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PRODUKTREFLEXION/003: Der zweite Tod des Bobby Sands - "Hunger" von Steve McQueen (SB)


Der zweite Tod des Bobby Sands - "Hunger" von Steve McQueen


In einer Episode des actionreichen Flops "Der Baader Meinhof Komplex" (2008), wurde der Fall vom im Hungerstreik umgekommenen Holger Meins mit so grauenhaftem Voyeurismus ausgeschlachtet, dass vielen Zuschauern nach dem Kinobesuch wohl nicht nur Zweifel am deutschen Rechtsstaat der 70er und 80er Jahre kamen, sondern auch an der aufklärerischen Absicht der sich doch sonst so überaus integer gebenden deutschen Filmschaffenden Eichinger, Edel, Gedeck, Bleibtreu, Ganz, Lara, Thalbach und Ferch. Reaktionen auf den "Baader Meinhof Komplex", der Teil der großen europaweit stattfindenden Desinformationskampagne zur RAF ist, zeigten, dass das Ergebnis scheinheilig standpunktloser "Objektivität" und einer sogenannten "realistischen" Darstellung, die "für sich selbst" sprechen soll, komischerweise manchmal gerade dann ins Gegenteil umschlägt, wenn eigentlich eine Diffamierung von Aktivisten angestrebt wurde, die aus plausiblen und deshalb nur schwer zu ignorierenden Gründen System, Staat und Obrigkeit angreifen.

Der für uns sanft gebettete Normalbürger in seiner Radikalität und Abgründigkeit oft unverständliche Hungerprotest und die zeitweise sogar massenhaften "Selbst"-Tötungen (politischer) Gefangener haben bisher kaum Erwähnung in Filmen gefunden. Die tragische Figur des zartbesaiteten Gefängniswärters hingegen, dem die Grausamkeit vieler seiner Kollegen abzugehen scheint, weil er sich plötzlich in einer seinen bisherigen Tellerrand überschreitenden Situation wiederfindet, begegnet uns immer wieder. Nicht nur die Häftlinge sind hier Opfer des entgleisten Strafvollzugs, so wird uns beigebracht, ihre verantwortlichen Haftpfleger, die verloren im Zwiespalt von nötiger, gerechtfertigter Härte und hilfloser, brutaler Rage den härtesten Job machen, leiden auf besondere Weise... Auch der Londoner Regisseur Steve McQueen vertritt in seinem ungewöhnlichen Gefängnisstreikfilm "Hunger" (2008) diese Interpretationsrichtung und versucht die Untrennbarkeit von Leben und Leiden auf beiden Seiten der Gittertür möglichst "objektiv" darzustellen. Glücklicherweise sind die vermeintlich gleich gewichteten jedoch in ihrer szenischen Auswahl höchst irreführenden, beinahe dialogfreien Episoden um die Lebensumstände und psychologischen Verfassungen von Gefangenen und Gefängnisbeamten so berechnet und fast geometrisch distanziert, dass sich das Publikum getrost wieder seiner eigenen Vorstellung von dem was sich abgespielt haben könnte, zuwenden kann, denn, ohne die wirklich eindringlich in Szene gesetzte Grausamkeit staatlicher Härte anzweifeln zu wollen, so kann es nicht gewesen sein.

Unerlaubter Waffenbesitz lautete die Anklage gegen den IRA-Kämpfer Bobby Sands, die ein Urteil über 14 Jahren Haft in den berühmt berüchtigten "H-Blocks" des britischen Hochsicherheitsgefängnis "The Maze" nach sich zog. 1981 beschlossen Sands und seine IRA-Genossen nach Aberkennung ihres Status als politische Gefangene nicht mehr zu essen. Trotz großer internationaler Proteste und obwohl der Hungerstreik gegen die ethnisch bedingte Folter und für politische Anerkennung breite Unterstützung in der irischen Bevölkerung fand - Bobby Sands war während des Streiks sogar zum Mitglied des Britischen Unterhauses gewählt worden - weigerte sich Premierministerin Margaret Thatcher die IRA-Kämpfer als politische Gefangene zu betrachten. Sands und neun weitere der 75 beteiligten IRA-Häftlinge hungerten sich über Wochen zu Tode. Die Restriktionen gegen die Gefangenen des Maze-Prison wurden zwar irgendwann später gelockert, der von ihnen geforderte politische Status ist ihnen jedoch nie zuerkannt worden.

Drastisch nimmt der Videokünstler und Bildhauer McQueen unter die Lupe, zu welchen ekelerregenden Streikmaßnahmen sich die gefangenen IRA-Volunteers genötigt sahen, um ihren Forderungen Gehör zu verschaffen. Er zeigt schonungslos, wie sie durch die verbeamteten Handlanger des grausamen Empires immer wieder verprügelt und gedemütigt werden, aber auch wie ein freier IRA-Aktivist einem Gefängniswärter in Zivil, der gerade seine geistig abwesende Mutter im Altenheim besucht, von hinten in den Kopf schießt... Das Wissen über den Jahrhunderte schwelenden Krieg zwischen Irland und Großbritannien aber, das unabdingbar ist, um das Ausmaß der vorangegangenen oftmals tödlichen Unterdrückung, die solch grausame Methoden der Gegenwehr hervorbrachte, wenigstens annähernd verstehen zu können setzt McQueen voraus und meidet so, auf die Gefahr hin bestehenden Missverständnissen noch weitere hinzuzufügen, die Herausforderung sich mit seinem Werk in die politisch weit verästelten Untiefen des sogenannten Nordirlandkonflikts zu begeben.

In einem Interview darauf angesprochen ob er mit dem Zeigen von ausuferndster staatlicher Gewalt und den über-realistisch visualisierten körperlichen Grenzgängen der Häftlinge, die sich zunächst weigerten Gefängniskleidung zu tragen ("Decken-Streik"), aufhörten sich zu waschen und ihre Exkremente und Essensreste in den Zellen und auf den Gefängnisfluren verteilten ("Wasch-Streik"), "physische Reaktionen" beim Zuschauer auslösen wollte antwortete McQueen:

Nein, überhaupt nicht. Was ich zeige, ist das, was damals passierte. Die Häftlinge nutzten ihre begrenzten Ressourcen, das heißt ihre Körper, um zu protestieren, und der Protest mit den Exkrementen war ein Teil davon. Ich wollte niemanden abstoßen, es wäre für mich als Filmemacher ja absurd, wenn ich die Zuschauer dazu bringen wollte, ihren Blick abzuwenden. Zugleich überrascht es mich, wenn mir Leute von solchen Reaktionen erzählen. Schließlich handeln zwei Drittel aller amerikanischen Filme von Rache, Schießen und Töten, und darauf reagieren die Zuschauer ganz abgestumpft.

Möglicherweise klingt hier an, in welchem Bewußtsein der Film verwirklicht wurde. Frei nach dem Motto "The Medium Is The Message" steht entgegen McQueens Behauptung dabei nicht ein die Geschichte möglichst erhellender Dialog zwischen Filmemacher und Publikum im Vordergrund, nicht das "so war es wirklich", im Sinne von Informationen, die auch die umfassenderen Beweggründe der politischen Kämpfer oder der den Hungertod der Häftlinge aussitzenden "pragmatischen" Regierung betreffen. Vielmehr ist zu befürchten, dass gerade die real-historische Basis des Plots als willkommener Vorwand missbraucht wird, einem morbiden Ästhetizismus besonderen Nachdruck zu verleihen.

Irland-fremden oder jüngeren Generationen könnte es bei dieser Gewichtung passieren, dass sie Bobby Sands Anliegen - auch wenn dies vielleicht nicht dem Wunsch des Regisseurs entspricht - einfach als "religiös-extremistische Ideologie" unter den Teppich kehren, denn die lebensnahen Ziele des irischen Freiheitskampfes, der selbstverständlich über den Kampf für bessere Haftbedingungen hinaus ging, werden auf ein aus heutiger Sicht von vornherein verlorenes und aussichtsloses Kräftemessen mit der Staatsgewalt reduziert. Auch der 23-minütige inhaltlich sehr wichtige Dialog zwischen Sands und dem Gefängnispriester, der ihn dazu anhält sein "wahnsinniges", ja sogar "egoistisches" Unterfangen zu stoppen, droht die ohnehin nur schwer überbrückbare Kluft zwischen Hauptfigur und Zuschauer noch zu vergrößern und lässt die enorme schauspielerische Leistung von Michael Fassbender (Sands) und Liam Cunningham (Pater) inhaltlich in allgemeiner Uneindeutigkeit stagnieren. Die letzte Phase des 66-tägigen Hungerstreiks von Bobby Sands wird schließlich mit einer so fehlgeleiteten Liebe zum Detail überzeichnet, dass die Montage von extremem körperlichen Verfall und klinisch-"sakraler" Reinlichkeit im Stadium palliativer "Pflege" unschwer als pervers zu nennende Kontrastkunst entlarvt werden kann.

Wenn McQueen seine Zuschauerschaft nicht mit Absicht "überfordern" wollte, so hat er offensichtlich den Grad der viel beschworenen und angeblich allüberall herrschenden Abgestumpftheit überschätzt. Das Publikum kann die inflationäre Gewalt amerikanischer Baller- und Splatterfilme sehr wohl von filmischen Darstellungen realer, erbarmungsloser staatlicher Gewalt, verübt an Menschen, die in der historischen Vergangenheit wagten sich zu widersetzen, unterscheiden. Das Entsetzen der Zuschauer zeigt doch, dass gerade in Bezug auf staatliche Repressionen von einer Sensibilität und Aufmerksamkeit für extremen Protest ausgegangen werden kann, und dass den richtungweisenden Taten und Lebensgeschichten jener, die sich gezwungen sehen in einen solchen (selbstzerstörerischen) Prozess zu treten, immer noch, wenn auch heimlich, ein Interesse entgegengebracht wird, das seinesgleichen sucht. In einer Welt zunehmender Einschränkungen wird das körperliche und seelische Wohlbefinden durch staatliche Willkür immer öfter nicht erst im Gefängnis zur Disposition gestellt und die Machtlosigkeit der Normalbürger vor dem übermächtigen Staat gewinnt immer schärfere Konturen. Die Frage, was einen lebendigen und aus diesem Grunde den bestehenden Verhältnissen kämpferisch gegenüberstehenden Menschen wie Bobby Sands dazu veranlasst hat, in feindlicher Gefangenschaft nichts mehr zu essen, bei zunächst vollem Bewusstsein zu erleben, wie sein Körper unwiederbringlich an Kraft verliert und schließlich delirierend in Hunger-Agonie zu sterben, scheint auch für jene Menschen wieder von Relevanz zu sein, denen eine Radikalisierung völlig fern liegt.

McQueen und sein Filmteam schreiben fort, was den geschundenen Jesus bis heute im Prunk der Kirchen verblutend am Kreuz hängen lässt. Künstlerisch verbrämtes Märtyrertum ist eine den Toten nachträglich aufgesetzte Maske, um ihre Taten und ihr Leid für die noch Lebenden in erträglichem Abstand zu halten. So kann es nicht gewesen sein.

11. Oktober 2009