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BUCHBESPRECHUNG/056: Crossing the River - Die Autobiografie von Victor Grossman (Gerhard Feldbauer)


Das bewegte Leben eines Kämpfers für Frieden, Gerechtigkeit und Sozialismus

Die Autobiografie von Victor Grossman

von Gerhard Feldbauer, 21. Mai 2014



Der Titel des Buches "Crossing the River" knüpft daran an, dass der US-Soldat einer Einheit in Bayern, Stephan Wechsler, am 12. August 1952 bei Linz über die Donau in die sowjetisch besetzte Zone Österreichs schwamm. Man kann den Titel aber auch als Wechsel auf die rettende Seite des Flusses verstehen. Später kam der Deserteur in die DDR, wo er, um seine Familie in den USA vor Repressalien zu schützen, den Namen Victor Grossman annahm. Jahrgang 1928 war er 1942 Mitglied der Young Communist League geworden, 1945 in die KP der USA eingetreten. Bei seiner Einberufung in die US-Army hatte er das verschwiegen. Kommilitonen mit denen er von 1945 bis 1949 an der Harvard University studierte, hatten ihn als "Roten" denunziert. Vor ein Militärgericht vorgeladen, drohten ihm wenigstens fünf Jahre Haft.


Geprägt von tiefem Gerechtigkeitsempfinden

Der Leser dieser spannend geschriebenen Autobiografie lernt das bewegte Leben des in Ost wie West schon lange bekannten vielseitigen Publizisten näher kennen, der von einem tiefen Gerechtigkeitsempfinden geprägt, sich unermüdlich für den Fortschritt der Menschen einsetzte, dabei seiner Heimat tief verbunden blieb. Man kann Grossman Leidenschaft nicht absprechen.


Diplom von der Havard- und der Karl-Marx-Universität

Der Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin jüdischer Abstammung aus Odessa bzw. dem Baltikum arbeitete nach dem Studium bis zu seiner Einberufung in die Armee als Industriearbeiter. Er kam einem Anliegen seiner Partei nach, für sie unter der Basis in den Betrieben zu wirken. Auch in der DDR wurde er zunächst Transportarbeiter im VEB Waggonbau Bautzen und dort als Dreher ausgebildet. Nachdem er als Leiter eines Klubs für Deserteure tätig war, studierte er 1954 bis 1958 an der Fakultät für Journalistik an der Universität in Leipzig und ist wohl der einzige Absolvent, der ein Diplom von der Havard- und der Karl-Marx-Universität vorweisen kann. Danach war er Lektor und Mitarbeiter beim englischsprachigen German Democratic Report, der Zeitung für die DDR-Auslandspropaganda, die der britische Journalist John Peet herausgab. 1963 wechselte er bis 1965 in die Redaktion für Nordamerika bei Radio Berlin International. Danach leitete er bis 1968 das Paul Robeson-Archiv an der Akademie der Künste der DDR, war später als freischaffender Journalist, Dolmetscher, Übersetzer und Englischlehrer tätig, beteiligte sich in der Solidaritätsbewegung für den von der US-amerikanischen Justiz unschuldig verurteilten afroamerikanischen Journalisten Mumia Abu-Jamal.


Sehnsucht nach der Heimat

Grossman schreibt von der Sehnsucht, die er immer nach den USA, seiner Heimat, nach der Familie, Freunden und Bekannten hatte, aber die juristische Verfolgung fürchtete. Als er die Zusicherung erhielt, dass seine Desertion nicht mehr verfolgt werde, reiste er 1994 erstmals wieder in die USA, kehrte jedoch danach in das Gebiet der früheren DDR, die inzwischen der Bundesrepublik angeschlossen worden war, zurück.

Der Autor lebte 38 Jahre in der 41 Jahre bestehenden DDR, die er seine zweite Heimat nennt. Es ist ein ehrlich geschriebenes Buch, in dem Victor Grossmann sich zur DDR mit ihren starken Seiten und ihren für ihn verständlichen Schwächen bekennt. "Ich fühlte mich wohl in der DDR, habe 1955 geheiratet. Ich konnte Journalismus studieren". Die umstrittene Mauer war für ihn tatsächlich ein Schutzwall vor den Häschern der US-Militärjustiz. Als ganz entscheidend hebt Grossman hervor, dass ihm als Linken, als Juden und als Antifaschisten, der nicht nur die Nazis hasste, sondern auch die Leute, die sie groß gemacht hatten, am meisten an der DDR zusagte, "dass diese Leute hier nicht mehr an der Macht waren".


Erlebniswelt Literatur und Theater

Eine Erlebniswelt war für ihn die international hochgeschätzte der Literatur und des Theaters. "Meine große Liebe waren die Stücke von Brecht im Berliner Ensemble, auch Stücke im Deutschen Theater, und vor allem die wunderbaren Opernaufführungen von Felsenstein in der Komischen Oper. Das waren unvergessliche - und bestimmt weltweit unübertroffene Höhepunkte. Ich las auch viel, natürlich am liebsten die eher kontroversen Autoren wie Kant, Strittmatter, Christa Wolf, Erik Neutsch, Alfred Wellm".


Dass die Macht des Kapitals beseitigt war

Es ist schon aufschlussreich und lesenswert, wenn Grossman Vergleiche zum Leben im Kapitalismus in seiner Heimat und zu seinem in der DDR gelebten zieht und schreibt, dass es ihm wichtig schien, dass trotz Verzerrung der Ideale, "es niemals möglich war, dass eine Handvoll von Familien 40 und mehr Prozent des Reichtums besaß, während Kinder in Armut lebten, kein Dach über dem Kopf hatten." In seiner Familie im Sinne der internationalen Solidarität erzogen, hebt er hervor: "Nur die DDR unterstützte Algerien, Allende, Mandelas ANC usw. Das war immer grundlegender für mich als ihre negativen Seiten. Als Amerikaner konnte ich mich zudem auch über vieles freuen, was es so in den USA nicht gab: etwa die kostenlose Gesundheitsversorgung, das kostenlose Studium, Krippe und Kindergarten praktisch kostenlos, Ferienlager. Vor allem: Die Leute hatten keine Angst um ihren Arbeitsplatz - und das ist heute die größte Angst, nicht nur der Deutschen, auch in den USA." Grossman bekennt: "ich war nie ein blinder Verklärer der DDR, aber ich sah sie doch mit als mein Land. Ich hatte zwei Länder, die DDR war das zweite. Ich sah, wie sie langsam den Bach runterkam. Froh war ich nicht darüber. Ganz im Gegenteil." So erwähnt er auch den nach der "Wende" bekannt gewordenen Witz, dass es in der DDR nicht geraten war, "Honecker oder die hohe Parteiführung laut zu kritisieren. Aber gegen den Meister, den Abteilungsleiter oder den Manager konnte ich, ohne Angst vor der Entlassung, so laut schimpfen wie ich wollte. Heute ist es umgekehrt. Gegen den Kanzler oder Minister kann ich fluchen so laut ich will. Doch wer heute seine Stelle behalten will - über die Vorgesetzten in der Arbeitsstelle hält er klug die Schnauze!"


Eine etwas andere Sicht auf die "Stasi"

Grossman verschweigt nicht, dass es Versuche des MfS gab, ihn für eine Mitarbeit zu gewinnen. Er lehnte ab, hält aber fest: "keinesfalls will ich sie schönfärben. Dennoch meine ich im Nachhinein, sie war weitaus weniger furchteinflößend als heute dargestellt wird - außer natürlich für relativ wenige Leute, die irgendwo in der Opposition organisiert oder auch vermutet wurden oder die Mauer überwinden wollten." Er stellt dem gegenüber, was ihm über seine Anwältin in den USA darüber bekannt wurde, wie das FBI ihn in den USA beobachtete und auch später in der DDR. Jede Spende für diese oder jene gute Sache wurde registriert. Elfhundert Seiten bekam er zu Gesicht, dabei vieles geschwärzt. "All das, obwohl meine linke Tätigkeit in den USA gegen Rassismus, Unterdrückung und Krieg gerichtet war, und nie ungesetzlich, außer der schicksalhaften Unterschrift, als ich eingezogen wurde. Mein Wissen über das FBI bedeutet, dass ich all das, was die Stasi betraf, etwas anders betrachte, als die meisten."

Victor Grossman lebt heute in Berlin und ist weiter politisch aktiv, hält Vorträge, schreibt für verschiedene Publikationen, darunter ein Kommentar-Blog über Aspekte der Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland in Englisch für amerikanische Leser, und versucht, die Erfahrungen seines reichen Kämpferlebens in die Partei Die Linke einzubringen. Victor Grossman bekennt am Ende: "Ich glaube, ich stand immer auf der Seite der 'Kleinen', der hart Arbeitenden, der Ausgebeuteten und der von jedem Krieg und jeder Krise am meisten Betroffenen. Ich habe gelernt, zu akzeptieren, dass ich nicht erwarten darf, dass jeder da unbedingt aktiv mitmacht, dennoch habe ich jene besonders geschätzt und als Brüder und Schwestern gesehen, die sich für eine bessere Welt einsetzen." So mancher Leser, der selbst aktiv im politischen Kampf steht, wird verstehen, was er über den Schmerz schreibt, den der Verlust seiner Frau Renate, die die Last und die Entbehrungen seines aufopferungsvollen Lebens 54 Jahre mittrug, für ihn bedeutete.


Danke Comrade Victor Grossman

Grossman bleibt Optimist, wenn er hinzufügt: "Trotz der Niederlage des großen Experiments des 20. Jahrhunderts zwischen Ostberlin und Wladiwostok, durch tragische interne Fehler wie durch eine äußere Übermacht, muss der Traum nach einer gesunderen, glücklicheren Welt weiter leben." Und er gelobt, ich mache mit, "solange ich kann".

Nicht oft habe ich ein Buch mit so viel Interesse und Aufmerksamkeit gelesen, wie dieses. Danke, Comrade Victor Grossman, für diesen Erlebnisbericht, der von Deinem unermüdlichen Einsatz für eine bessere Welt erzählt, und alles Gute für dein weiteres Schaffen auf diesem Weg.


Victor Grossman. Crossing the River. Vom Brodway zur Karl-Marx-Allee: Eine Autobiografie. Verlag Wiljo Heinen. Berlin und Blöklund, 2014. 24,80 Euro (D). ISBN: 978-3955154-015-1.

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Quelle:
© 2014 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Mai 2014