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BUCHBESPRECHUNG/083: "Autonomie. Eine Verteidigung" von Michael Pauen, Harald Welzer (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Michael Pauen, Harald Welzer

"Autonomie. Eine Verteidigung"

von Klaus Ludwig Helf, 26. Oktober 2015


Autonomie als Persönlichkeitseigenschaft wurde bisher kaum wissenschaftlich untersucht, wobei einige Forscher sogar so weit gehen, die menschliche Fähigkeit autonomen Handelns grundsätzlich in Frage zu stellen. In einem interdisziplinären Forschungsprojekt (2009-2013) untersuchten Michael Pauen und Harald Welzer auf mehreren Analyseebenen diese Persönlichkeitseigenschaft und Verhaltensvariable, die für die Funktionsweise demokratischer Gemeinwesen zentral ist, um damit auch bedeutende Hinweise für die Gestaltung politischer, sozialer und pädagogischer Handlungsfelder zu liefern. Ein Teilergebnis ihrer Forschungsarbeiten liegt jetzt als Buch im S. Fischer Verlag vor.

Harald Welzer (*1958) ist Soziologe und Sozialpsychologe, Mitbegründer und Direktor der gemeinnützigen Stiftung "Futurzwei", seit 2012 Honorarprofessor für Transformationsdesign an der Europa-Universität Flensburg, wo er das "Norbert Elias Center for Transformation Design & Research" leitet; 2013 erschien im selben Verlag sein viel diskutiertes Buch "Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand". Michael Pauen (*1956) ist Philosoph und Professor an der Humboldt-Universität Berlin, seine Hauptarbeitsgebiete sind die Philosophie des Geistes und die Kulturphilosophie; seine Arbeiten reflektieren insbesondere die Tradition des Kulturpessimismus.

Nach der Einleitung folgen fünf Kapitel: Begriff der Autonomie/ Geschichte der Autonomie /Empirische Erkenntnisse/ Autonomie heute und Eine Verteidigung der Autonomie. Ausführliche Anmerkungen, eine ergiebige Literaturliste und ein umfassendes Namens- und Sachregister erleichtern das Auffinden und das Nach- und Weiterarbeiten am Thema. Autonomie - im Gegensatz zu Heteronomie und Anomie - definieren Plauen und Welzer als Fähigkeit, "... selbstbestimmt, also im Sinne eigener Wünsche und Überzeugungen zu handeln, und zwar auch dann, wenn dazu Widerstände zu überwinden sind ... Konformismus ... ist nicht grundsätzlich schlecht, allerdings ist die Ausbildung von Autonomie wichtig für moderne, hochdifferenzierte Gesellschaften, weil nur so die Vielfalt komplexer Entscheidungnotwendigkeiten bewältigt werden kann" (S.50). Autonomie gebe vor allem seit der Aufklärung auch dem Einzelnen größere Freiheitsspielräume und sei eine zivilisatorische Errungenschaft, die heute allerdings höchst gefährdet sei.

Den beiden Autoren gelingt es in beeindruckender Weise, in einem gewaltigen historisch-sozialpsychologischen Parforce-Ritt durch die Menschheits- und Zivilisationsgeschichte das Auf- und Ab von Autonomie und Freiheit komprimiert und trennscharf herauszuarbeiten und durch empirische Erkenntnisse zu untermauern. Der Mythos der Aufklärung beginne bereits mit der Schöpfungsgeschichte; Aufklärung und Fortschritt seien nicht umsonst nicht zu haben; das Paradies war bequem, aber wir Menschen waren nicht frei: "Eva emanzipiert sich gegenüber dem göttlichen Gebot und isst den Apfel vom Baum der Erkenntnis - am Beginn der Freiheit steht Autonomie als Ungehorsam. Die ungeheure ordnungssprengende Kraft des Willens zur Freiheit findet also bereits alttestamentarisch ihren radikalen Ausdruck" (S.208). Bereits hier in dem Mythos werde die Dialektik der Autonomie deutlich: Die Vertreibung aus dem Paradies, der Verlust des Aufgehobenseins hatten automatisch zur Folge - wie auch die reale Geschichte in Jahrtausenden gezeigt habe -, dass die Menschen chronisch damit konfrontiert waren, sich selbständig und selbstverantwortlich orientieren und entscheiden zu müssen: "Freiheit und Autonomie sind deshalb immer auch Zumutungen, und daher ist es kein Zufall, dass Gesellschaften immer Räume angeboten haben, sich von dieser Zumutung zu entlasten: durch Rituale, Rausch, Massenereignisse, die es dem Individuum erlauben, wenigstens zeitweilig der Zumutung der Freiheit zu entrinnen und emotional mit einem Kollektiv zu verschmelzen" (S.208/209).

Das sei auch - wie Hannah Arendt in ihrem Buch über Totalitarismus nachzuweisen versuchte - die psychologische Grundlage für eine bei Menschen prinzipiell immer vorhandene und aktivierbare Grundbereitschaft, sich totalitären Entwicklungen unterzuordnen. Aktuell sei dieses Phänomen auch bei den islamistischen Fundamentalisten zu beobachten. Autonomie und Freiheit seien - so die Autoren - seit der Aufklärung zentrale Werte nicht nur für demokratisch verfasste Staaten, sondern auch für die Individuen selbst; Autonomie sei weder eine anthropologische Konstante noch unabhängig von kulturellen, sozialen und situativen Bedingungen. In der Geschichte der Menschheit gebe es einerseits eine permanente, konfliktreiche, von Niederlagen und Rückschritten gekennzeichnete Erweiterung von persönlichen Handlungsspielräumen, andererseits bis heute auch immer wieder Prozesse des Zivilisationsverlustes, die auch Spielräume für Freiheit und Autonomie massiv einschränken. Aber es gelte auch: "Autonomie und Freiheit erscheinen nicht allen Menschen unter allen Bedingungen als willkommen; sie könne auch als Belastung und Zumutung wahrgenommen werden, da sie Entscheidungszwänge auferlegen, denen viele nur gern entkommen würden" (S.265).

In Anlehnung vor allem an den Philosophen Günther Anders (+ 1992) diagnostizieren Pauen und Welzer einen modernen, schleichenden, gewaltfreien und unideologischen Totalitarismus durch konsequente Sammlung, Vernetzung und Vermarktung auch von privaten Daten durch Google Co; auch der Staat ist nicht unerheblich mit daran beteiligt: "Freiheit und Selbstbestimmung gehören zum rechtsstaatlichen Subjekt ebenso wie Privatheit und Unverletzlichkeit der Person. Und Freiheit und Selbstbestimmung sind radikal gefährdet, wenn die Informationsindustrie das Verhalten der Menschen ebenso zu steuern begonnen hat wie ihr wirtschaftliches Schicksal" (S.226). Diesem neuen Totalitarismus genüge es vollkommen, wenn die Menschen das tun, was von ihnen gewollt wird - ohne Zwang, ohne Terror - deshalb gebe es kaum ein Entkommen; seine Ideologie bestehe lediglich in der "überaus freundlichen Absicht", die Welt noch ein bisschen besser zu machen: "Dieses Bessere hat keinen Referenzpunkt jenseits seiner selbst" (S.227). Demokratie, Freiheit und Sicherheit und das erreichte Zivilisationsniveau sei über lange Zeiträume erstritten und erkämpft worden und habe uns immense individuelle Handlungsspielräume geschaffen; diese seien aber fragil und nie sicher und müssten daher immer wieder geschützt und erweitert werden. Aber nur freie Menschen seien in der Lage, ihre Freiheiten gegen Angriffe zu verteidigen; die größte Gefahr für unsere Autonomie sehen die Autoren in der Veränderung der "Sozialität, die durch die Bereitstellung, Erfassung und Algorithmisierung aller Daten geschieht, die unser privates Leben betreffen ... wie diese unauffälligen, durch Komfortzwänge attraktiv erscheinenden und sehr schnell von fast allen geteilten Wandlungen in den kommunikativen Standards unsere sozialen und politische Standards verändern" (S.281/282).

Die Hauptthese der Autoren, dass wir durch den fast unkontrollierten und ubiquitären Einsatz der digitalen Techniken in unserer Autonomie erheblich eingegrenzt seien und dass somit auch unsere Demokratie gefährdet sei, wird durch die Autoren in diesem Band plausibel bewiesen. Und darüber muss öffentlich debattiert und entsprechend rasch gehandelt werden. Das letzte Kapitel - einschließlich der praktischen Verhaltensregeln - fällt schmal, knapp und wenig originell aus und lässt uns etwas ratlos zurück, auch angesichts der zuvor vortrefflich herausgearbeiteten scharfen Analyse der Gefährdungspotenziale für die persönliche Autonomie im digitalen Konsum- und Finanzkapitalismus. Es sind mehr oder minder private und persönliche Vermeidungs- und Unterlassungsstrategien, die hier ausgebreitet werden ("Üben Sie digitale Askese, wo immer es geht" / "Don't believe the Hype" / oder "Treten Sie für Ihr eigenes Urteil ein!"). Wenn die These stimmt, dass wir es heute mit den Ausformungen eines modernen, gewaltfreien, schleichenden Totalitarismus zu tun haben, dann sind die Autoren grandios in der Analyse, aber in der Bereitstellung einer politischen Strategie zur Abwendung dieser Gefahren gescheitert. Schade eigentlich - das müssen dann andere übernehmen. Trotz dieser Einwände ist dieses Buch lesenswert, inspirierend und aufrüttelnd.

Michael Pauen, Harald Welzer
Autonomie. Eine Verteidigung
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2015
Gebunden
336 Seiten
19,99 EUR

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Quelle:
© 2015 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Oktober 2015

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