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BUCHBESPRECHUNG/009: Gershom Scholem - Von Berlin nach Jerusalem (SB)


Gershom Scholem


Von Berlin nach Jerusalem

Jugenderinnerungen



Gershom Scholem wurde am 5.12.1897 in Berlin geboren. Bereits 1923 ging er nach Palästina, wo er den Vornamen Gershom annahm (sein Geburtsname war Gerhard Scholem). Bis zu seinem Tod 1982 lebte er in Jerusalem.

Im hier vorliegenden, autobiographischen Buch berichtet er aus seiner Jugendzeit in Berlin und den ersten Jahren in Palästina. In seinen detailierten Erinnerungen, die er in erster Linie an die Begegnungen mit verschiedenen Menschen knüpft, schildert er das deutsch-jüdische und osteuropäische Milieu in seinen verschiedenen Ausprägungen und Erscheinungsformen, die es zu Anfang unseres Jahrhunderts in Berlin angenommen hatte.

Seine Berichte wirken sehr lebendig, da von der ersten Seite an deutlich wird, daß Gershom Scholem seine Kenntnisse über Milieu, Charaktere und Weltanschauungen nicht aus historischen Studien schöpft, sondern aus dem eigenen Erleben unzähliger Gespräche im Familien- und anwachsenden Bekanntenkreis. Durch den persönlichen Blickwinkel, den er bei allen Gesprächen und politischen Betrachtungen einnimmt, agiert er weniger als Historiker, sondern als "Zeitzeuge", der vor dem Hintergrund historischer Umwälzungen (Erster Weltkrieg, Märzrevolution in Rußland) auch immer wieder Einzelheiten zu Fragen des Zionismus und Diskussionen über den Krieg anspricht.

Als überzeugter Vertreter des Zionismus steht Scholems Ziel, die Übersiedelung nach Palästina, schon sehr früh fest. Nicht allerdings die Richtung, die er selbst in seinem Leben einschlagen möchte. Seine Neigungen sind genauso die Mathematik, wie "alles Jüdische", und er zieht in Erwägung, einmal als Mathematiklehrer an eine Schule nach Palästina zu gehen. Er lernt intensiv Hebräisch und allmählich kristallisiert sich bei ihm der Traum einer Wiederbelebung des Judentums in Palästina heraus.

Seine immer besser werdenden Kenntnisse des Hebräischen ermöglichen ihm, sich mit dem umfangreichen Material jüdischer Philosophie in hebräischer Sprache zu befassen. Er liest nicht nur Bibel und Talmud, sondern auch - mit zunehmender Vorliebe - gerade die Schriften, die von den Rabbinern nicht anerkannt werden und daher von der philosophisch-wissenschaftlichen Welt unbeachtet blieben. Er erwirbt alte, seltene Schriften zu Spottpreisen, da sich kein Mensch für sie interessiert und vertieft sich immer stärker in die jüdische Mystik: die Kabbala. Seine intensiven Studien machen ihn schließlich selbst zum Gelehrten und zu einer Kapazität unter denen, die er in der vorherigen Generation als Autoritäten betrachtet hat. Gershom Scholem gilt anderen später als derjenige, der mit der Kabbala einen gewaltigen Bereich jüdischen Denkens wiederentdeckt und neu zugänglich gemacht hat. Wer heute unter dem Stichwort "Kabbala" forscht, kommt um seinen Namen nicht herum.

Gershom Scholem kokettiert nicht mit seinen Fähigkeiten, stellt sein Licht jedoch auch ganz gewiß nicht unter den Scheffel. Er hat ein ungekünsteltes, klares Einschätzungsvermögen seiner eigenen Fähigkeiten und Engen sowie der Rolle, die er für andere spielt. Er hat nicht die geringste Schwierigkeit auszusprechen, wer ihn selbst beeindruckt, von wem er gelernt hat und wem er warum besonders nahe steht. Freilich ist es nicht so, daß alle Personen und Persönlichkeiten, die Scholem erwähnt, dem heutigen Leser bekannt oder gar vertraut sind. Generationen und sicher auch Interessengebiete liegen als trennende Momente dazwischen; letzteres, da er selbstverständlich von den Menschen schreibt, die für sein Leben, seinen Beruf und seine politische Entwicklung prägend, inspirierend oder wegweisend waren und mit denen er in lebhafter Auseinandersetzung stand. Die noch heute bekanntesten sind wahrscheinlich Walter Benjamin und Martin Buber.

Daß er mit seiner "spitzen Zunge" und Direktheit nicht unbedingt ein bequemer Zeitgenosse war, läßt sich leicht ahnen. Besonders deutlich wird diese Eigenart beim Zusammenprall mit dem Militär. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs war er 17 Jahre alt und als strikter Kriegsgegner ein Außenseiter - sogar in zionistischen Kreisen. Wegen dieser Haltung - aus der er nie einen Hehl machte - flog er von der Schule und konnte sein Abitur nur noch durch einen besonderen Kniff machen. Von seiner Militärzeit schreibt er, daß sie "kurz und stürmisch" verlief. Da er sich gegen alles auflehnte, was er dort erlebte, hatten seine Vorgesetzten nur die Wahl, ihn vor ein Militärgericht zu stellen oder für geisteskrank zu erklären. Sie entschieden sich für letzteres, was dazu führte, daß Gershom Scholem nach nur zweimonatigem Militärdienst als "Psychopath" aus der Armee entlassen wurde.

Dieses kompromißlose Temperament wirkt sich auf Scholems Leben aus, und ist in seinem Schreibstil spürbar, der auch bei komplizierten Sachverhalten und einer Neigung zu langen Sätzen stets klar und eindeutig ist. Er erweckt den Eindruck eines Menschen, der schon sehr früh klare Ideale und Ziele hatte.

Obgleich sich die hier vorliegende Übersetzung der hebräischen Neufassung "Von Berlin nach Jerusalem" im Gegensatz zu ihrem deutschen Original nicht vordringlich an eine Leserschaft in Deutschland richtet, reißt Scholem doch so viele Namen, Themen, Begegnungen und Ereignisse an, daß er auch dem deutschen Leser eine ganz neue, alte Welt erschließt. Besonders im umfangreichen ersten Teil vor seiner Ausreise nach Palästina, stellen sich die Beschreibungen ein bißchen wie das "who is who" in der jüdischen Welt dar, die damals in Berlin zusammenkam. Aus deutschem Mund klingt das vielleicht seltsam, doch es ist erstaunlich zu sehen, wie enorm groß, vielfältig und kulturell prägend das deutsch- jüdische Leben im Berlin zur Zeit vor dem Ersten Weltkrieg gewesen ist. Diese Tatsache ist "Nachgeborenen", selbst mit guten Kenntnissen der Politik des Dritten Reichs und des sog. Holocaust möglicherweise nicht in der hier beschriebenen Weise bekannt.

Durch das große Gewicht, welches hierzulande begreiflicher Weise auf eine geschichtliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und seiner "Endlösung" gelegt wird, gerät der Antisemitismus, der bereits fünfzig Jahre früher in Deutschland (und Europa) zutage trat, leicht in Vergessenheit. In seinen Jugenderinnerungen führt Scholem dieses Leben wieder vor Augen und ruft gerade auch deutschen Lesern und Leserinnen damit ganz nebenbei ins Gedächtnis, wie sehr sich Deutschland mit seiner Feindseligkeit beschnitten hat, die schon vor der "Endlösung" des Nationalsozialismus tausende Menschen zur Auswanderung trieb.

Heute spricht man so gern von einer 'homogenen' Gesellschaft. Übersetzt man dieses Wort, bedeutet es etwa: gleich-geworden. Diese "Gleichartigkeit" wurde in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts in Deutschland angestrebt - auf welche Weise, ist bekannt. Auch wenn es nicht das Hauptanliegen Gershom Scholems ist, dies darzustellen, so gibt er doch Zeugnis davon, indem er beschreibt, wie sich sein Leben - stellvertretend für das vieler jüdischer Bürger - von Berlin nach Jerusalem verlagert hat.

Leseprobe:

(Zeitraum 1917, Scholem studiert Mathematik, lernt privat Hebräisch und beschäftigt sich mit dem Zionismus.)

Mein Vater war von diesen Neigungen nicht angetan. Auch in meiner Gegenwart beschwerte er sich gern:
"Mein Herr Sohn betreibt lauter brotlose Künste. Mein Herr Sohn interessiert sich für Mathematik, für reine Mathematik. Ich sage zu meinem Herrn Sohn: Was willst du? Als Jude hast du keine Chance auf eine Universitätslaufbahn. Du kannst keine bedeutende Stellung bekommen. Werde Ingenieur und geh auf die Technische Hochschule, da kannst du soviel Mathematik in deinen Mußestunden machen, wie es dir paßt. Nein, mein Herr Sohn will nicht Ingenieur werden, nur reine Mathematik. Mein Herr Sohn interessiert sich für Jüdischkeit. Ich sage zu meinem Herrn Sohn: Bitte, werde Rabbiner, da kannst du soviel Jüdischkeit haben wie du willst. Nein, mein Herr Sohn will auf gar keine Weise Rabbiner werden. Brotlose Künste."
Das war die Stellung meines Vaters, der 1925, wenige Monate, bevor ich in Jerusalem für diese jüdischen brotlosen Künste an die Universität berufen wurde, starb. (S. 71)

Sein Vater setzt ihn vor die Tür und Scholem fristet seinen Lebensunterhalt als Übersetzer. In der Pension, in der er anschließend lebt, ist ein Redakteur namens Salman Rubaschow (im Buch auch Rubaschoff) sein Zimmernachbar. In diesem Zusammenhang erzählt Scholem folgende Episode.

Kaum stand fest, daß ich in die Pension Struck übersiedeln würde, machte Rubaschow sich Sorgen, wie ich nun durchkommen solle. [...] Er kam zu mir und sagte:
Wir haben die Lösung gefunden! Gerade ist in New York die zweite verbesserte Auflage des Gedenkbuchs für die vor dem [Ersten] Weltkrieg in Palästina auf der Wacht der jüdischen Siedlungen Gefallenen, die alle der zionistischen Arbeiterbewegung angehörten, erschienen, und wir haben ein Exemplar bekommen. Jetzt haben einige Genossen, die 1915 von den Türken ausgewiesen wurden, weil sie keine ottomanischen Bürger werden wollten, es auf jiddisch sehr erweitert herausgegeben. Sie sind der Mann, der eine Auswahl daraus ins Deutsche übersetzen muß! Buber wird die Vorrede schreiben (bei Buber hieß so etwas

Geleitwort"). Wir haben schon einen Verlag, [...]." Sein Angebot war verlockend, aber ich hegte auch meine Zweifel. Ich sagte zu Rubaschow: Aber wie soll ich denn aus dem Jiddischen übersetzen? "Was, Sie haben doch gerade erst vor zwei Monaten den Alexander Eliasberg [...] in der "Jüdischen Rundschau" wegen seiner schaurigen Übersetzung aus dem Jiddischen vernichtet!" Ja, sagte ich, das ist doch etwas anderes. "Unsinn", sagte Rubaschow, "Sie können Hebräisch, das weiß ich, und können also die ursprünglich hebräisch geschriebenen Aufsätze aus dem Original übersetzen. Daß Sie Deutsch können, brauchen Sie mir nicht zu beweisen. Mittelhochdeutsch haben Sie auf dem Gymnasium gelernt, wozu haben Sie mir denn Walther von der Vogelweide deklamiert!? Und die slawischen Worte fragen Sie eben mich; dazu wohnen wir ja nebeneinander. Da haben Sie also Ihr Jiddisch." So widmete ich denn fast drei Monate lang täglich drei Stunden dieser Arbeit, meiner ersten, 1918 anonym erschienenen Buchveröffentlichung: "Jiskor - ein Buch des Gedenkens an gefallene Wächter und Arbeiter im Lande Israel. Deutsche Ausgabe." (S. 99-100) [Anm.: Die Texte, die übersetzt werden sollten, stammten zum großen Teil von dem damals - außerhalb seiner Partei - völlig unbekannten David Ben Gurion, dessen erster Übersetzer Scholem auf diese Weise wurde. Sein Zimmernachbar, Salman Rubaschow, wurde später als Schneur Salman Schasar Staatspräsident von Israel.]

Die Erstausgabe dieses Buches erschien 1977 in der Bibliothek Suhrkamp, die erweiterte hebräische Fassung 1982 unter dem Titel "Mi-Berlin l-Irushalayim. Sichronoth ne'urim" im Verlag Am Oved, Tel Aviv. Das hier vorgelegte Buch vereint das deutsche Original und seine hebräische Bearbeitung, die deutsche Bearbeitung und das hebräische Original. Hier zum ersten Mal in deutscher Übersetzung.


Gershom Scholem
Von Berlin nach Jerusalem - Jugenderinnerungen
suhrkamp taschenbuch, 1. Auflage, 1997
(c) der hebräischen Ausgabe 1982
Verlag Am Oved, Tel Aviv
(c) der deutschsprachigen Ausgabe 1994
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
254 Seiten, incl. Nachwort der Übersetzer