrieben: "Die denkenden Menschen, die um die Jahrhundertwende zur Welt kamen, sind in gewissem Sinn Wells' eigene Geschöpfe. Wieviel Einfluss ein einfacher Schriftsteller und insbesondere ein 'volkstümlicher' Schriftsteller hat, dessen Werke eine rasche Wirkung erzielen, ist fraglich; aber ich bezweifle, ob irgendjemand, der zwischen 1900 und 1920 Bücher geschrieben hat - zumindest in englischer Sprache -, die jungen Leute so stark hat beeinflussen können wie Wells. Unser aller Gedankenwelt, und als Folge davon auch unsere Umwelt, wären merklich anders, wenn Wells nicht gelebt hätte."

Der Schriftsteller stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen, und nichts schien auf eine literarische Karriere hinzuweisen. Er genoss eine nur mäßige Schulbildung und kam mit einem Staatsstipendium an das Royal College of Science, wo er zum Assistenten von Julian Huxley avancierte. Mit dem Roman The Time Machine von 1895 begann seine Laufbahn als Schriftsteller und die lange Reihe seiner wissenschaftlich-utopischen Romane mit ihren technischen Prophetien, darunter The Island of Dr. Moreau (1896), The Invisible Man (1897), The War of the Worlds (1898), When the Sleeper Awakes (1899) und The First Men in the Moon (1901). Einst als faszinierende, aber vordergründige Science-Fiction angesehen, lassen diese Bücher von heute aus eine überraschende Vielschichtigkeit erkennen. Reich an technischen und realistischen Details, stoßen sie in den Bereich der Wunschträume und Archetypen vor, nähern sich - darin dem späten Jules Verne vergleichbar - der sozialen Utopie oder Anti-Utopie. Man kann sie als poetisch-spekulative Fantasien, aber auch als technisch-wissenschaftliche Antizipationen lesen, zumal viele physikalische Einzelheiten in erstaunlichem Ausmaß in Erfüllung gegangen sind.

Die Zeitmaschine, das früheste dieser Bücher, wurde richtungsweisend für die Negativ-Utopien des 20. Jahrhunderts von Evgenij Zamjatin, Aldous Huxley und George Orwell - Wells räumte diesem Buch die vorderste Stelle in einem Sammelband früher fantastischer Erzählungen ein. Der Roman Der Unsichtbare, zwei Jahre später erschienen und zweifellos von Stevensons Dr. Jekyll and Mr. Hyde inspiriert, handelt von einem Wissenschaftler namens Griffin, der eine chemische Formel entdeckt, mit der man weiße Gegenstände unsichtbar machen kann. Bei einem Selbstversuch stellt er jedoch fest, dass sich dieser Prozess nicht rückgängig machen lässt. Dessen Folge ist Griffins' moralischer Verfall, denn der Erfinder, der durch seine Unsichtbarkeit nicht Gefahr läuft, entdeckt zu werden, wird zum Dieb und Brandstifter und sogar zum Mörder. Zuletzt brütet er wahnhafte Weltherrschaftspläne aus, bis eine wütende Menge ihn zur Strecke bringt. Im Augenblick des Todes wird der Leichnam wieder sichtbar. Auch dieses Buch kann im Lichte der Erfahrungen des kommenden Jahrhunderts als Dystopie gelesen werden.

Auch Krieg der Welten von 1898, worin Marsmenschen mit dreibeinigen Kampfmaschinen das Vereinigte Königreich angreifen, um von hier aus die ganze Erde zu erobern, wurde ein grundlegendes Buch der Science-Fiction und zum Vorbild für viele spätere Bücher und Filme. Ursprünglich als Satire auf die britische Kolonialpolitik angelegt, diente Wells' Roman seinen Nachfolgern als Modell für viele Arten von Angriffen aus dem Weltall, am wirkungsvollsten in einem Hörspiel von Orson Welles, das 1938 am Vorabend von Halloween ausgestrahlt wurde und in der Umgebung von New York und New Jersey eine Massenpanik hervorrief.

Schon mit 35 Jahren gehörte Wells zu den führenden Schriftstellern seines Landes, neben George Bernard Shaw, Rudyard Kipling, G.K. Chesterton und William Somerset Maugham, und von allen war er der meistgelesene. Jahr für Jahr brachte er neue Bücher heraus, neben vielen Erzählungen über 60 Romane. Auch die späten Bücher fanden eine gewaltige Leserschaft, obwohl (oder weil) der Künstler darin im Hintergrund blieb und die Romanform nur zur Verkleidung seiner politisch-didaktischen Absichten benutzte. Nicht selten gab er ganz unmittelbar der wissenschaftlichen Aufklärungsliteratur den Vorzug, schrieb Sachbücher und Essays wie The Outline of History (1920) oder A Short History of Mankind (1925), kurzgefasste, aber außerordentlich lebendig geschriebene Geschichtsbücher, in denen Könige und Kriege nur geringen Raum einnehmen, während Forscher die Helden der Geschichte und ihre Erfindungen die wahren Wegmarken der Historie sind. Mit solchen Büchern wurde Wells in den 20er und 30er Jahren der bekannteste und wirkungsmächtigste Vertreter eines wissenschaftlichen Positivismus. Er war ein unerschütterlicher Pazifist und Vorkämpfer eines demokratischen Sozialismus, der seinen Glauben an die Kraft des Lebens, das sich fortschreitend aufwärts, bis hin zu einem idealen Weltstaat entwickeln würde, mit den Worten bekannte: "Unser Ziel ist das Erwachen der Menschheit von dem Alpdruck des Existenzkampfes und der Unvermeidlichkeit des Krieges. Eine Zeit wird kommen, in der Menschen vor einem Geschichtsbuch oder bei der Lektüre alter Zeitungen ungläubig fragen werden: Gab es jemals solch eine Welt?"

Die Grenze der Vernunft

Wells war, mit anderen Worten, ein bedingungsloser Optimist, für den die großen Ideen der Aufklärung ewige Wahrheiten waren, nicht anders als für seinen deutschen Bewunderer Axel Eggebrecht, der 1946, unter dem Eindruck von Wells' Tod, schrieb: "Er glaubte an eine andere, glücklichere Welt, die heraufzuführen er helfen wollte, indem er sie als erreichbares Ziel lockend darstellte. Er schrieb aus dem wichtigsten Grund, den es gibt: um zu wirken. Und er hat unzweifelhaft stark gewirkt, und noch lange wird sein Einfluss vielerorts spürbar sein." Da allerdings hatte die "Dialektik der Aufklärung" den Optimisten Wells längst eingeholt und seinen Fortschrittsglauben durch die geschichtlichen Erfahrungen des Jahrzehnts seit dem Spanischen Bürgerkrieg zunichte gemacht. Vor allem der Zweite Weltkrieg, gipfelnd in den Atombombenabwürfen von Hiroshima und Nagasaki, galt ihm als Bestätigung dafür, dass die Menschheit, wie der Zauberlehrling in Goethes Gedicht, der Kräfte nicht mehr Herr werde, die sie selbst entfesselt habe, und dass sie unaufhaltsam ihrem Untergang entgegengehe. Wells' letztes Werk war der Essay Mind at the End of Its Tether, der 1945, im Jahr vor seinem Tod, publiziert wurde. Er beschreibt die Vernunft an der Grenze ihrer Möglichkeiten und den Verlust ihrer Herrschaftslegitimation. So endete der lebenslange Prophet der Vernunft mit einem Buch der Verzweiflung; wie Shakespeares Prospero konnte er sagen: "And my ending is despair".


Hanjo Kesting ist Kulturredakteur dieser Zeitschrift. Zuletzt erschien bei Wallstein, Göttingen, seine dreibändige Studie Große Romane der Weltliteratur.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 9/2016, S. 63 - 65
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. September 2016

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