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BERICHT/009: "Die Untoten" - Mark Ravenhill ... im Limbus medizinischer Unwägbarkeit (SB)


AIDS-Stigma - Lebensmut unter Todesprognose

Mark Ravenhill - Foto: © 2011 by Schattenblick

Mark Ravenhill
Foto: © 2011 by Schattenblick
In den achtziger Jahren stürzte die Diagnose "HIV-positiv" eine wachsende Zahl Infizierter in den Abgrund gesellschaftlicher Stigmatisierung, sozialer Isolation und einer dramatisch verkürzten Lebensspanne. Ohne Aussicht auf Heilung sahen sie sich mit der Unausweichlichkeit konfrontiert, daß ihr Immunsystem innerhalb der nächsten zehn Jahre versagen würde und sie dem Tod durch AIDS überantwortet wären. Viele von ihnen bereiteten sich auf das Ende vor, gaben ihren Beruf auf, nahmen schließlich Abschied von ihren Freunden und Angehörigen, regelten ihre Hinterlassenschaft und planten die eigene Beerdigung. Immer wieder ließen Berichte aufhorchen, die medizinische Forschung habe den langersehnten Durchbruch greifbar nahe gebracht, stets aufs Neue zerschlugen sich die daran geknüpften Hoffnungen.

Mitte der neunziger Jahre gelang es schließlich, mit Hilfe der Kombinationstherapie einen Verbund eingesetzter Medikamente insofern zu einer ersten Waffe gegen die tödliche Krankheit zu schmieden, als diese in eine chronische umgewandelt werden konnte. Eine ganze Generation HIV-Positiver, die Freunde beim Sterben begleitet und zu Grabe getragen, nie mit einer Zukunft gerechnet und dem eigenen Tod ins Auge gesehen hatte, überlebte nun für eine ungewisse, doch vielfach nicht länger terminierte Frist. Nachdem sie bis dahin Todgeweihte gewesen waren, galten sie nun als Überlebende, die sich mit einer fundamentalen Wendung ihres Schicksals konfrontiert sahen.

Der britische Bühnenautor und Journalist Mark Ravenhill gehört dieser Generation an, die durch seinen Beitrag auf dem Kongreß "Die Untoten" in der Kampnagelfabrik eine pointierte Stimme bekam. Er zählt zu den populärsten Dramatikern des modernen britischen Theaters und des In-Yer-Face Theatre. Derzeit ist er Chefdramaturg der Paines Plough Theatre Company in London. Im thematischen Rahmen "The Fatal Narrative" gewährte Ravenhill Einblicke in sein Leben mit der HIV-Infektion, worauf er im Gespräch mit dem Hamburger Psychotherapeuten Joachim Dinse, der seit den späten achtziger Jahren schwerpunktmäßig mit homosexuellen und insbesondere HIV-infizierten Männern arbeitet, eine breitere Sicht entfaltete. Im dritten Abschnitt der Veranstaltung stieß der kanadischer Filmemacher, Autor und Fotograf Bruce LaBruce aus Toronto dazu, der in der Nachbarhalle an seinem Film "Ulrike's Brain" arbeitete und seine Perspektive zum Thema einbrachte.

Souverän im Auftritt vor Publikum trug Ravenhill seine persönliche Geschichte in einer entspannten Erzählweise vor, welche die inhärente Dramaturgie ohne jede Theatralik zur Wirkung kommen ließ. Wenngleich er durch Abgründe und extreme Lebenslagen führte, verzichtete er auf Klagelieder, Bezichtigung und bedeutungsschwere Überfrachtung, wodurch er die Schranken möglicher Voreingenommenheit und Befangenheit seiner Zuhörer scheinbar mühelos überwand. Obschon mit einer Todesnähe konfrontiert, die jeder Vermittlung spottet, ironisierte er die eigene Besonderheit mit so leichter Hand, daß einem ein zugewandtes Lachen weit näher als eine zur Schau gestellte Leidensmiene war.

Wenn Mark Ravenhill heute den Arzt aufsucht, um ein neues Rezept für Medikamente zu bekommen und eine Reihe von Blutuntersuchungen durchzuführen, erfährt er die Meßwerte der drei Monate zurückliegenden letzten Tests. Seine aktuellen Werte hinsichtlich des Immunsystems liegen zwar unter dem Durchschnitt, doch innerhalb eines Schwankungsbereichs, wie er auch für gesunde Menschen gilt. Der zweite erhobene Meßwert betrifft seinen viralen Status, der inzwischen bei Null liegt und in einem einfachen HIV-Test vermutlich ein negatives Ergebnis zur Folge hätte. Dessen ungeachtet gilt Ravenhill nicht als geheilt, sondern mit einer derzeit nicht nachweisbaren HIV-Infektion behaftet.

Vor fünfzehn Jahren war sein Immunwert auf einen extrem niedrigen Stand gesunken, was gleichbedeutend mit der mangelnden Fähigkeit des Körpers war, sich vor einer Reihe von Krankheiten zu schützen, die zusammen als AIDS bezeichnet werden. Damals bildeten sich auch bei ihm Kaposi-Sarkome heraus, deren purpurne Verfärbung der Haut als deutlichstes sichtbares Symptom gewissermaßen als Markenzeichen von AIDS galt. Zudem erkrankte er an Toxoplasmose, die das Gehirn befällt und ebenfalls charakteristisch für AIDS ist. Obwohl beide Krankheiten inzwischen therapiert und de facto geheilt sind, gilt er nach gängigen Kriterien weiterhin als AIDS-krank. Denn während bei anderen schweren Krankheiten wie Krebs eine vollständige Heilung als möglich gilt, erachtete man AIDS so lange als eine absolut tödliche Krankheit, daß keine Definition für ein Stadium danach geschaffen wurde. "Ich bin untot, ich bin ein lebender Toter im Sinne dieses Kongresses", so Ravenhill.

Aufgrund seiner Krankheitsgeschichte stuft ihn sein Zahnarzt noch immer als Hochrisikopatienten ein, obgleich die Medikamentierung den viralen Status so weit gesenkt hat, daß von einem besonderem Gefahrenpotential nicht mehr die Rede sein kann. Hier verbünden sich Bezichtigungsmedizin und Stigmatisierung zu einem Zwangskorsett, das der Betroffene vermutlich zeit seines Lebens nie wieder abstreifen kann. Wie Ravenhill nachvollziehbar geltend macht, sei es eine weit verbreitete Fehleinschätzung nicht nur in ärztlichen Kreisen, Menschen auf Dauer als hochriskant einzustufen, die jemals positiv auf HIV getestet worden sind. Hochrisikopatient sei seines Erachtens jemand, der seinen HIV-Status nicht kennt, weil er sich womöglich erst vor kurzem infiziert hat. In Großbritannien wurden vor etwa zehn Jahren in zunehmendem Maße auch Heterosexuelle positiv getestet. Inzwischen übertrifft ihre Zahl die der homosexuellen HIV-infizierten Männer.

Mark Ravenhill ging 1989 im Alter von 23 Jahren eine Beziehung zu einem nicht wesentlich älteren Mann namens Tim Frazer ein, der ihm eröffnete, HIV-positiv zu sein. Tim war seit 1985 infiziert und gehörte damit zum Kreis der Ersten, denen diese neue Diagnose gestellt wurde, die damals gleichbedeutend mit einem Todesurteil war: Auf HIV folgte AIDS und mithin der Tod, dessen Eintreten nur eine Frage der Zeit war, wobei man zwischen fünf und maximal 15 Jahren als Richtwert ansetzte. Ravenhill brach die Beziehung zu Tim dennoch nicht ab, was diesen zunächst überraschte, da er nur noch wenige Jahre zu leben hatte. Wie Ravenhill sagt, wisse er heute noch nicht, ob er damals zu jung gewesen sei, um sich vorstellen zu können, daß jemand in seinem Alter sterben könnte, oder im Gegenteil gerade mit jemandem eine Beziehung führen wollte, den etwas so Bedeutsames wie Sterben auszeichnete. Nach Tims Tod sei es ihm 15 Jahre lang nicht möglich gewesen, eine neue Beziehung einzugehen. Im Kontrast zu Menschen, die an einer tödlichen Krankheit leiden, seien ihm andere lange als oberflächlich und substanzlos vorgekommen. Sie interessierten ihn wenig, stellten keine Herausforderung dar, waren für ihn nicht lebendig genug.

1990 wurde Mark Ravenhill, der damals 24 Jahre alt war, selbst positiv auf HIV getestet. Bei der obligatorischen Beratung erklärte man ihm, daß er am Ende kaum Schmerzen verspüren werde, weil Morphin inzwischen sehr effektiv eingesetzt werden könne. Schmerzen waren zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht sein Problem, weil er jung und arrogant gewesen sei. Als er erklärte, daß er nicht sterben könne, weil er eine bedeutende Persönlichkeit sei und in seinem Leben noch vieles erreichen müsse, konfrontierte ihn die Beraterin damit, daß er nur noch zehn Jahre zu leben hätte. Diese Härte sei wohl auch angemessen gewesen, da junge Leute wie er von Tod und Sterben nichts wissen wollten.

Joachim Dinse, Mark Ravenhill - Foto: © 2011 by Schattenblick

Joachim Dinse, Mark Ravenhill
Foto: © 2011 by Schattenblick

Tim starb 1993. Dabei habe er unter anderem gelernt, daß es nicht nur einen Tod, sondern in diesem Sterbeprozeß viele Tode gibt, so Ravenhill. Es ist kein Schalter von Leben zu Tod, der einfach umgelegt wird. Tims Sterben begann, als er die HIV-Diagnose bekam, und setzte sich über viele Stadien fort, zumal sich seine Persönlichkeit infolge der Krankheit und Medikamentierung veränderte. Wie Ravenhill von einer Krankenschwester auf der Station erfuhr, sterben junge AIDS-Patienten nicht so schnell wie ältere Menschen, da ihr Herz sehr stark sei und noch pumpe, wenn andere Organe bereits versagt hätten. Eines Tages benachrichtigte ihn diese Schwester, daß Tim mit Sicherheit innerhalb der nächsten 24 Stunden sterben werde. Wie konnte sie so sicher sein? Wie Ravenhill in der Klinik feststellte, hatte man die Hydration eingestellt und die Morphinzufuhr auf eine tödliche Dosis erhöht. Das ärztliche Team hatte so entschieden, wie das wohl in den meisten derartigen Fällen so sein dürfte. Ravenhill bejaht im Falle seines Freundes diese Vorgehensweise, da dieser wie im Leben zuletzt auch beim Tod unterstützt worden sei. Man lebe mit der Fiktion, daß die meisten Tode natürlich seien, weil einem das am vertrautesten erscheint. Die Jahre mit Tim hätten ihm eine Vorstellung davon gegeben, wie er selbst die letzten Jahre verbringen und sterben würde. Das galt für viele der zweiten Generation HIV-Infizierter, die bei der Betreuung ihrer Freunde und Liebhaber gewissermaßen ihren eigenen Tod probten.

Damals glaubte Ravenhill, daß ihm noch etwa fünf Jahre blieben und er ungefähr 1998 sterben werde. Er verfolgte zu dieser Zeit die aktuelle Entwicklung von AIDS-Medikamenten längst nicht mehr, da es ihm weit einfacher und günstiger vorkam, sich auf den unvermeidlichen Tod vorzubereiten, zumal sich angebliche Durchbrüche der medizinischen Forschung immer wieder als Fehlschläge herausstellten. Als dann um 1995 mit der Kombination verschiedener Medikamente tatsächlich ein Durchbruch erzielt wurde, hielt er das zunächst für eine weitere falsche Hoffnung. Im Oktober 1996 wurde das erste abendfüllende Stück aus seiner Feder, Shopping & Fucking, im Londoner Royal Court Theatre uraufgeführt. Zu eben dieser Zeit veränderte sich seine Symptomatik dahingehend, daß er offiziell als AIDS-Kranker eingestuft wurde. Aufgrund des stark geschwächten Immunsystems reichte es nicht, sich bestmöglich vor Infektionen zu schützen, die von außen eindringen könnten. Durch seine Abwehrkräfte hält ein gesunder Körper zahlreiche Gefahren in Schach, die sich in seinem Inneren befinden.

Ravenhill unterzog sich der neuen Kombinationstherapie und erfuhr dabei am eigenen Leib, daß es häufig diese starken Medikamente sind, die den Patienten krank aussehen lassen und ihm jenes Erscheinungsbild geben, das Außenstehende mit AIDS assoziieren. Es stellte sich ein dramatischer Gewichtsverlust ein, der anderen Leuten ins Auge stach und bei ihnen Befürchtungen auslöste. Dann wuchs eine starke Ausbeulung am Kopf, die nach einer Reihe von Tests nicht als die zunächst vermutete Toxoplasmose diagnostiziert werden konnte. Daraufhin gingen die Ärzte mit hoher Wahrscheinlichkeit von einem bösartigen Gehirntumor aus und gaben Ravenhill zwischen drei und sechs Monate zu leben - sechs bei Anwendung aggressiver Bestrahlung und Chemotherapie, drei ohne spezifische Behandlung. Das war 1997, also kurz vor dem Ende der ursprünglich veranschlagten Überlebenszeit und damit nach sieben Jahre währender Vorbereitung auf den Tod. Ravenhill entschied sich für die drei Monate, gab eine Abschiedsparty für seine Freunde, machte Frieden mit seiner Familie, ordnete seine Finanzen und plante seine Beerdigung. Doch plötzlich entwickelte sich der vermeintliche Tumor nicht weiter, und da entsprechende Tests negativ ausfielen, wendete man schließlich Medikamente gegen Toxoplasmose an, die tatsächlich anschlugen. Die Ärzte schlossen auf eine Form dieser Erkrankung, für die es eben noch keinen Test gab.

Wie Ravenhill berichtet, stürzte er in seine tiefste emotionale Krise, als er realisierte, daß er nicht sterben würde. Nachdem er alles sorgsam geplant und sich auf den Zeitpunkt des bevorstehenden Todes eingerichtet hatte, sei er nach der erschütternden Wendung buchstäblich auseinandergefallen und habe zum ersten und einzigen Mal Gedanken gehegt, sich das Leben zu nehmen. Seine persönliche Erfahrung sei nur eine Variante dessen, was Tausende HIV-Infizierte in den neunziger Jahren erlebten. Nachdem sie gelernt hätten zu sterben, eröffnete ihnen die Medizin plötzlich die Möglichkeit, weiter zu leben, was oftmals nicht minder dramatisch als ein plötzlicher Tod war.

Zwischen der Krankheit selbst und den Nebenwirkungen der Medikamente zu unterscheiden, ist nahezu unmöglich. Charakteristisch ist beispielsweise Lipodystrophie, bei der die Fettpolster im Gesicht schwinden, das dadurch einen totenschädelartigen Ausdruck annimmt, und Fettanlagerung vor allem im Bauchbereich zunimmt. Ravenhill erhielt Gesichtsfüller - "dieselbe Behandlung wie bei Madonna" - und unterzog sich einer Fettabsaugung, um die Körperform halbwegs zu korrigieren. In diesem Zusammenhang wirft er die Frage auf, welche körperliche Verfassung man eigentlich bewahren wolle. Er sehe mit seinen 45 Jahren eben wie ein Mann mittleren Alters aus, das zu erreichen er früher ausgeschlossen hatte. Hier und da etwas aus dem Leim zu gehen, sei unter diesen Umständen kein Problem. Nach heutigem Stand der Medizin habe er nur eine geringfügig kürzere Lebenserwartung als der Durchschnitt seiner Herkunft und sozialen Umgebung - etwa zehn bis 15 Jahre weniger wegen der HIV-Infektion und der Medikamentierung. Der Statistik zufolge werde er zwischen 65 und 70 Jahre alt, doch wenn er es recht bedenke, gelte das bestimmt nicht für ihn. Wie vor seiner Krankheit sei er heute wieder überzeugt, nie sterben zu müssen.

Joachim Dinse, Mark Ravenhill - Foto: © 2011 by Schattenblick

Ergreifende Schilderung eines Dramatikers aus Berufung
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im anschließenden Zwiegespräch mit dem Psychotherapeuten Joachim Dinse geht Ravenhill zunächst auf dessen Frage ein, ob er sich angesichts seiner erfahrenen Todesnähe und der Rückkehr ins Leben nicht manchmal einsam, seltsam, wie ein Alien fühle. Wer derart tiefgreifende Erfahrungen mache, fühle sich anderen Menschen nicht selten fern, da diesen die emotionale Intensität und weitreichende Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper in der Regel fremd sei. Er habe sich weniger einsam, als vielmehr als etwas Besonderes empfunden, was wohl einmal mehr seiner Arroganz geschuldet war, legt Ravenhill ein ausgeprägtes Selbstbewußtsein an den Tag, das er zugleich zu ironisieren versteht.

Die vollständige Kehrtwende in seinem Leben mußten auch seine Freunde und Angehörigen verkraften, die eben noch Abschied von ihm genommen hatten und sich plötzlich mit einem Überlebenden konfrontiert sahen. Einige fühlten sich ausgetrickst oder verraten, obwohl sie natürlich nüchtern betrachtet wußten, daß es sich nicht so verhielt. Manche ließen den Kontakt Schritt für Schritt einschlafen, andere brachen ihn sofort komplett ab, wieder andere kamen ihm seither viel näher. In dieser Phase hätten sich die Beziehungen zu Freunden und teilweise auch in der Familie dramatisch verändert.

Auf die Anmerkung Dinses, daß es für HIV-Infizierte untypisch sei, relativ angstfrei wie Ravenhill zu leben und sich nicht darum zu scheren, was andere über ihn denken, kommt der Londoner Dramatiker auf seine besonderen Lebensumstände zu sprechen. Angst habe er durchaus empfunden, die jedoch selten der Einschätzung anderer Menschen galt. Er habe das Glück gehabt, in London zu leben, im Theater zu arbeiten und in einer großen schwulen Gemeinde eingebettet zu sein. Angst, anderen von seinem HIV-Status zu erzählen, habe er nicht empfunden. In den damaligen Zeiten des "coming out" habe er mit dem offenen Bekenntnis zu seiner sexuellen Präferenz die Generalprobe für sein späteres Outing als HIV-Positiver bereits hinter sich gehabt. Wenn man einmal den ersten Schrank verlassen habe, verstecke man sich nicht mehr in einem zweiten, so Ravenhill.

Er wisse indessen sehr wohl, daß sich viele Menschen fürchten, ihren HIV-Status offenzulegen. Nachdem Dinse Vernichtungsängste angesprochen hat, die auf befürchteten negativen Reaktionen von Freunden, Angehörigen und Arbeitgebern gründen, kommt Ravenhill auf seine einzig wirklich schlechte Erfahrung zu sprechen. Während er die auffälligen Kaposi-Sarkome an Brust und Unterschenkel durch Kleidung bedecken konnte, führte ein Sarkom, das sich an seinem Gaumen gebildet hatte, bei einer zahnärztlichen Behandlung zum Eklat. Der Zahnarzt sei leichenblaß geworden, habe angefangen zu zittern und geschrien: "Sie haben AIDS! Sie haben AIDS! Ich kann Sie nicht behandeln!" Daraufhin habe er eben den Zahnarzt gewechselt, merkt Ravenhill an, der dies als einzigen Fall regelrechter AIDS-Phobie ausweist, den er persönlich erlebt habe.

Nachdem in den neunziger Jahren immer mehr Heterosexuelle positiv getestet wurden, brach sich die neu aufgestellte Vorwurfslage Bahn, zwischen "guten" Leuten, die durch unglückliche Umstände wie etwa Bluttransfusionen infiziert worden waren, und "schlechten" zu unterscheiden, die man aufgrund ihrer Homosexualität oder ihres vermeintlichen Drogenkonsums der selbst verschuldeten Krankheit bezichtigte. Ravenhill kam in diesem Zusammenhang auf den britischen Comedian Chris Morris zu sprechen, der in den neunziger Jahren diese diffamierende Ausgrenzung aufs Korn nahm und in einem Sketch satirisch "gutes" AIDS mit "bösem" kontrastierte.

Von Joachim Dinse gefragt, was sich für ihn durch die erfahrene Nähe des Todes geändert habe, enthielt Ravenhill sich aller interpretativen Sinnstiftungen. Statt dessen bilanzierte er nüchtern, es falle ihm schwer, gravierende Unterschiede zu anderen Menschen seiner Altersgruppe auszumachen. Allerdings habe er kein Problem damit, offen über Krankheit und Tod zu sprechen, wie er sich auch in Gegenwart von Menschen mit schweren Krankheiten nicht unbehaglich fühle. Nachdem das Narrativ AIDS vordem so klar und eindeutig für ihn gewesen sei, werde er eines Tages woran auch immer sterben. Dies sei eine andere Art von Furcht als früher, als der Zeitpunkt seines Todes so nahe und scharf vorgegeben schien.

Da er Geheimnisse ohnehin nicht gut für sich behalten könne, bleibe ihm mit seiner Theaterarbeit und der journalistischen Tätigkeit ein breites Feld, sich mitzuteilen. Zwar gebe es durchaus etwas Spezielles, das er womöglich nie vollständig kommunizieren könne, doch verschaffe ihm das andererseits Stoff für ein ganzes Schriftstellerleben, bot Ravenhill nicht zum ersten Mal in seinen Ausführungen Raum für ein befreites Lachen seiner Zuhörer, denen er wiederum jeden Anflug von Beklemmung nahm.

Zugleich zeigte er sich bemüht, auch den Erfahrungen anderer Gehör zu verschaffen, und schlug seinem Gesprächspartner vor, doch näher auf typische Charakteristika im Leben AIDS-Kranker einzugehen. Der Psychotherapeut nannte in diesem Zusammenhang insbesondere die Furcht, vom Umfeld als Infizierter entdeckt und buchstäblich vernichtet zu werden. Dem schloß sich Ravenhill mit der Einschätzung an, daß HIV und AIDS durch die neuen Medikamente zwar nicht völlig unter Kontrolle gebracht würden, jedoch gemessen an den achtziger und frühen neunziger Jahren eine bedeutsame Veränderung eingetreten sei. Die Wahrnehmung habe sich von einem rein medizinischen in Richtung eines sozialen Problems verlagert. Viele Erkrankte hielten ihren Status nach wie vor geheim, nicht selten sogar vor ihrem Partner, woraus zwangsläufig tiefgreifende soziale Probleme der Furcht und Isolation resultierten.

Bruce LaBruce - Foto: © 2011 by Schattenblick

Bruce LaBruce
Foto: © 2011 by Schattenblick

Unterdessen hatte sich Bruce LaBruce der Runde angeschlossen, der unter anderem auf einen juristischen Aspekt zu sprechen kam. Er berichtete von einem Freund in Toronto, der unter dem Vorwurf angeklagt wurde, er habe seinen HIV-Status bei einem flüchtigen sexuellen Kontakt verschwiegen. Da kontrovers eingeschätzt wird, wie das Infektionsrisiko bei verschiedenen Praktiken zu bewerten sei, stand ein richtungsweisender Prozeß mit einem Grundsatzurteil in Aussicht. Die Staatsanwaltschaft stellte jedoch das Verfahren ein, so daß es zu keiner rechtlichen Klärung kam, unter welchen Umständen man von einem zu vernachlässigenden Risiko ausgehen könne.

Vieles weitere wäre an dieser Stelle zu erörtern und kritisch auszuleuchten gewesen, das den thematischen Rahmen gesprengt und insbesondere den sozialen Konflikten jener Mehrheit HIV-Infizierter breiteren Raum gegeben hätte, die in weitaus ungünstigeren Lebensverhältnissen mit dieser nach wie vor stigmatisierenden Krankheit konfrontiert werden. Mark Ravenhill selbst ließ keinen Zweifel daran, in welchem Maße ihm sein Beruf und Umfeld eine Sonderstellung verschaffen, die man nicht unbesehen auf andere Menschen übertragen könne. Indessen öffnete seine Gabe, die extremen Verwerfungen seiner Lebensgeschichte ohne Bitterkeit oder triumphalen Überschwang mit wohldosierter Selbstironie - vor allem aber nie moralisierend - darzulegen, den Blick auf eine Erfahrungswelt, die nach wie vor in hohem Maße tabuisiert und ausgegrenzt wird.

Zu "Die Untoten" bisher erschienen:

BERICHT/003: "Die Untoten" - Pressegespräch zu Kongress & Inszenierung vom 12.-14.5.2011 auf Kampnagel (SB)
BERICHT/004: "Die Untoten" - Im Stahlbad der transhumanistischen Optimierungsdoktrin (SB)
BERICHT/005: "Die Untoten" - Wachkoma, ein Widerspruch in sich (SB)
BERICHT/006: "Die Untoten" - Roboter - reprojektiver Entwurf menschlichen Scheiterns (SB)
BERICHT/007: "Die Untoten" - Wachkoma - ein Film erzählt (SB)
BERICHT/008: "Die Untoten" - Altern eine Krankheit? (SB)
INTERVIEW/001: "Die Untoten" - Matthias Zerler kämpft für Wachkoma-Patienten (SB)

Plakat zur Veranstaltung - Foto: © 2011 by Schattenblick


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24. Mai 2011