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REZENSION/006: William Shakespeare - The Sonnets (SB)


William Shakespeare


The Sonnets



Am besten das Original - Shakespeare über die Schulter geblickt...

Die vorliegende Ausgabe der Shakespeare'schen Sonette basiert auf der von Thomas Thorpe 1609 veröffentlichten Erstausgabe. Den Gedichten ist keine Übersetzung beigefügt, es fehlen jedoch nicht die Reclam-üblichen sprachlichen Kommentierungen (Vokabeln) und Anmerkungen, die sich u.a. mit Änderungen und Interpretationen unterschiedlicher Herausgeber befassen. Ergänzt wird der Band weiter durch Inhaltsverzeichnis, editorische Notiz, Auswahlbibliographie sowie das ausführliche Nachwort von Michael Hanke, das Forschungsstand und Rezeptionsgeschichte der Sonette beleuchtet und kommentiert und dem interessierten Leser eine Menge Stoff zur Auseinandersetzung mit denselben sowie zur eigenen Meinungsbildung bietet.

Shakespeares Sonette gelten eigentlich als schwierig genug, sie nicht ohne eine beigefügte Übersetzung zu veröffentlichen. Was mag also den Verlag bewogen haben, der bereits publizierten zweisprachigen Sammlung (The Sonnets / Die Sonette, hrsg. von Raimund Borgmeier, Stuttgart 1974, UB 9729) eine einsprachige hinzuzufügen? Abgesehen davon, daß Shakespeares Aktualität und insbesondere die seiner Sonette ungebrochen scheint und es an Neuübersetzungen nicht mangelt, bleibt die Schwierigkeit bestehen, daß jede Übersetzung, wie textgetreu sie auch sein mag, immer eine einzige Interpretation liefert. Das Problem, daß es sich bei einer deutschen Fassung häufig eher um eine Anlehnung an das Original, also eine Neudichtung handelt, ist damit noch nicht berührt. Der Übersetzer muß sich in jedem Fall, um ein veröffentlichungsadäquates Produkt übergeben zu können, festlegen. Der Leser des Originaltextes indes hat noch alle Freiheiten, und ihm steht beim Lesen des Englischen eine Bedeutungsspannbreite zur Verfügung, die ihm die Orientierung an einer Übersetzung zu rauben droht. So kann nicht nur der fremdsprachliche Gewinn beim Studium der Originalausgabe ein wesentlich umfassenderer sein, als beim ständigen Seitenblick auf eine beigefügte deutsche Umdichtung.

Im Gegensatz zu den Dramen gilt die Autorenschaft William Shakespeares bezüglich der 154 Sonette der Sammlung, die in den Jahren 1592 bis 1598 entstanden sein sollen und 1609 ohne Zutun des Dichters gedruckt wurden, als gesichert, da eine Originalhandschrift vorliegt. Die Frage, ob aus ihnen Erkenntnisse über seine Biographie und seine Denkweise gewonnen werden können, ist genauso strittig wie die Vorstellung von Shakespeare als einem einzelnen Dichter und Dramatiker, unter dessen Namen heute ein Gesamtwerk subsumiert wird, das eine einzigartige Stellung in der Weltliteratur einnimmt. Die Unsicherheit darüber, ob und wie Shakespeare existiert hat oder ob es sich hier lediglich um ein Konstrukt handelt, tut seinem Ruhm jedoch keinen Abbruch. Über keinen Dichter ist mehr geschrieben worden als über ihn, kein Tag vergeht, ohne daß Bezug auf ihn genommen wird.

Die Sonette sind seit dem 19. Jahrhundert Objekt umfangreicher Forschung und genießen einen unbestrittenen Ruf, sie werden zu recht mit Sprachversiertheit von hohem Niveau in Verbindung gebracht. Die Beschäftigung mit klassischen Originaltexten und Gedichten rückt allerdings für die Mehrzahl der Menschen zunehmend in unerreichbare Fernen, verspricht sie doch nicht zu der Heranbildung des flexibel einsetzbaren, allein an wirtschaftlicher Effizienz ausgerichteten Arbeitnehmergeistes beizutragen. Nicht anders ist auch das Bestreben einiger Verlage zu verstehen, Lehrern und Schülern Leichtlesefassungen von Klassikern schmackhaft zu machen, deren Schwerpunkt auf dem Unterhaltungsanteil der Werke liegt. Den Reclam-Herausgebern ist es entsprechend hoch anzurechnen, daß sie bei ihrem Standpunkt bleiben, klassische Texte wie die vorliegenden - abgesehen u. U. von einer orthographischen Anpassung - in der Originalfassung zu veröffentlichen und damit gegen den Strom zu schwimmen.


Die Sprache der Sonette

Die Sprache der Shakespeare'schen Sonette ist leichter und zugleich schwieriger als man auf den ersten Blick meint: Das moderne, reduzierte Englisch reicht nicht aus, und selbst, wenn man gern hin- und herüberlegt und rätselt, stellt der Anspielungsreichtum des elisabethanischen Englisch eine Herausforderung dar. Zudem fehlen in der Regel Kenntnisse über die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse sowie über die Situation des Dichters. Seine persönliche Ausdrucks- und Denkweise erschwert möglicherweise das Verstehen. Und auch die strenge Sonettform mag den Dichter, abgesehen von der Möglichkeit, sich auf die gewünschte Aussage zu konzentrieren, zu mancher Wendung und ungewohntem Satzbau veranlaßt haben, die er ohne diese Formvorgabe nicht gewählt hätte. Trotzdem kann man sie - auch gerade ohne die bereits erwähnte, beigestellte Übersetzung, die vielleicht gar durch Auslassungen glänzt - verstehen.


Geschichte und Form des Sonetts

Erfunden wurde das Sonett, soweit bekannt, am Hof des Stauferkaisers Friedrich II. in Neapel (1212-1250); es scheint auf Themen und Formen der provenzalischen Troubadourdichtung zurückzugehen. Das Wort Sonett von italienisch "sonare" bedeutet klingen und weist auf die Herkunft aus dem vorgetragenen Lied hin. Als erste bedeutende Repräsentanten gelten Dante (1265-1321) und Petrarca (1304-1374), wobei letzterer die Sonettdichtung noch über Jahrhunderte hinweg beeinflußt hat.

In seiner Grundform besitzt das Sonett 14 meist elfsilbige (in Jamben, doch auch andere Versfüße) Verse. Diese gliedern sich in zwei vierzeilige Quartette (Aufgesang) mit umschließenden Reimen (abba, abba) und zwei dreizeilige Terzette (Abgesang, hier variieren die Reime). Es gibt jedoch inzwischen zahlreiche Abarten, nicht zuletzt deshalb, weil unterschiedliche Sprachen durchaus unterschiedliche Anforderungen stellen. Ein Extremfall wäre das Chinesische. Das englische Sonett, mit dem wir es hier zu tun haben - nach seinem berühmtesten Vertreter auch "Shakespeare-Sonett" genannt -, wurde von Henry Howard, Graf von Surrey (ca. 1517-1547) entwickelt und gilt als der einfachste und am klarsten gegliederte Typ (Reimschema: abab cdcd efef gg). Die Vorgaben des Sonetts sind jedoch nicht nur formaler, sondern auch inhaltlicher Art. Das Shakespeare-Sonett besteht mit seinen drei Quartetten im Kreuzreim aus einem darstellenden oder erzählenden Teil mit zugespitztem Verlauf oder mit Variationen zu einem Thema und einem, den Gedankengang abschließend zusammenfassenden oder konterkarrierenden Reimpaar. Die strenge Formvorgabe des Sonetts verhindert, daß die Variation so entufert, daß das Thema dabei gleichzeitig mit verlorengeht. Gut zu sehen ist dieser Aufbau, der die Konzentration auf ein Thema sowie die inhaltliche Stringenz unterstützt, an dem folgenden Beispiel:


Sonnet 27

Weary with toil, I haste me to my bed,
The dear repose for limbs with travel tired;
But then begins a journey in my head
To work my mind, when body's work's expired;

For then my thoughts, from far where I abide,
Intend a zealous pilgrimage to thee,
And keep my drooping eyelids open wide,
Looking on darkness which the blind do see;

Save that my soul's imaginary sight
Presents thy shadow to my sightless view,
Which, like a jewel hung in ghastly night
Makes black night beauteous and her old face new.

Lo thus, by day my limbs, by night my mind,
For thee and for myself no quiet find.


Die Situation ist zeitlos und leicht zu verstehen: Der Dichter - gleich, ob er diese Szene nun gerade für sich so empfindet oder sie schreibend vor dem eigenen Auge erstehen läßt - ist vom Tag erschöpft, eilt ins Bett mit müden Gliedern und beginnt dann in Gedanken zu wandern, denkt - verliebt oder nicht - an einen anderen Menschen, der ihn beschäftigt, sieht in die dunkle Nacht und kommt nicht zur Ruhe. Genauso kann man sich diese Szene ausmalen und ganz nebenbei die Frage stellen, welchen Sinn es haben mag, nicht allein festzustellen: Ich bin müde, denk' an dich und kann nicht schlafen. Warum macht der Dichter soviele Worte und noch dazu in einer festgelegten, nicht gerade einfachen Form? Lassen wir die Frage, daß ein Dichter vielleicht lediglich seinen Stand und Status zu behaupten sucht, beiseite, bleibt das Bemühen, eine Situation, eine Gefühlslage, einen Zeitpunkt mit all seinen Umständen ganz unverwechselbar zu schildern. Die Form wäre dann eine Hilfestellung dafür, nicht zu entufern, beim Thema zu bleiben und die eigenen Überlegungen zu verdichten.

Malt sich also der Leser diese geschilderte Szene mit Hilfe der vom Dichter gelieferten Worte und Wortkombinationen genau aus - mit der Unterstützung durch u.a. Lehrer und/oder Wörterbuch - mag es möglich erscheinen, dem Menschen, der in einer anderen Zeit und in anderen Umständen gelebt hat, nahezukommen. So kann sich ein kunstvolles Gedicht aus dem 16. Jahrhundert als verständlicher herausstellen als die Produkte eines Großteils moderner Lyriker.

Gleichzeitig wundert es nicht, daß das Sonett heute als eher obsolete Gedichtgattung betrachtet wird, zeigt es doch deutlich, wie weit es mit der Sprachfertigkeit des Dichters bestellt ist. Die Entwicklung in der modernen Lyrik ist Teil einer allgemein gesellschaftlichen Entwicklung, die unter anderem zur Folge hat, daß die Fähigkeit der (längeren) gedanklichen Konzentration auf ein Thema verlorengeht zugunsten flüchtiger Assoziationen, Bilder und Verkettungen, die nur deshalb etwas zu sagen scheinen, weil man ihnen nicht weiter nachgeht.


Vertraute Gedankenwelt

Nowhere is his timelessness more evident than in the sonnets.
Robert O. Ballou

Die 154 Sonette der Shakespeare'schen Sammlung befassen sich in ihren Metaphern, Bildern und Wortspielen mit einem übersichtlichen Themenkreis: Im Mittelpunkt stehen das Auf- und Ab der (Liebes)beziehung des Dichter-Ichs zu einem jungen Mann adliger Herkunft und zur "Dark Lady" sowie ein Dichterrivale - Personen, die schon zu vielen Spekulationen Anlaß gegeben haben. An ihnen entzünden sich Liebe, Leidenschaft und Sehnsucht, Zweifel und Kritik, Betrachtungen über Vergänglichkeit auf der einen und Verewigung durch die Dichtung auf der anderen Seite, über Schönheit, Tugend und Freundschaft. Die Art und Weise, wie Shakespeare sich mit immer neuen Aspekten der Beziehung zu seinen Protagonisten befaßt - die nicht unbedingt einen konkreten biographischen Hintergrund haben müssen -, läßt vor den Augen des Lesers eine Gefühls- und Gedankenwelt entstehen, die mit der Zeit vertraut erscheint und die den Rahmen der bis dato geltenden Sonettkonventionen sprengt.

Über die Anordnung der Sonette bestehen Zweifel, man ist sich nicht sicher, ob sie der von Shakespeare beabsichtigten entspricht, dennoch sind Gruppierungen erkennbar. Während sich die Sonette 1 bis 126 mit einem jungen Mann beschäftigen, wendet der Dichter seine Aufmerksamkeit in Sonett 127 bis 154 der "Dunklen Dame" zu. Sonett 1-17, die sich an den heiratsunwilligen Jüngling richten, fordern diesen auf, seine Schönheit durch Nachkommenschaft zu erhalten. Gerade an diesen kann man wunderbar Shakespeares Unermüdlichkeit studieren, im Streit zwischen Form und Inhalt ähnliches in wieder und wieder anderen Worten zu sagen und dabei einen Reichtum an Sprache zu entfalten, der nicht nur dem heutigen Englisch, sondern den Menschen generell verlorenzugehen droht.

Nachdem der Dichter in den ersten sechs Sonetten den Egoismus des jungen Mannes gerügt, seine Schönheit gepriesen und zu bedenken gegeben hat, daß diese, bleibt er kinderlos, ohne Nachfolger vergehen wird, scheint er mit dem siebten zunächst das Thema zu wechseln und beschreibt den Tageslauf der Sonne, die schließlich untergeht und kommt mit einem Paukenschlag und Wortspiel (sun - son) auf das Thema zurück. So wie die Sonne ohne Beachtung vergehe, so werde auch er einst sterben, setze er keinen Sohn in die Welt. Und es wird spätestens hier deutlich, daß das ganze Sonett gleichzeitig mit der Sonne auch den jungen Mann beschreibt.

So thou, thyself out-going in thy noon,
Unlook'd on diest unless you get a son.

Sonett 8 bringt eine Variation in Parallele zur Musik und zum Zusammenklang der Saiten, die den jungen Mann, der sie nicht gerne hört, daran gemahnen, daß er allein für sich ein Nichts ist.

Liest man die Sonette ungeachtet der Tatsache, daß jedes ursprünglich mehr oder weniger für sich gestanden hat und wahrscheinlich brieflich übermittelt oder in Gesellschaft vorgetragen wurde, in der heute vorgegebenen, wie bereits erwähnten fraglichen Abfolge, könnte man dennoch in Versuchung geraten, das Auf und Nieder eines ganzen Lebensabschnitts daraus abzulesen. Während Sonett 18 und 19 die Verewigung des jungen Mannes in den Versen des Dichter-Ichs zum Gegenstand haben, schildern die folgenden seine Schönheit und die Anziehungskraft, die er auf den Dichter ausübt. Nr. 25 hat die Vergänglichkeit von Ruhm und Würden im Gegensatz zur Liebe zum Gegenstand, 26 ist ein Begleitsonett für die Sendung einer Anzahl von Sonetten an den "Lord of my Love", und in 27 und 28 begibt sich dieser auf eine Reise. Für den Dichter beginnt dann eine Zeit des Sehnens und Gedenkens an verlorene Freunde. Der Leser erlebt im weiteren den Zwiespalt des Dichters zwischen seiner Neigung für den Freund und einer Entfremdung, die teils dessen gesellschaftlicher Stellung geschuldet, teils eine Folge dessen gleichgültigen und verletzenden Verhaltens dem Dichter gegenüber ist. Nie stellt sich der Dichter wirklich gegen den Freund, sucht ihn in allem zu entschuldigen. Er stellt nie den Standesunterschied an sich infrage.

Das folgende Bekenntnis und Friedensangebot ist heute genauso zu verstehen wie damals.


Sonnet 120

That thou were once unkind befriends me now,
And for that sorrow which I then did feel
Needs must I under my transgression bow,
Unless my nerves were brass or hammered steel.

For if you were by my unkindness shaken
As I by yours, y'have passed a hell of time,
And I, a tyrant, have no leisure taken
To weigh how once I suffered in your crime.

O that our night of woe might have remembered
My deepest sense how hard true sorrow hits,
And soon to you, as you to me, then tendered
The humble salve which wounded bosoms fits!

But that your trespass now becomes a fee;
Mine ransoms yours, and yours must ransom me.


Auch wenn man davon ausgeht, daß weite Teile nicht Shakespeares gelebter Biographie entsprechen, sind sie doch so lebendig und nachvollziehbar, daß man aufgrund der geschilderten Ereignisse und Gefühlslagen einen wirklichen Menschen vor sich zu haben meint, der sich dem Leser wie einem Tagebuch öffnet. Das folgende Sonett richtet sich - nicht ohne Selbstzweifel - an seine Geliebte, die sich dem jungen Mann zugewendet hat.


Sonett 134

So, now I have confessed that he is thine,
And I myself am mortgaged to thy will,
Myself I'll forfeit, so that other mine
Thou wilt restore to be my comfort still.

But thou wilt not, nor he will not be free,
For thou art covetous, and he is kind;
He learned but surety-like to write for me
Under that bond that him as fast doth bind.

The statute of thy beauty thou wilt take,
Thou usurer that put'st forth all to use,
And sue a friend came debtor for my sake;
So him I lose through my unkind abuse.

Him have I lost, thou hast both him and me;
He pays the whole, and yet I am not free.


Gleich, ob man ein Sonett nach dem anderen liest und zu ergründen sucht oder sich einfach das eine oder andere herauspickt und vor inhaltlichen Rätseln steht, ist die Beschäftigung mit diesen Kunstwerken in jeder Hinsicht ein sprachlicher Gewinn.


28. Dezember 2007


William Shakespeare
The Sonnets
herausgegeben von Raimund Borgmeier und Michael Hanke
Philipp Reclam jun., Stuttgart 2006
Reclams Universal-Bibliothek 19705
Fremdsprachentexte
192 Seiten, 4,80 Euro
ISBN-13: 978-3-15-019705-9
ISBN-10: 3-15-019705-8