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ENGLISCH/905: Britain today (46) Der unaufhaltsame Aufstieg des HT-Sandwich (SB)


Wie der Earl of Sandwich die    B R I T I S C H E    F A S T    F O O D - T R A D I T I O N    begründete


oder Der unaufhaltsame Aufstieg des Sandwich zur HighTech Home Meal Replacement-Technologie



Als sich der vierte Earl of Sandwich vor etwa 250 Jahren ein zwischen zwei Brotscheiben eingeklemmtes Bratenstück an den Spieltisch bringen ließ, um die Partie wegen eines aufkommenden Hungergefühls nicht unterbrechen zu müssen, hätte er sich sicher nicht träumen lassen, welche Folgen dieser Akt praktischer körperlicher Bedürfnisbefriedigung haben würde. Nicht nur, daß vielleicht mit der überaus funktionalen Rationalisierungsmaßnahme ein Grundstein für Finger- und Fast food und damit für den schlechten Ruf der britischen Küche gelegt wurde, die bis heute mit dem Vorurteil des quasi angeborenen schlechten Geschmacks zu kämpfen hat, begann auch das herzogliche Butterbrot nach seiner Einführung in englischen Adelskreisen und bei Hofe seinen Siegeszug um die Welt.

Das echte "Great British Sandwich" nimmt dabei bis heute nach dem Motto: "Oben nichts, unten nichts und dazwischen möglichst viel Garnitur" einen ganz besonderen Stellenwert ein. Selbst das völlig geschmacklose, aber extrem weiche (Toast)Brot wurde in vielen Ländern mehr oder weniger erfolgreich kopiert, um dem echten Sandwich die nötige Grundlage zu sichern.

Wachstumsraten von mehr als acht Prozent sagen Fachleute dem Sandwichmarkt in Europa für die nächsten Jahre voraus. Nicht einmal vor den anspruchsvollen Küchen und Haushalten Frankreichs mache der angelsächsische Kulturimport Halt, hieß es einmal in der Süddeutschen Zeitung, obwohl dort doch das Baguette noch immer einen gewissen Heimvorteil genießt.

Dem Baguette gegenüber, das selbst in hygienischer, luftdichter Folienverpackung relativ rasch pappig wird, hat die Sandwichgrundlage den enormen Vorteil, es bereits von Beginn an zu sein.

Das Sandwich als solches konnte sich in der englischen Alltagskultur längst fest etablieren. Jeder Angestellte pflegt die bereits daheim gefüllte Sandwich-Box zur Arbeit mitzunehmen. Und weil das Brot in Großbritannien nun einmal vorwiegend nach nichts schmeckt, kommt es in erster Linie auf die Füllung an. Die britische Hausfrau ist hier in Sachen Konfektionierung und rationeller Fertigung von Pausenbrotstapeln für die ganze Familie sehr innovativ.

Besonders raumsparend erweist sich die Lagerung, wenn die Lunchpakete nach neubritischer und seit Erfindung der Tiefkühltruhe unumgänglicher Art vorsorglich auf Monate hinaus gestrichen, geschnitten, in Plastikfolie verpackt und eingefroren werden. Auf diese Weise lassen sich Sonderangebote für Schinken, Stangenei, Käse oder Gemüse am besten nutzen. Durch mehrfache Auftau- und Gefriervorgänge reduziert sich der Umfang des belegten Brotes bei gleichbleibend niedrigem Nährwert auf ein Zehntel seines ursprünglichen Umfangs. Das spart Platz in der Dose und schafft ein gutes britisches Gefühl, möglichst wenig zu sich genommen zu haben.

Ein Problem dabei stellen allerdings die Tomaten, Gurken oder das gleichfalls traditionelle Sandwich-Salatblatt dar. Besonders im tiefgefrorenen Zustand geht das ohnehin schnell welkende Salatblatt von einem weichen, lappigen in den Zustand der Auflösung über. Doch mit diesem Problem steht die Hausfrau nicht allein. Auch die konkurrierenden Industrie-Sandwiches, die maschinell von Robotern erzeugt werden und direkt am Arbeitsplatz aus Automaten gezogen werden können, haben Schwierigkeiten mit diesem wichtigen Bestandteil: So vermag der Robotergreifarm das Grünzeug nicht zu fassen. Auch Tomaten überfordern die Automaten - im Gegensatz zu Butter, die gesprüht, oder zu Eiern, die aus Stangenei geschnitten und zu Schinken oder Käse, die einfach nur gehobelt werden.

Deshalb wollten deutsche Sandwich-Nachahmer im Bestreben, eine Lagerfähigkeit von mindestens zehn Tagen zu erreichen, bei dem auch das frischeste mit Glycerin aufgepeppte Celluloseskelett des Salatblattes versagen muß, auf den grünen Lappen ganz verzichten. Doch ohne dieses Element vermeintlich pflanzlicher Frische wäre das Great British Sandwich einfach nicht komplett. Eine Nachbesserung wäre wünschenswert, nur wie ...?

In punkto Sandwich lassen sich die Briten ohnehin nicht so schnell die Butter vom Brot nehmen, selbst wenn sie noch keine Lösung für das Salatproblem haben: Jahr für Jahr treffen sich die Hersteller von Sandwich-Zutaten und -maschinen in London zur zweitägigen "Total Sandwich Show" und zeigen, daß es zwischen zwei übertrieben weichen Weißbrotscheiben mehr geben kann, als Schinken, Hühnchen und Salat.

Dort führen dann Fernsehköche auf einer kleinen Bühne der Olympia-Messehalle neue Zubereitungsmethoden oder Geschmackskombinationen vor. Ein weiteres Seminarprogramm behandelt die kommerziellen Aspekte des Zivilisationsphänomens HMR - im Klartext: "Home Meal Replacement", wie man die komplette Bankrotterklärung der britischen Küche unter den Lebensbedingungen der modernen Arbeitswelt auch nennen könnte.

Alles fing etwa 1982 an, als die bekannte britische Supermarktkette Marks & Spencer damit begann, die ersten fertig verpackten Sandwiches auszuliefern, während Margaret Thatcher gerade dabei war, die Mittagspause ganz abzuschaffen, in der sich die Briten nur allzu gerne in die zahlreichen Pubs verdrückten, um dort ihre Lunch-Vouchers (eine Art Essensgutschein) in Flüssignahrung umzusetzen. Die Aktion war ein voller Erfolg, denn inzwischen stehen viele britische Pubs - vor 30 Jahren noch undenkbar - vor dem finanziellen Ruin.

Während also der Weg in den Pub abgeschnitten wurde, die damals grassierende Rezession daneben aber auch viele Firmen zur Schließung der betriebseigenen Küchen und Kantinen zwang, demonstrierte der Sandwich-Spezialist Bill Gates der ganzen Welt, wie weit man es bringen kann, wenn man sein Butterbrot allein am Schreibtisch neben der Arbeit zu sich nimmt, statt mit anderen im Park oder Pub.

Auf diese Weise salonfähig geworden, nahm das Sandwich eine Entwicklung, die nicht mehr mit dem Pausenbrot aus der Lunchbox zu vergleichen war: Das Neue an den von Marks & Spencer lancierten Frühstücksbroten bestand allerdings in der industriellen Serienproduktion. Da - wie schon erwähnt -, der britische Angestellte an Brot und Belag wenig Ansprüche stellt, war es für die Kreativität der Sandwichdesigner keine besonders schwere Aufgabe, die gewohnte und tiefgekühlte Home made-Sandwich Box geschmacklich zu überbieten.

Kein Wunder, daß Klassiker wie "BLT" (Bacon, Lettuce, Tomato bzw. Schinken, Salatblatt, Tomatenscheibe) oder "Coronation Chicken" kaum noch im Angebot zu finden sind. In den Kühlregalen mehren sich raffiniert gestylte Zeitgeistprodukte in (durch die italienischen Tramezzini und diagonaler Schnittführung) populär gewordener Dreieckform wie "Avocado mit Mozzarella und gerösteten Pinienkernen" oder "Ziegenkäse mit rosa Pfeffer und Rucola". Lachs wird mit allerlei Honigarten versüßt, Thunfisch, Kresse und Crevetten gehören längst zum Stammbelag, und die einst flauschig weiße Brotunterlage wird in immer neuen Bio-Varianten angeboten: mit Körnerschrot, Röstzwiebeln oder Sesam.

Solche lukullischen Meisterwerke sind dem Supermarkt-Ambiente allerdings schon längst entwachsen, der Kulturwert eines modernen Sandwich wird nunmehr durchaus über dem Fish-and-chips-, Döner- oder Currywurst-Niveau liegend eingeschätzt, was einen anspruchsvolleren Rahmen rechtfertigt, wie die exklusive Sandwich-Bar an der Ecke - bzw. in London inzwischen an beinahe jeder Ecke des hektischen Geschäftsstadtlebens. Das Umsatzvolumen des britischen Sandwichmarkts wird heute auf etwa zehn Milliarden Euro geschätzt.

Trotz weiterer Massenkonfektionierung bleibt der kometenhafte Aufstieg des Sandwich zum Statussymbol einer avangardistischen Eßkultur noch ungebrochen.

In London hat der Drei-Sterne-Koch Marco Pierre White für die Marke "Earl of Sandwich" (die Firma befindet sich wahrhaftig im Besitz des elften Earls of Sandwich John Montagu) eine Kollektion exquisiter Klappstullen kreiert. Kaufen kann man sie unter anderem im berühmten Luxusfeinkost-Supermarkt "Fortnum and Mason".

Die Zukunft des Sandwichs liegt allerdings nach wie vor in seiner hochtechnologischen, hygienisch-sterilen industriellen Fertigung, wie sie angeblich nach mehreren Lebensmittelskandalen auf der britischen Insel vom qualitätsbewußten Verbraucher eingefordert wird. Auf der Total Sandwich Show konnte man denn auch die fortschreitende Mechanisierung - vom lasermäßig gebündelten Wasserstrahl, der das Weißbrot schneidet, über verschiedene Belagverteilungsaggregate und Plastikeinschweißmodule bis hin zu hochsensitiven Metalldetektoren, die in den fertigen Packungen nach verbliebenen Metallteilen wie Fischhaken, Dosenspäne und Klingenstücken suchen.

Ob allerdings die derzeit in Großbritannien als Speerspitze des Fortschritts geltenden Verkaufsautomaten, die frisch getoastete Sandwichs in 70 bis 90 Sekunden nach Geldeinwurf auswerfen, ebenfalls den Hygieneanforderungen des anspruchsvollen Kunden genügen, sei dahingestellt. Schließlich bleibt der Frischezustand der in den Kühlkammern des Apparats lagernden Zutaten dem Auge des Betrachters verborgen.

Für Europäer bliebe das ein Hort steten Argwohns. Doch auch das industriegefertigte Sandwich will sich auf dem Kontinent nicht so durchsetzen. Der deutsche Handel setzt auf Frische, und die Nachfrage an fertig gestrichenen Klappstullen ist hierzulande nur begrenzt. Während die Sandwichregale in englischen Supermärkten täglich frisch gefüllt werden (und oft sogar die Uhrzeit der Herstellung mit auf die Packung gedruckt wird), liegt die Ware in deutschen und französischen Geschäften bis zu zehn Tage lang.

Hier könnte vielleicht eine mit Mitteln des US-Verteidigungshaushalts entwickelte Hi-Tech-Version des Sandwich Abhilfe schaffen, das nach Angaben des US-Militärs ohne Kühlung mindestens zwei Jahre lang haltbar bleibt. Pfui Spinne...!

Auch zum Trick der Gefriertrocknung (eine Technik zum Wasserentzug) will man für das Produkt nicht gegriffen haben, weshalb der Snack ohne vorheriges Einweichen (sonst typisch für Militärkostverpflegung) genossen werden kann.

Die Lebensmitteltechniker betonen die Nutzung "natürlicher" Konservierungsmittel wie Honig, Zucker und Salz, basierend auf der der alten Erkenntnis, daß Bakterien und andere Keime für einen Großteil der Zerfallsprozesse in Lebensmitteln verantwortlich sind, die Wasser für ihr Wachstum benötigen, was sich auf diese Weise an hygroskopische Stoffe (wie Salz oder Zucker) binden läßt. Es würde dann nicht mehr für das Keimwachstum zur Verfügung stehen.

Doch schon der zweite, für das Keimwachstum begrenzende Faktor, Sauerstoff (O2) soll in dem luftdicht verpackten Sandwich durch eine Packung Eisenspäne gebunden werden, die durch ihre große Oberfläche leicht oxidieren. Nun ja...

Was allerdings durch die Bindung von Wasser und Sauerstoff nicht verhindert werden kann, sind jene bereits beschriebenen Auflösungs- oder Zerfallsprozesse, die nicht in Pilzen, Hefen oder Bakterien ihre Ursache haben, sondern in den Nahrungsbestandteilen z.B. dem Salatblatt selbst, dessen lappige Struktur sich bei gelungener Lagerung dann spätestens nach Öffnen der Packung rasant verflüssigt. Laut Telepolis vom 9. Dezember 2011 gaben befragte Soldaten an, das haltbare Sandwich schmecke besser als die Dinge, die sie sonst in fertigen Einmannverpflegunspackungen vorfinden. Das läßt tief blicken...

Was also noch aus der importierten britischen Eßkultur in aller Welt entsteht, übertrifft alle Vorurteile. Wohl bekomm's...


13. Dezember 2011