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REZENSION/007: Andreas Heidtmann (Hg.) - poet nr. 7, literaturmagazin (SB)


poet nr.7, literaturmagazin


Lyrik auf der Flucht



Ein Ausflug in die deutsche Gegenwartslyrik gehört zu den im wahrsten Sinne des Wortes "frag"würdigsten poetischen Erlebnissen.

glattgeschwitzte gebärden, nach denen
der hahn kräht, der klee ruft: die herbe entfernung
zur kühle liegt abgeschminkt auf der
puderdose, ein wattepad rutscht in den spalt
der gechlorten reproduktion, gehälftelte mimik
in essig und wachs, [...]

(Kathrin Schmidt, verzogener atlas, S. 11)

Angenommen, Sie haben sich bisher noch nicht mit Gedichten auseinandergesetzt und wollen sie mithilfe einer Lyriksammlung von deutschen Gegenwartsgedichten kennenlernen, setzen sich erwartungsvoll in einen Sessel und beginnen mit diesen Gedichtzeilen ... Vielleicht ärgern Sie sich und blättern erst einmal weiter - und fragen sich langsam, was das ganze eigentlich soll. Vielleicht kommt Ihnen aber auch eine Assoziation beim Lesen einer Wortkombination wie "entfernung zur kühle" und Sie schweifen mit Ihren Gedanken ab, was Sie nachträglich sogar als entspannend und bereichernd empfinden könnten. Vielleicht klappen Sie aber auch verständnislos das Buch zu und wenn sie ein unverbesserlich beharrlicher Leser sind, informieren Sie sich eventuell über die Hintergründe wie Autorenbiographien und die theoretische und zeitgeschichtliche Tradition der deutschen Gegenwartslyrik, um überhaupt einen Zugang zu den Texten zu finden, denn ein unmittelbares "Verstehen" wird Ihnen verwehrt. Was bleibt? Vielleicht der Rausch der Klänge als "abgefahrenes" Konsumerlebnis und Ersatz für den Inhalt.

Es gehört schon Insiderwissen und ein unausgesprochener Konsens zwischen Dichter und Leser dazu, um sich in das zusammenhanglose Wortnebeneinander überhaupt hineinversetzen zu wollen und dafür begeistern zu können. Beispielhaft verliert sich Kathrin Schmidt auf höchst verkettetem Niveau in sinnentleerten Assoziationen - Verständnis und Logik ausgeschlossen. Während man sich noch Gebärden, die einen zum Schwitzen bringen, irgendwie zurechtfabulieren könnte, strapazieren "glattgeschwitzte" Gebärden den Verständniswillen. Sie stoßen ab, zumal das ganze so weitergeht: "gebärden, nach denen der hahn kräht, der klee ruft".

Welche Absicht steckt hinter dieser Art zu schreiben? Diese Frage führt mitten in eine Kontroverse, die um die Gegenwartslyrik ausgetragen wird und andauert. In "poet nr. 7", dem Literaturmagazin des Poetenladens ("Autoren im Netz"), wagt sich Herausgeber Andreas Heidtmann an das Thema unter der übergeordneten Fragestellung, ob sich die Autoren in erster Linie lieber als Lyriker oder als Romanautoren verstehen, heran. Neben einer repräsentativen Auswahl aktueller deutschsprachiger Lyrik und kurzen Prosatexten von sieben Autoren haben die Redakteure des "poeten" sechs ausführliche Interviews geführt und veröffentlicht, die Aufschluß über Intentionen, Selbstverständnis und Schreibpraxis der Dichter geben. Wenn man also wissen will, in welchen lyrischen Zusammenhängen und mit welchem Hintergrund ein Dichter heute schreibt, ist diese Sammlung erhellend.

So bietet sich an, mit Kathrin Schmidt fortzufahren:

Das waren dann so Momentaufnahmen mit angeschrägten Wörtern. Ja, ein gutes Gedicht ist für mich eine Momentaufnahme. Eine, die vorne und hinten offen ist. Ein Gebilde, das wir wie an einer Schnur sehen können, an der es auch noch verschiebbar ist ...

Ich habe da eher ganz abstrakte Vorstellungen als zum Beispiel inhaltliche. Wie man die Abstrakta dann mit Sinn füllt, das ist die zweite Frage. Das passiert bei mir eher intuitiv. Ich denke da wenig drüber nach; aber dann kommt ganz plötzlich ein Kick oder ein Knick, wo etwas wegspringt oder einen etwas anspringt.
(Kathrin Schmidt im Gespräch, S. 185)

Daraus soll man wohl verstehen, daß die Frage nach einer inhaltlichen Aussage des oben zitierten Gedichtes zu weit führt, und daß es zum Konsumieren auf der oberflächlichsten Ebene des Betrachtens oder Beobachtens auffordert ("ein Gebilde, das wir wie an einer Schnur sehen können"). Die unmittelbare Wirkung des Lyrischen ohne ausdrückliches Verstehen ist beabsichtigt und wird von der "Intuition" einer Dichterin hervorgerufen, die jede Art von Sinn durch Verfremdung des Wortmaterials vermeidet. Wörter sind leere Hüllen, wichtig ist nur ihre äußere Form wie ihr Klang oder ihr Sprechrhythmus: "Ein Gedicht ist immer ein tönendes, ein rhythmisches Gebilde." (S. 186). Die Sprache verliert ihre inhaltliche Substanz und wird als Form und Zeichensystem verwendet. Eindeutigkeiten werden so bewußt vermieden.

Man kann das selber testen, indem man die 73 Gedichtseiten des poeten durchliest. Dabei entsteht der Eindruck, daß es für unsere Dichter heute geradezu ein Markenzeichen bzw. eine Erfolgsstrategie zu sein scheint, sich nicht verständlich ausdrücken zu wollen. Formuliert ein Autor darüber hinaus ein inhaltliches Anliegen wie Christoph Wilhelm Aigner, dann bleiben ihm bei diesem Mainstream nicht viele Möglichkeiten:

K. BENDIXEN: In welchem Genre fühlst Du Dich am wohlsten?
C. W. Aigner: Zuerst waren es Gedichte, und das halte ich auch heute für die Königsdisziplin. Doch ich schreibe schon seit drei Jahren keine Gedichte mehr, weil ich eine sehr bestimmte Vorstellung davon habe, was ein Gedicht sei, und dieser Vorstellung ist nur schwer gerecht zu werden. Zu Gedichten gehört für mich eine bestimmte Lebenshaltung, ein bestimmtes Leben, eines mit vielen offenen Sinnen, ein ärmeres Leben, ein verzweifelteres Leben, ein einsames Leben, auch ein etwas naives und staunendes. Erst eine bestimmte Haltung kann ein Gedicht generieren. Ein Gedicht entsteht ja nicht in dem Moment, in dem man es schreibt [...]
Wichtig ist, dass eine Haltung dahinter steht, dass die Dichtung ein Rückgrat hat.
(Christoph Wilhelm Aigner im Gespräch, S. 192, 196)

Einmal unterstellt, ein Poet habe auch gegenwärtig noch irgendein Anliegen, so sind die Bemühungen, dieses zu "verlauten", recht zaghaft. Entweder gelingt das zufällig durch eine "Intuition" oder gar nicht - denn ein "Rückgrat" zu bewahren wird aufgesteckt - oder durch die für Außenseiter ungreifbare Formulierung, "in" der Sprache, nicht "mit" der Sprache zu arbeiten - in der man sich dann letztlich verläuft:

"Denn ich arbeite in der Sprache, nicht mit der Sprache, und vertraue darauf, dass die Sprache mit Zeitgenossenschaft und Wirklichkeit durchtränkt ist. Ich versuche, durch die Sprache, nicht mit der Sprache an die Gegenstände heranzukommen, die ich behandeln möchte."
(Robert Schindel im Gespräch, S. 201f)

Welche Schlußfolgerung auch immer ein solcher Autor für sich zieht, seine Gedichte der Öffentlichkeit zu präsentieren, so flieht er doch gleichzeitig den Kontakt zum Leser, denn um diesen zu erreichen, wäre ein Umgang mit Sprache vonnöten, der weit über das gegenwärtig in der Lyrik präsentierte Baukastensystem hinausginge. Von einer "Verdichtung" kann doch eigentlich nur die Rede sein, wenn man davon ausgeht, daß die Sprachverwendung keine Formfrage ist, sondern das Instrument, mit dem man Inhalte beeinflußt und gestaltet. Ein Disput über Sprachfiguren scheint aber der bequemere Weg zu sein, mit dem Problem umzugehen, das dann auftritt, wenn man etwas mitzuteilen hätte. Schnell würde sich dann zeigen, daß es mit den Kenntnissen um Sprache und ihre Wirkung nicht so weit her ist. Da wird lieber das vermeintlich Unkontrollierbare bevorzugt, die "Intuition", geheimnisvolle Sprachkräfte heraufbeschworen oder ein "Verstehensboykott" erklärt und zum Stilmittel gemacht (siehe Jahrbuch der Lyrik 2009., Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2009). Das ist ein Armutszeugnis für die deutsche Gegenwartslyrik.

Gleichwohl ist es mutig vom poeten, sich dieser Situation zu stellen und sie von allen möglichen Seiten zu beleuchten, auch durch Übersetzungen, diesmal durch einen Blick in die argentinische Lyrik, und durch Kurzprosa, die beide eine andere Sicht auf die Motivation und die Praxis zu schreiben vermitteln. Aber darüber soll hier nicht mehr verraten werden. Nicht immer verlaufen sich Dichter in der Sprache, fallen weich in die Assoziation auf der Flucht vor einer inhaltlichen Stellungnahme oder bleiben stecken bei dem Versuch, eine neue Sprache für unsere Zeit zu finden.

19. Dezember 2009


Andreas Heidtmann (Hrsg.),
poet nr. 7,
Das Magazin des Poetenladens,
Leipzig: poetenladen Herbst 2009,
halbjährlich
ISBN 978-3-940691-12-5