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REZENSION/003: Arthur Rimbaud - Sämtliche Dichtungen (Französisch/Deutsch) (SB)


Arthur Rimbaud


Sämtliche Dichtungen

Zweisprachige Ausgabe



Rimbaud und das Reich der Hoffnungen, Wünsche und Vermutungen...

Das vorliegende, bei dtv bereits in 3. Auflage erschienene Werk umfaßt Rimbauds sämtliche Dichtungen (zum "Aufenthalt in der Hölle" zusätzlich die Entwürfe) sowie die zwei vielerwähnten sogenannten "Seher-Briefe", in denen Rimbaud, gerichtet an Georges Izambard und Paul Demeny, sein Konzept einer neuen Dichtung darlegt. Zu der Zeit, Mai 1871, ist er sechzehneinhalb Jahre alt. Aus dem Französischen übersetzt und mit aufschlußreichen Anmerkungen sowie einem Nachwort herausgegeben, wurde es von Thomas Eichhorn; für die Übersetzung der "Illuminations" zeichnen Reinhard Kiefer und Ulrich Prill verantwortlich.

Auch mehr als 150 Jahre nach seinem Tod bewegt dieser Autor beziehungsweise das, was man in sein Werk hineinliest, die Gemüter. Nicht wenige Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Poeten sahen und sehen sich veranlaßt, in der einen oder anderen Form zu Dichter und Werk Stellung zu nehmen und seine Aktualität sowie Bedeutung zu betonen. Sei es, daß in seinem Gedicht "Demokratie" Parallelen zum Überfall auf Bagdad entdeckt werden oder die neue, noch bessere Übersetzung entsteht. Während die Interpretation, man habe es mit einer Poesie von kosmischem Ausmaß zu tun, heute vielleicht zugunsten zumindest erklärtermaßen entmystifizierender Lesarten in den Hintergrund tritt, fehlt eigentlich immer noch der nüchtern analysierende Blick auf Leben und Werk. Der Reiz, die eigenen Hoffnungen und Sehnsüchte auf Rimbauds größtenteils sehr persönliche, expressive und mit hohem Anspruch vorgetragene Dichtung in Verbindung mit seinem exzessiven Lebensstil zu projizieren, scheint noch immer größer. Auch der Schluß, es handle sich - zum Teil zumindest - um Dichtungen, die auf der rein lautlichen Ebene ihren Sinn und ihre Wirkung entfalten, führt in eine Sackgasse. Sie sind schon inhaltlich gemeint.


Biographisches

Genauso wie die "Seher-Briefe" als unabdingbar für das Verständnis der Rimbaudschen Dichtung angesehen werden, so unverzichtbar ist auch die Kenntnis einiger Kerndaten seiner Biographie:

Jean-Nicolas-Arthur Rimbaud wird am 20. Oktober 1854 in Charleville in den französischen Ardennen geboren. Sein Vater, ein Offizier, verläßt die Familie, die Mutter zieht ihn und seine drei Geschwister allein groß. Arthur gilt als hochbegabt, gewinnt Schulpreise, überspringt ein Jahr - ein Musterschüler zunächst. Verbunden mit der gründlichen französischen Schulbildung jener Zeit, die viel Wert auf Sprache, Sprachen und Literatur legt, erklärt dies schon einen Teil seiner heute als erstaunlich geltenden sprachlichen Leistungen. Der frühe Erfolg motiviert: Im Alter von 13 Jahren verfaßt Rimbaud einen Gratulationsbrief in lateinischen Hexametern zur Erstkommunion des Kronprinzen, gewinnt ein Jahr später einen schulischen Gedichtwettbewerb mit einem, ebenfalls auf lateinisch verfaßten, Gedicht. Hinzu kommen Neigung sowie Förderung durch seinen Lehrer Georges Izambard, der selbst dichterische Ambitionen hegt und ihn mit umfassender Literatur versorgt, die von der Kabbala über die Klassiker und die Zeitgenossen bis zu den Sozialisten reicht. Dieser macht ihn auch später mit dem Dichter Paul Demeny bekannt, dem Adressaten des zweiten Seher-Briefes.

Im Mai 1870, also im Alter von 15, versucht Rimbaud, von sich überzeugt, Kontakt zum Dichterkreis der damals tonangebenden "Parnassien" aufzunehmen. Er schreibt an Théodore de Banville, den Kopf dieses Pariser Literatenkreises, bietet seine Gedichte zur Publikation an, erhält jedoch keine Antwort. Abgesehen davon, daß er sich zu sozialistischem Gedankengut hingezogen fühlt, prägt möglicherweise auch die Enttäuschung seine später sehr kritische Haltung gegenüber den Dichtern der traditionellen Schule, die Dichtung als einen subjektiven, dem Genie entspringenden Akt verstehen, der mit der niederen Wirklichkeit nichts zu tun hat. Mehrfach reißt Rimbaud aus in Richtung Paris, erhält schließlich doch Zugang zum oben erwähnten Dichterkreis, dem er sich als begabter Flegel und Bürgerschreck präsentiert und Lesungen mit unflätigen Zwischenrufen stört. Aus dem Kontakt zum etwa zehn Jahre älteren Paul Verlaine erwächst später eine intime und konfliktgeladene Freundschaft.

Rimbaud stellt sich gegen die etablierte Gesellschaft, wendet sich ab von der traditionellen Dichtung und überschüttet diese mit Spott, Ekel, Umgangs- und Fäkalausdrücken. Dabei zeigt er, daß er der klassischen Formen - des Sonetts zum Beispiel - durchaus mächtig ist. Abgesehen von den üblichen, hier frech gefärbten, Liebes- und Naturgedichten, schildert er Unterdrückung und Elend von Arbeitern und Bauern in wenig beschönigenden Worten und gibt einen Ausblick auf eine von Ausbeutern befreite Gesellschaft:

Oh! all die Elenden, die immer weiter laufen,
Denen die Sonne grausam ihren Rücken schmort,
Die spüren, wie bei ihrer Fron ihr Kopf verdorrt ...
Hut ab, Bourgeois! Oh! das sind Menschen, die dort stehen!
Wir sind Arbeiter, Herr, Arbeiter! Wir begehen
Die neue große Zeit, die uns das Wissen bringt,
Wo man vom Morgen bis zur Nacht den Hammer schwingt,
Wo wir, die Menschen, Taten und Gedanken jagen
Und, langsam sie erobernd, alle Dinge wagen
Und sie beherrschen, meistern, zähmen wie ein Pferd!
Nichts Böses mehr! Oh! heller Schein beim Schmiedeherd!
- Nichts wissen, das wär furchtbar, wenn's so bliebe:
Wir werden wissen! - Wir schlagen es durch unsre Siebe,
Das, was wir wissen müssen: Brüder, geht voran!
- Und manchmal hält uns jener große Traum in Bann,
Einfach zu leben, voller Leidenschaft, und keinen
Tag verfluchend, arbeitend unter einem reinen
Lächeln der Frau, die man mit rechtem Sinne liebt:
Wir würden stolz die Arbeit tun, die es dann gibt,
Die Pflicht vernehmend, als ob Hornsignal erklänge:
Und würden glücklich sein, sehr glücklich; niemand zwänge,
O nein, wahrhaftig!, niemand knechtete uns mehr!
Wir hätten über unsrem Ofen ein Gewehr ...

[S. 43, "Der Schmied"]


Auch im Hungerwinter 1870/71 befindet sich Rimbaud kurz im von den Preußen seit Monaten belagerten Paris, das vom Bürgertum bereits im Sommer verlassen wurde, die Regierung Thiers verhandelt mit Bismarck über die Kapitulation. Tausende Menschen sterben infolge von Hunger und Kälte; die Wut auf Regierung und Bourgeoisie, denen es allzu offensichtlich nur um die eigene Haut geht, wächst zur Revolte. Freiwillige greifen zu den Waffen, um Paris zu verteidigen, auch Rimbaud soll zeitweilig in die Nationalgarde eingetreten sein. Als die Nationalversammlung nicht Paris, sondern Versailles als Sitz und somit Hauptstadt bestimmt, Paris also ganz offen preisgibt, kommt es nach einem Zusammenstoß zwischen Nationalgarde und Regierungstruppen zum Volksaufstand. Rimbaud schlägt sich halb verhungert nach Charleville durch. Am 10. März dort angekommen, verpaßt er den Beginn der "Pariser Commune" am 18.3.1871.

Thiers flieht mit seinen Ministern nach Versailles und verhängt erneut den Belagerungszustand über Paris, diesmal durch französische Truppen. Die Erstürmung der Stadt sowie die blutige Niederschlagung der Commune vom 21. bis 28. Mai 1871 erlebt der Dichter also aus der Ferne. Er hört von den Razzien, Verhaftungen, Hinrichtungen, Prozessen, Deportationen. Zehn Tage lang erlaubt die Regierung die Ermordung der Bürger und Erschießungen ohne Richterspruch. 17.000 Männer, Frauen und Kinder werden in dieser Zeitspanne niedergemetzelt, das Blut soll die Gassen gefüllt haben wie reißende Flüsse. Insgesamt sterben etwa 30.000 Menschen in diesem Bürgerkrieg (davon ca. 1000 auf Regierungsseite), 10.000 Strafurteile werden gefällt, 215 Kommunarden zum Tode verurteilt und 3.000 in die Strafkolonien nach Neukaledonien verbannt, ein Schicksal, das in der Regel gleichfalls mit dem Tod endet. Rimbaud dazu:

Was ist uns das, mein Herz, all diese Lachen Blut
Und Glut, und tausend Morde, und der Seufzerhall
Der ganzen Hölle, alle Ordnung stürzend, und der Wut
Gedehnter Schrei; und Nord noch über dem Verfall;
Und alle Rache? Nichts?! ... Doch, ja doch ... immer ... ganz:
Wir wollen sie! Fabrikherrn, Ratsherrn, Fürstenpracht,
Geht unter! Nieder mit Geschichte, Recht und Macht!
Man schuldet's uns. Blut! Blut! der goldnen Flamme Glanz!

Ganz für den Krieg, die Rache, für den Schrecken sei,
Mein Geist! Drehn wir das Messer in der Wunde: Ah! der Zug
Der Republiken dieser Welt vergehe! Einerlei!
An Kaisern, Heeren, Siedlern, Völkern ist's genug!

Wer sonst entfachte wohl den Wirbelsturm der Glut,
Wenn wir und jene nicht, die wir erträumt als Brüder?
Zu uns, ihr Wundersamen: dann macht's Freude wieder!
Arbeiten? Nie und nimmer, o rasende Feuersflut!

Europa, Asien, Amerika, verqualmt!
Unser Rächerzug hält jeden Fleck in Bann,
Städte und Länderein! - Wir werden mit zermalmt!
Vulkane werden bersten! Gepeitscht der Ozean ...

O meine Freunde! Gewiß, Herz, sie sind Brüder:
Ihr unbekannten Schwarzen, kämt ihr! Kommt nur! Drauf!
O Unglück! Ein Beben packt mich, die alte Erde
Um mich, der mehr und mehr bei euch! sie tut sich auf,

Das ist nichts! ich bin hier! bin immer hier.

[S. 161]


Es lohnt sich unbedingt, zum genaueren Verständnis die französische Fassung mit einzubeziehen.

Qu'est-ce pour nous, mon coeur, que les nappes de sang
Et de braise, et mille meurtres, et les longs cris
De rage, sanglots de tout enfer renversant
Tout ordre; et l'Aquilon encor sur les débris;

Et toute vengeance? Rien! ... - Mais si, tout encor,
Nous la voulons! Industriels, princes, sénats,
Périssez! puissance, justice, histoire, à bas!
Ça nous est dû. Le sang! le sang! la flamme d'or!

Tout à la guerre, à la vengeance, à la terreur,
Mon Esprit! Tournons dans la Morsure: Ah! passez,
Républiques de ce monde! Des empereurs,
Des régiments, des colons, des peuples, assez!

Qui remuerait les tourbillons de feu furieux,
Que nous et ceux que nous nous imaginons frères?
A nous! Romanesques amis: ça va nous plaire.
Jamais nous ne travaillerons, ô flots de feux!

Europe, Asie, Amérique, disparaissez.
Notre marche vengeresse a tout occupé,
Cités et campagnes! - Nous serons écrasés!
Les volcans sauteront! et l'océan frappé ...

Oh! mes amis! - mon coeur, c'est sûr, ils sont des frères:
Noirs inconnus, si nous allions! allons! allons!
O malheur! je me sens frémir, la vielle terre,
Sur moi de plus en plus à vous! la terre fond,

Ce n'est rien! j'y suis! j'y suis toujours.

[S. 160]


Arthur Rimbaud hat im Gegensatz zu den etablierten Dichtern seiner Zeit den Volksaufstand und das Massaker von Paris nicht spurlos rationalisieren und zu einer bürgerlichen Normalität übergehen können, die ihm schon vorher einige Schwierigkeiten bereitet hat.

- Ich werde ein Arbeiter sein: das ist der Gedanke, der mich zurückhält, wenn mich der rasende Zorn in die Schlacht von Paris treibt, wo so viele Arbeiter sterben, während ich Ihnen schreibe! Jetzt arbeiten - niemals, niemals; ich streike.

[S. 367, Rimbaud an Georges Izambard, Charleville, 13. Mai 1871]

Gleichwohl stürzt er sich - wie man heute sagen würde - ins Private und reibt sich in der Beziehung zu Verlaine auf. Gemeinsam ziehen sie durch Europa, Verlaine landet schließlich im Gefängnis, weil er im Streit und aus Verzweiflung einige Schüsse auf Rimbaud abgibt. Rimbaud seinerseits zieht sich 1873 auf ein kleines Gut seiner Familie zurück und arbeitet an "Une Saison en Enfer" - einer weniger Aufarbeitung, als weiteren Dramatisierung seines Verhältnisses zu Verlaine und des eigenen Gemütszustandes. Er läßt das Werk drucken, kann aber den Drucker nicht bezahlen; so verteilt er nur einige wenige Exemplare an Freunde. Als Dichter bleibt er zunächst weiter erfolglos. Der Durchbruch erfolgt erst mit der Veröffentlichung seiner "Illuminations" durch Verlaine im Jahre 1886. Da ist er schon lange fort, in Nordafrika in den Diensten eines Handelsherrn, und hat sich - von der Dichtung zumindest - völlig abgewendet. Der Interpretation des Herausgebers, der Flucht als Rimbauds "Wahrzeichen" ausmacht und im übrigen die Zeit und Auseinandersetzungen mit Verlaine und die späteren Jahre ein wenig ausführlicher schildert (siehe auch die Zeittafel), vermag man wohl zu folgen.


Seher-Briefe, Mai 1871

Die von der Nachwelt als "Seher-Briefe" benannten zwei Briefe an Georges Izambard und an Paul Demeny datieren vom 13. bzw. 15. Mai 1871, etwa eine Woche also vor der endgültigen Niederschlagung der Commune und dem Massaker an der Pariser Bevölkerung. Rimbaud lebt bei seiner Mutter in Charleville:

Gegenwärtig lasse ich mich so sehr wie möglich verlumpen: Warum? Ich will Dichter sein, und ich arbeite daran, mich zum SEHER zu machen. Sie verstehen natürlich gar nichts, und ich kann es Ihnen kaum erklären. Es geht darum, durch die Verwirrung ALLER SINNE im Unbekannten anzukommen. Die Leiden sind gewaltig, aber man muß stark sein, als Dichter geboren sein, und ich habe mich als Dichter erkannt. Das ist ganz und gar nicht mein Fehler. Es ist falsch zu sagen: Ich denke. Man müßte sagen: Ich werde gedacht. - Verzeihen Sie das Wortspiel.

Ich ist ein anderer. Umso schlimmer für das Holz, wenn es sich als Geige wiederfindet, und Hohn über die Ahnungslosen, die über das rechten, wovon sie nicht das Geringste verstehen!

[S. 367, Rimbaud an Georges Izambard]


Und im Brief an Paul Demeny, nachdem er eine schnelle Darstellung und Kritik der bisherigen Dichtung geliefert hat:

... so ging es hin, da der Mensch noch nicht an sich arbeitete, da er noch nicht erwacht war oder noch nicht in der Überfülle des großen Traums lebte. Amtsschimmel, Schreiber: aber der Autor, Schöpfer, Dichter, dieser Mensch hat noch niemals existiert!

Das erste Stadium des Menschen, der Dichter sein will, sei die gänzliche Erkenntnis seines Selbst; er suche seine Seele, er erforsche sie, er versuche sie, lerne sie kennen. Sobald er sie kennt, muß er sie vervollkommnen; das scheint einfach: in jedem Gehirn vollzieht sich eine natürliche Entwicklung; wie viele EGOISTEN nennen sich nicht Autoren, und andere gibt es, die ihren geistigen Fortschritt sich selbst zu verdanken meinen! - Aber man muß die Seele ungeheuerlich machen: wie die Comprachicos, ja! Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sich Warzen ins Gesicht pflanzt und sie großzüchtet.

Ich sage, daß man SEHER sein, sich zum SEHER machen muß.

Der Dichter macht sich zum Seher durch eine dauernde, umfssende und planvolle VERWIRRUNG ALLER SINNE. Alle Formen der Liebe, des Leidens, des Wahnsinns; er suche sich selbst, er schöpfe alle seine Gifte aus, um nur ihre Quintessenzen zu bewahren. Unsägliche Folter, zu der er seinen ganzen Glauben nötig hat, all seine übermenschliche Kraft, unter der er unter allen der große Kranke wird, der große Verbrecher, der große Verdammte, - und der höchste Weise! - Denn er kommt im UNBEKANNTEN an! Weil er seine Seele, die schon reich ist, reicher ausgebildet hat als irgendein anderer! Er kommt im Unbekannten an, und wenn er auch, betört von seinen Visionen, den Verstand über ihnen verliert, so hat er sie doch gesehen! Mag er umkommen in seinem Sprung zu den unerhörten und unsagbaren Dingen: andere schreckliche Arbeiter werden kommen; sie werden an jenen Horizonten beginnen, an denen er hinsank!

[S. 373, Rimbaud an Paul Demeny]


Was aus diesen Zitaten nicht hervorgeht, ist der gleichzeitige Anspruch Rimbauds, für die dichterische Darstellung der Vision und damit für ihre Weitergabe, eine neue Sprache zu entwickeln, die diese auch zu fassen und auszudrücken vermag.


Das Seher-Konzept

Wie sich unschwer aus den oben zitierten Passagen herauslesen läßt, trägt Rimbaud hier einen sehr hohen Anspruch vor, doch handelt es sich im Grunde um einen vor und nach ihm in vielen Variationen wiederholt beschrittenen Pfad: die angebliche "Erweiterung" oder den "Wandel" der menschlichen Wahrnehmung durch Extremzustände und Ausnahmesituationen, hervorgerufen durch Deprivation und Reizüberflutung/Überreizung, Rausch und Vergiftung etc. Dieses Konzept ist weder neu, noch revolutionär. Es dürfte lediglich in den (Dichter)Kreisen, in denen Rimbaud verkehrte, ein ungewöhnlicher Gedanke gewesen sein. Sicherlich macht es einen Teil der Faszination aus, die man für die Rimbaudsche Dichtung hegen mag, weil das, was an ihr unverständlich scheint, immer als Produkt visionärer Zustände interpretiert werden kann.

Die persönliche, die politische und die poetische Revolte bedingen sich in dieser Zeit gegenseitig und finden 1871 ihren Niederschlag in den sog. Lettres du voyant (dt. Zwei Briefe über Dichtungen, 1961), in denen er in frechem bis emphatischem Stil eine aus romantischem, okkultistischem, frühsozialistischem und populistischem Gedankengut vermischte und mit eigenen Beispielen versehene Dichtungstheorie entwarf. Die Muster dieser neuen "objektiven" Poesie: Le coeur supplicié (Das gemarterte Herz), Chant de guerre parisien (Pariser Kriegsgesang), Mes petites amoureuses (Meine kleinen Geliebten), Accroupissements (Gekauert), sind allesamt Parodien auf die herrschende romantisch-parnassische Dichtung. R. setzt ihr eine politisch (für die Commune de Paris) engagierte, revolutionäre, antikirchliche und selbstanalytische Dichtung entgegen.

[Harenberg Lexikon der Weltliteratur, Bd. 4, S. 2449-2450]

Folgen wir einmal dem Konzept: Der "Seher" an sich ist der Zuschauer, was auch immer er sieht und auf welche Weise, also mit welchen Mitteln auch immer. Vorausgesetzt wird hier bereits unhinterfragt, daß er in der Lage ist, aus der eigenen Wahrnehmung einen Erkenntnisgewinn zu ziehen und, besonders im Falle Rimbauds, diese Erkenntnis auch im Sinne eines Wandels der Wirklichkeit nicht nur der gesellschaftlichen Verhältnisse einzusetzen. Geht man jedoch von Sehen als Erfahren, als Eindruck aus, gleich als wie aktiv man dieses begreift, ist hier der "Seher" bildlich gesprochen das vom Unbekannten in Resonanz versetzte Mittel oder Instrument. Drängt sich nicht spätestens an dieser Stelle der Gedanke auf, daß dies keine andere Lage ist als die gewohnte, nämlich Kräften unterworfen zu sein, die sich dem menschlichen Verständnis verschließen?

Nebenbei wäre noch anzumerken, daß das Konzept des Sehers - indem es das Andere, das Unbekannte, die andere Realität, der es sich zu öffnen gilt, postuliert und damit ein Hier und ein Dort, ein Diesseits und ein Jenseits, eine andere Welt gegenüber der unseren - das gleiche Heilsversprechen kolportiert wie das Christentum, von dem Rimbaud sich, wie man unschwer aus seinen dichterischen Elementen ersieht, nicht zu lösen vermag. Die Entgrenzung aller Sinne, verstanden als Zügellosigkeit, Tabubruch, Revolte, Befreiung, Triumph über die Moral der bürgerlichen Gesellschaft führt durch die ständige Bezugnahme auf das, von dem es sich zu befreien gilt, genau dorthin zurück. Der Bruch ist Rimbaud nicht gelungen.

Rimbaud, der Knabe, der die Kluft zwischen bürgerlichem Anspruch und bürgerlicher Wirklichkeit so unerbittlich aufgezeigt hatte wie kaum ein anderer seiner weit älteren dichtenden Zeitgenossen, hatte diese Wirklichkeit auch stets als eine soziale - und das heißt letztendlich: veränderbare und veränderungswürdige - begriffen. Die Commune nährt eine neue, gewaltige Hoffnung in ihm; nicht zuletzt ist sie es, die ihm den Gedanken eingibt, den er zur Zeit, da in Paris der Aufstand tobt, in zwei Briefen zu formulieren sucht.

Vielleicht ist es nicht ganz gerechtfertigt, die Seher-Briefe, um die es hier geht, auf solche Art mit der Commune in Verbindung zu bringen; vielleicht sind jene nur ein poetisches Programm, während diese ein geschichtliches Ereignis ist. Vielleicht sind die Seher-Briefe nur eine unerhörte Volte, ein aus der Not der Stunde und dem Mut der Verzweiflung geborenes höchstes Hinbäumen nach einem unbekannten Horizont; vielleicht ist dies die Kunst und jenes das Leben. Vielleicht, nein gewiß, ist Rimbaud kein Revolutionär, sondern mehr und weniger zugleich: während es dem Revolutionär um ein besseres, sozial gerechteres Leben geht, geht es dem Rimbaud der Seher-Briefe um ein höchstes Leben gesteigerter Wirklichkeit: die visionäre Erfahrung der Welt. Und doch durchkreuzen sich auf diesen paar Seiten Kunst und Leben, Gegenwart und Zukunft, Wirklichkeit und Sehertum, nimmt Rimbaud die sozialen Impulse der Revolution auf und schmilzt sie untrennbar ein in die dichterische Revolte; steht ihm DER KRÄFTE STURM UND SCHWUNG bei der Formulierung seines Programm bei, um eine Wendung zu gebrauchen, die er nach der Niederschlagung der Commune in hellster Wut und ohnmächtiger Hoffnung niederschreibt.

[S. 404-405, Nachwort]


Vom Seher zum Voyeur

Sein Anspruch, eine Dichtung zu liefern, die mit der Wirklichkeit zu tun hat, die das echte Leben nachzeichnet und Visionen für eine Veränderung liefert, scheint falsch verstanden. Eine Situation sprachlich genau zu erfassen ist nicht einfach, dazu bedarf es der Annäherung, der die Sprache als im Grunde betrachtendes Element (Beschreibung) entgegensteht. Rimbaud benutzt zwar als Hilfsmittel, wie es für Dichtung nicht üblich war zu jener Zeit, die Umgangssprache, er benennt die abstoßenden, quälenden Seiten des Lebens, doch erscheint das einfache Volk so abstoßend wie die Bourgeois in ihrer saturiert-grausamen Selbstgefälligkeit. Und das ist eine Folge seiner Position. Denn auch, wenn seine Dichtung häufig sehr emotional teilnehmend erscheint, steht er dennoch betrachtend über den Dingen, er nimmt Distanz. Das führt als sein Versuch, von höherer Warte aus zu "sehen", zu einer eigentlich nicht eingeplanten Verklärung. Er benennt nicht, sondern hebt das Geschehen auf eine vermeintlich höhere, transzendierte, also platt gesagt verschleiernde Ebene. Wer ihm hier folgt und das Genie zu erkennen vermeint, mag sich die Teilhabe sichern und einen Platz am Tisch derer einnehmen, die sich dadurch, daß sie zu beurteilen vermögen, was das Genie kreiert, selbst noch über dieses erheben. Betrachtet man die Folgezeit, also seine Zeit mit Verlaine, im Lichte dieses "Seher"-Vorhabens, könnte man dazu neigen, diese als gezielte "Ausreizung aller Sinne" überzubewerten. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß die entzügelte Lebensweise jener Periode eher als Ausdruck einer allgemeinen Rebellion und Flucht, Orientierungslosigkeit und einer Suche zu verstehen ist, der keine Substanz verliehen werden konnte. Die Umdeutung dieser Zeit vom ziellosen Treiben hin zur absichtlichen Verwirrung wäre nicht Rimbaud, sondern höchstens der Nachwelt vorzuhalten, der sie zur Projektion der eigenen Wünsche und Hoffnungen dient. Rimbaud selbst ist zu dieser Zeit in einem Alter, in dem man das alles darf, weil die Erfahrung fehlt und die weitere Entwicklung noch aussteht.

In der Nachfolge der "Zeit in der Hölle" hat der Dichter seine bisherige Dichtung als subjektiv, also aus seiner Sicht verachtenswert, verworfen und auch das Projekt, die Dichtung mit Hilfe des Rausches, der bewußt herbeigeführten Halluzination von der Vernunft und der vorherrschenden Erfahrung zu befreien; Ausschweifung und Laster verurteilt er nun als dumm. Die Gedichte der "Illuminations" genannten Sammlung scheinen mithin in den Jahren 1872-1874 entstanden. Der von Rimbaud gewählte Untertitel "painted plates" legt als recht nüchterner Name eine eher handwerkliche Interpretation dieses Werks nahe: nicht als Erleuchtungen im Sinne eines erhöhten Erkenntnisgewinns oder Durchblicks, sondern, angelehnt an die mittelalterliche Schrift- und Buchkunst, Illuminieren im Sinne des verschönernden Ausmalens von Handschriften und der Buchmalerei, übertragen auf die Dichtkunst. Von seinem ursprünglichen Anspruch, eine neue Art der Dichtung zu entwickeln, die sich einmischt, um die Welt zu verändern, und die bisher Unzugängliches erschließt, hat er sich damit in der Tat entfernt.

Raute

Die Übersetzung

Rimbaud stellt nicht nur aufgrund seines Anspruchs, als Dichter auf eine andere Ebene der Wirklichkeit bzw. Wahrnehmung zu gelangen - eine Interpretation, der zumindest der Herausgeber Thomas Eichhorn zu folgen bereit ist -, hohe Anforderungen an den Übersetzer. Dieser bewegt sich auch aufgrund der zum Teil sehr subjektiv-emotionalen Begriffswahl und Bilder in Verbindung mit den von Rimbaud benutzten lyrischen Formen häufig am Rande des Scheiterns und sieht sich in einer Auseinandersetzung nicht nur mit der französischen, sondern auch der eigenen Sprache, die nicht immer dort hinzureichen scheint, wohin das Gedicht führt. Es ist aus diesem Grunde für den Leser wichtig zu wissen, daß es sich gerade bei der Übersetzung von Lyrik dieser Art lediglich um Annäherungswerte handeln kann, also eine genaue Übereinstimmung schwer zu erzielen ist. Dies macht Kompromisse wahrscheinlich, die unschwer aufzufinden und nicht immer nachzuvollziehen sind. Wer die Schwierigkeit ermessen will, mag sich einmal selbst an die Übersetzung machen. Zum größtmöglichen Verständnis von Inhalt, Tonfall und Sprache der Gedichte ist das Französische unverzichtbar, die zweisprachige Ausgabe also eigentlich unerläßlich. Daneben ermöglicht diese es dem Leser, sich ein Bild davon zu machen, wie mit dem jeweiligen Stoff umgegangen wird.

Vor den Beispielen wäre noch hinzuzufügen, daß sich die Übersetzer an die von Rimbaud jeweils vorgebene Form gehalten haben. Für den Reim steht wieder ein Reim, nicht das gleiche Wort natürlich. Hat schon der Dichter gekämpft, um zum Reim zu gelangen und sicherlich den einen oder anderen Kompromiß dafür in Kauf genommen, so auch der Übersetzer, was zu mehr oder weniger befriedigenden Ergebnissen führt. Der Inhalt wird in den Zeilen manchmal umgestellt, was ihm für sich gesehen keinen Abbruch tun muß. Daß aus Übersetzungen ein Eigenprodukt entsteht, also eines, das mit dem Original, wenn es weit kommt, nur noch in Teilen zu tun hat, hängt eher am Selbstverständnis des Übersetzers, respektive Dichters und möglicherweise auch an einer mangelnden Kenntnis der deutschen Sprache, die dieser nicht gezielt genug einzusetzen und zu entwickeln vermag. Da der Inhalt der Gedichte Rimbauds in der Regel eine Nachdichtung nicht rechtfertigt, und der Leser eines deutschen Gedichtes von Rimbaud auch Rimbaud erwartet und nichts anderes, stellen wir uns auf die Seite einer möglichst genauen Übertragung, die alle Faktoren berücksichtigt. Eine anspruchsvolle Aufgabe, aber wir sprachen ja schon von den Annäherungswerten. Der vorliegende Band verzichtet in diesem Sinne auf selbstdarstellerische Ausflüchte.

"Das gestohlene Herz" [S. 105] (Le Coeur supplicié) ist eines jener Gedichte, die Rimbaud seinen Seher-Briefen (dem an Izambard) beigefügt hat. Dort heißt es in der Übertragung "Das gemarterte Herz" [S. 369].

Sie sind nicht mein LEHRER. Ich sende Ihnen dies hier: ist es satirisch, wie Sie sagen würden? Ist es Dichtung? Es ist Phantasie allemal. - Aber, darum bitte ich Sie, unterstreichen Sie nicht mit dem Stift und auch nicht allzusehr in Gedanken: [S. 369]

Das gestohlene Herz

Am Heck mein trübes Herz muß speien,
Mein Herz mit Knaster zugedeckt:
Dort schmeißen sie mit ihren Breien,
Am Heck mein trübes Herz muß speien:
Dieweil sie vor Gelächter schreien
Und jede Zote ihnen schmeckt,
Am Heck mein trübes Herz muß speien,
Mein Herz mit Knaster zugedeckt!

Soldatenzoten, Phallusschlangen
Erfüllten mir das Herz mit Dreck!
Am Steuer sieht man Fresken prangen,
Soldatenzoten, Phallusschlangen.
Hört, Zauberfluten, mein Verlangen,
Nehmt meines Herzens Schmutz hinweg!
Soldatenzoten, Phallusschlangen
Erfüllten mir das Herz mit Dreck!

Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?
Bacchantisch werden sie verdauen,
Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen;
Mein Magen wird sich krampfen, grauen,
Mein Herz erniedrigt und voll Qual:
Wenn sie den Priem zum Schluß zerkauen,
Was dann, o Herz, das man mir stahl?

Mai 1871

[S. 105+107]


Le Coeur supplicié

Mon triste coeur bave à la poupe ...
Mon coeur est plein de caporal!
Ils y lancent des jets de soupe,
Mon triste coeur bave à la poupe ...
Sous les quolibets de la troupe
Qui pousse un rire général,
Mon triste coeur bave à la poupe,
Mon coeur est plein de caporal!

Ihtyphalliques et pioupiesques
Leurs insultes l'ont dépravé;
A la vesprée, il font des fresques
Ithyphalliques et pioupiesques,
O flot abracadabrantesques,
Prenez mon coeur, qu'il soit sauvé!
Ithyphalliques et pioupiesques
Leurs insultes l'ont dépravé!

Quand ils auront tari leurs chiques,
Comment agir, ô coeur volé?
Ce seront des refrains bacchiques
Quand ils auront tari leurs chiques,
J'aurai des sursauts stomatiques
Si mon coeur triste est ravalé!
Quand ils auront tari leurs chiques,
Comment agir, ô coeur volé?

Mai 1871

[S. 104+106]


Das gepeinigte Herz

Mein trauriges Herz sabbert aufs Heck ...
Mein Herz ist randvoll mit Knaster!
Sie kippen Suppe darüber weg,
Mein trauriges Herz sabbert aufs Heck ...
Unterm Spott der Mannschaft hier an Deck,
Dem Gelächter voller Laster,
Sabbert mein trauriges Herz aufs Heck;
Mein Herz ist randvoll mit Knaster!

Ithyphallisch und soldatenrauh
Hat ihr Gespött es krank gemacht;
Jeden Abend machen sie Radau,
Ithyphallisch und soldatenrauh,
Oh, du wundersame Meeresau,
Nimm mein Herz fort aus dieser Nacht!
Ithyphallisch und soldatenrauh
Hat ihr Gespött es krank gemacht!

Sind erst ihre Prieme ausgekaut,
Was tun, oh gestohlenes Herz?
Dann werden wieder Sauflieder laut,
Sind erst ihre Prieme ausgekaut:
Daß der Magen sich in Krämpfen staut,
Taucht man mein schweres Herz in Schmerz!
Sind erst ihre Prieme ausgekaut,
Was tun, oh gestohlenes Herz?

Mai 1871

[Übertragung MA-Verlag]


Die Unterschiede der Übertragungen sind deutlich und, vergleicht man sie mit der französischen Vorlage, teils inhaltlichen und teils formalen Kompromissen geschuldet. Ein paar kurze Anmerkungen an dieser Stelle sollen ausreichen, um die Probleme anzureißen. Der interessierte Leser mag sich dann mit Hilfe der zweisprachigen Ausgabe ein eigenes Bild verschaffen:

Die erste Variante von Thomas Eichhorn, mit Triolett-Reim, Silbengleichheit der Reimzeilen und stimmigem Rhythmus (entspricht im wesentlichen Rimbaud, wobei man im Französischen Aussprachevarianzen in Anspruch nehmen kann, die es im Deutschen so nicht gibt), greift doch etwas aus: "am Steuer sieht man Fresken prangen". Wo kommen die nun plötzlich her? Ins Bild passen sie nicht, auch wenn im Französischen "il font des fresques" zu lesen ist, liegt eigentlich nahe, daß etwas anderes gemeint ist, als daß diese rohen Gesellen Fresken malen oder plötzlich solche zu sehen sind. Die zweite Variante, MA-Verlag, mit Triolett-Reim und Silbengleichheit der sich reimenden Zeilen, allerdings ohne Angleichung des Zeilenrhythmus, klingt etwas holperig und hat gleichfalls ihre inhaltlichen Schwächen. Klar wird das an einer Anspielung, einem französischen Wortspiel wie mit dem Verb "ravaler", das Bedeutung und Zusammenhang nach sowohl als "bewerfen", "verächtlich machen" und als "verschlucken" verstanden werden kann. Es bietet also breiten Interpretationsraum und im Deutschen das Problem, daß diese drei Anklänge nicht mit einem einzigen deutschen Wort zu fassen sind.

Auf jeden Fall, und das mag noch einmal im folgenden Beispiel deutlich werden, gibt es eine Möglichkeit der Annäherung an die Inhalte, indem man versucht, sich mit Hilfe der vorgegebenen Daten (Gedicht) so weit wie möglich in den anderen (Rimbaud) und in die beschriebene Situation (das wehleidige Herz, das von rauhen Gesellen verspottet wird) hineinzuversetzen. Eine nüchterne Herangehensweise ist dabei hilfreich. Das Gedicht "Demokratie", das imperiale Eroberung anprangert, damals wie heute deutlich, ist eine in diesem Sinne mißlungene Übertragung.

Rimbaud schreibt:

Démocratie

"Le drapeau va au paysage immonde, et notre parois étouffe le tambour.
"Aux centres nous alimenterons la plus cynique prostitution. Nous massacrerons les révoltes logiques.
"Aux pays poivrés et détrempés! - au service des plus monstrueuses exploitations industrielles ou militaires.
"Au revoir ici, n'importe où. Conscrits du bon vouloir nous aurons la philosophie féroce; ignorants pour la science, roués pour le confort; la crevaison pour le monde qui va. C'est la vraie marche. En avant, route!"

[Sämtliche Dichtungen, S. 356+358]

Reinhard Kiefer und Ulrich Prill schreiben:

"Unsere Fahne zieht in die unreine Gegend, und unsere Mundart erstickt die kleine Trommel.
"In den Zentralen werden wir die hündischste Unzucht nähren. Wir werden die logischen Revolten massakrieren.
"Auf zu den Ländern, pfeffrig und ermattet! - im Dienste der ungeheuerlichsten industriellen oder militärischen Ausbeutungen. "Abschied hier, gleich wohin. Als Rekruten des guten Willens, werden wir das wilde Denken haben; Dumme in der Wissenschaft, Geräderte im Luxus; Tod der Welt, die geht. Das ist der wahre Marsch. Vorwärts, zum Weg!"

[Sämtliche Dichtungen, S. 357+359]

Und das ist unverständlich. Unreine Gegend? Die Fahne zieht in schmutziges Land ("immonde" deutet auf Länder hin, die zu verachten und nicht mehr lebenswert sind). Klar, "patois" ist als Mundart zu verstehen. Doch was wollte Rimbaud wohl damit sagen? Er verabscheut die erobernden Soldaten. Also kennzeichnet er sie als grob, dumm, grausam. Ihre Sprache ist brutal, laut: Soldatenjargon. Die Trommel ist nicht klein bei Rimbaud, nein, sie wird nur von dem brutalen Gegröle der hirnlosen Meute sogar noch übertönt. Hündischste Unzucht: Nein. Die Frauen werden vergewaltigt oder prostituieren sich, um sich und ihre Familien noch irgendwie durchzubringen. Vielleicht ist es auch schnelles Geld, aber mit Ekel verbunden, mit Unterwerfung, auf der anderen Seite mit Verachtung, Gewaltausübung, Machtgefühl. Rimbaud sagt "cynique", weil es doppelt bitter für die Unterworfenen ist. Grob die weitere Aussage vergegenwärtigt: Die folgerichtigen Aufstände werden blutig niedergeschlagen. In die betrogenen und geschwächten Länder im Dienste der ungeheuerlichsten industriellen und militärischen Ausbeutung. Abschied hier, ganz gleich wo. Willig rekrutiert, haben wir eine barbarische Philosophie, unkundig der Wissenschaft, gerissen fürs eigene Wohl; Tod der Welt, die wir kennen. Das ist der wahre Marsch. Vorwärts. Los!

Die Zeile

"Auf zu den Ländern, pfeffrig und ermattet!

ist leider verräterisch, weil man sie so überhaupt nicht versteht. Hier ist wohl "poivré" im Sinne von übervorteilt, betrogen gemeint. Also, ganz einfach, es sind die Länder, die bereits betrogen und über den Tisch gezogen wurden, die sich von vornherein in der schwächeren Position befinden. Und dann macht die Zeile Sinn:

"In die betrogenen und geschwächten Länder!

Lassen wir die "Geräderten im Luxus" mal beiseite. Es gibt natürlich auch die Gedichte, bei denen genaueres Lesen des Originals und akribische Erkundung kein Mehr an Erkenntnis bringen und die Übersetzung auch noch gewissermaßen auf der Stelle tritt. Hier bleibt höchstens noch die selbstkritische Frage, wenn man dennoch von der Wortgewalt fasziniert ins Schwärmen gerät: Falle ich auf des Kaisers neue Kleider herein? Macht die Aussagekraft des Gedichtes das aus, was ich hineingeheimnisse oder mir zumindest wünsche? Allerdings wird auch deutlich, wie schwierig sich eigentlich die Vermittlung von Inhalten über Sprache darstellt. Worte und Wortkombinationen werden unterschiedlich empfunden, es kann sich zunächst nur um versuchte Annäherungswerte - an das Objekt des Gedichts, also das, was der Dichter eigentlich sagen wollte oder sagt, und an den Leser - handeln und bedarf der weiteren Erforschung. Ob dies der Gegenstand, also die Rimbaudsche Dichtung, allerdings rechtfertigt, darüber mag man sich streiten.

Bleibt schließlich noch zu sagen, daß diese Ausgabe in ihrer Gesamtheit für den Rimbaud-Interessierten welchen Grades auch immer zu empfehlen ist. Sie bietet mit Anmerkungen, Zeittafel und Nachwort sowie durch die Zweisprachigkeit eine gute Möglichkeit, sich mit dem Leben und Werk Rimbauds zu befassen. Man kann hier und da lesen oder ein wenig in die Tiefe gehen, ganz nach Wunsch.


10. Februar 2006


Arthur Rimbaud
"Sämtliche Dichtungen"
Zweisprachige Ausgabe
Aus dem Französischen übersetzt und
mit Anmerkungen und einem Nachwort
herausgegeben von Thomas Eichhorn
Übersetzung der "Illuminations" von
Reinhard Kiefer und Ulrich Prill
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1997
3. Auflage November 2004
kartoniert, 421 Seiten, 12,50 Euro
ISBN 3-423-12945-X