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BUCHBESPRECHUNG/046: "Brasilienblues" von Carl D. Goerdeler (Werner Geismar)


Von einem träumenden Riesen

von Werner Geismar, Juni 2013



Wer Brasilien, diesen träumenden Riesen und fünftgrößtes Land dieser Erde, besser verstehen möchte, der lese dieses hinreißende Buch mit seinen dreiunddreißig klugen, einfühlsamen, ironischen, elegant geschriebenen Sozial-Essays eines ausgewiesenen Kenners von Land und Leuten. Der Autor Carl D. Goerdeler, Ex-Diplomat an der Deutschen Botschaft in Tokio und Brasilia, mehr als zehn Jahre Südamerika-Korrespondent der ZEIT und anderer renommierter deutscher Zeitungen, lebt seit mehr als dreißig Jahren in Brasilien und beweist sich in seinem Buch "Brasilienblues" erneut als kluger Analyst der brasilianischen Geschichte, Kultur und Politik und ihrer zahlreichen Facetten. Er fördert mit seinen hintergründigen Geschichten aus dem Land des Samba und des Fußball, an dem alles Ideologische abzuperlen scheint, auch ganz erstaunliche Parallelen zur deutschen Wirklichkeit heraus, wenn er den "kölschen Klüngel" mit dem brasilianischen "jeitinho", der wortreichen brasilianischen Art der Korruption vergleicht, oder den Kölner Karneval mit dem brasilianischen Karneval. Wir lernen bei dieser Lektüre, dass der Satz "Für meine Freunde alles; für meine Gegner das Gesetz!" nicht etwa von einem CSU-Politiker stammt, sondern von Gerúlio Vargas, einem brasilianischen Präsidenten. Bei uns beherrschte die Tatsache, dass bayerische Landtagsabgeordnete Familienangehörige auf Staatskosten beschäftigt haben, wochenlang die Schlagzeilen der Presse, in Brasilien ist es bei den Parlamentariern des Bundesparlaments, der Bundesstaaten bis hin zu den Stadtparlamenten Usus, bis zu 25 Personen, vornehmlich Familienangehörige und gute Freunde, vom Staat für Büroarbeiten und Beratung monatlich fürstlich entlohnen zu lassen, und darüber regt sich in Brasilien niemand auf. Wir lernen auch, dass es der Traum eines jeden Mittelklasse-Brasilianers ist, Beamter zu werden, weil die Beamtenjobs überdurchschnittlich gut bezahlt werden. Für jeden dieser begehrten Jobs kann man sich bewerben und muss eine Aufnahmeprüfung in der Art der Multiple-Choice-Fragebögen bestehen. Die überwiegende Anzahl nehmen nicht etwa Fragen aus dem jeweiligen Fachbereich ein, sondern detaillierte Fragen der komplizierten portugiesisch-brasilianischen Grammatik. Wer sie nicht bis ins die letzte Verästelung beherrscht, kann zum Beispiel nicht bei der Müllabfuhr oder als Drogenfahnder arbeiten. Um diese Prüfungen rankt sich ein ganzer Industriezweig mit Privatschulen und Lernhilfen mit einem jährlichen Milliardenumsatz.

Man liest dieses Buch so gerne, weil es sich nicht auf Skurriles und Aberwitziges kapriziert, sondern auch den normalen brasilianischen Alltag seziert, die Ironie ist stets unprätentiös und unterkühlt wie brasilianisches Bier. Nur an wenigen Stellen, wie etwa in der Schlussgeschichte "Der Nazi bin ich" schimmert etwas wie verschmähte Liebe durch die Story.

Für jeden Brasilien-Reisende, der die Fußballweltmeisterschaft oder die Olympischen Spiele in Brasilien besuchen möchte, aber auch für jeden Geschäftsreisenden oder Urlauber ist das Buch "Brasilienblues" unbedingt empfehlenswert und besser als jeder Reiseführer.



Carl D. Goerdeler
Brasilienblues
Geschichten aus Brasilien
GardezVerlag (Remscheid)
14,95 EUR
ISBN 978-3-89796-242-2

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Quelle:
© 2013 by Werner Geismar, Remagen
mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juni 2013