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BUCHBESPRECHUNG/122: "Kultur der Digitalität" von Felix Stalder (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Felix Stalder
Kultur der Digitalität

von Klaus Ludwig Helf, November 2016


In seinem neuen Band analysiert Felix Stalder die tiefgreifenden gesellschaftlichen Veränderungen, die die digitale Transformation in den letzten zwanzig Jahren hervorgebracht hat. Er bemüht sich dabei auch, alternative Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. In Anlehnung an seinen akademischen Lehrer Manuel Castells geht er davon aus, dass sich seit den 80er Jahren ein neuer Gesellschaftstyp entwickele, das Netzwerk, das zunehmend das traditionelle, hierarchische Organisationsmodell ablöse oder ergänze; zentrale gesellschaftliche Funktionen würden in instrumentellen Netzwerken mit einer eigenen Dynamik organisiert und die Logik der Netzwerke sei in der Gesellschaft dominant; Netzwerkgesellschaft und Internet bedingten und beförderten sich gegenseitig.

Felix Stalder ist Professor für Digitale Kultur und Theorien der Vernetzung an der Zürcher Hochschule der Künste, Forscher und Vorstandsmitglied am World-Information Institut in Wien und langjähriger Moderator der internationalen Mailingliste; er forscht über das Wechselverhältnis von Gesellschaft, Kultur und Technologie (Schwerpunkte: Netzkultur, Urheberrecht, Commons, Privatsphäre, Kontrollgesellschaft und Subjektivität).

Drei Jahre - so Stalder - habe er gebraucht, um den vorliegenden Band zu schreiben; diese intensive Arbeit kann man bei der nicht einfachen Lektüre durchaus nachvollziehen. Nach der Einleitung über die Zeit nach dem Ende der «Gutenberg-Galaxis« folgen drei Kapitel: Wege in die Digitalität / Formen der Digitalität / Richtungen des Politischen in der Digitalität.

Entscheidend für das Verständnis von Titel und Buch ist ein erweiterter Kulturbegriff: "... Kultur ist nicht symbolisches Beiwerk, kein einfacher Überbau, sondern sie ist handlungsanleitend und gesellschaftformend" (S. 16). Kultur manifestiere sich nicht nur in Zeichen und Symbolen, sondern inspiriere Praktiken, die sich in Artefakten, Institutionen und Lebenswelten verdichten. Die Entwicklung der Digitalisierung in der Netzwerkgesellschaft sei - so Stalder - mehrdimensional und deshalb schwierig zu analysieren: Einerseits fördere sie die Entstehung von international agierenden, einflussreichen und mächtigen kapitalistischen Konzernen und Konglomeraten wie z.B. Google, Facebook, Twitter, Apple und Amazon. Gleichzeitig entwickelten sich wirkmächtig kleine, gemeinnützige und selbstorganisierte Netzwerke, «Commons«, wie z.B. Wikipedia oder die Open Data Bewegung. Die Kultur der Digitalität formatiere zunehmend unsere Kommunikation und damit auch den politischen Diskurs; es sei deshalb nicht gleichgültig, welche technischen Systeme dabei angewendet werden, zumal die Entwicklung von zunächst scheinbar offenen zu geschlossenen Kommunikationssystemen hinauslaufe wie bei Facebook, Twitter, Instagram.

Im ersten Kapitel werden die diskursiven und sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen für die Entstehung und Entwicklung einer digitalen Kultur untersucht; entscheidende Faktoren dabei seien die Auflösung von Heteronormativität, die wachsende Bedeutung der Wissensökonomie, die Entwicklung einer Netzwerkstruktur und die soziale Dimension von Design-Prozessen. Im zweiten Kapitel präsentiert Stalder die Formen digitaler Kultur: Referentialität (freier Umgang mit transparent markierten Quellen im Montage-Verfahren), Gemeinschaftlichkeit (offener Austausch von Wissen und Fertigkeiten verbunden mit gemeinschaftlicher Verteilung von Ressourcen) und Algorithmizität (computergestützte Automatismen). Im dritten Kapitel analysiert Stalder die politischen Dimensionen der Kultur der Digitalität; als deren Gegenbewegungen sieht er die Konzepte der «Postdemokratie« sowie der «Commons«. Die Entstehung und Ausbreitung der Kultur der Digitalität sei die Folge eines weitreichenden, unumkehrbaren gesellschaftlichen Wandels, der bis ins 19. Jahrhundert zurückreiche und sich seit den sechziger Jahren beschleunigt und erweitert habe - so die Haupt-These des Autors. Immer mehr Menschen beteiligten sich an kulturellen Prozessen: "Die Anzahl konkurrierender kultureller Projekte, Werke, Referenzpunkte und -systeme steigt rasant an, was wiederum eine sich zuspitzende Krise der etablierten Formen und Institutionen der Kultur ausgelöst hat die nicht darauf ausgerichtet sind, mit dieser Flut an Bedeutungsansprüchen umzugehen" (S. 11). Diese enorme Vervielfältigung kultureller Möglichkeiten mit stärker werdender Präsenz auch im Alltag finde nicht nur Anhänger, sondern löse auch "... Wellen der Nostalgie, diffuse Ressentiments und intellektueller Panik aus. Konservative und reaktionäre Bewegungen, die sich gegen den Wandel stemmen und die alten Zustände bewahren oder gar wiederherstellen wollen, verzeichnen Zulauf" (S. 10).

Die Kultur der Digitalität habe zwei unterschiedliche politische Entwicklungsrichtungen hervorgebracht. Die «Postdemokratie« schaffe eine autoritäre Gesellschaft mit großer kultureller Vielfalt, aber mit wenig Einfluss der Menschen auf politische und ökonomische Entscheidungen und Strukturen, mit datenintensiver, flächendeckender Überwachung und sozialer und ökonomischer Ungleichheit. Die Entwicklungsrichtung zu den «Commons« dagegen führe zu einer Erneuerung der Demokratie "... aufbauend auf Institutionen, die sich jenseits von Markt und Staat verorten. Im Zentrum steht eine neue Verbindung ökonomischer, sozialer und ... auch ökologischer Dimensionen des Alltags auf Basis datenintensiver Beteiligungsverfahren" (S. 280). Welche der beiden Entwicklungsrichtungen sich zukünftig durchsetzen werde, sei ungewiss und offen. Die von der «Postdemokratie« behauptete technokratische Alternativlosigkeit werde aber durch «Commons« als eine Form der Manipulation entlarvt: "Denn die Entwicklung der Commons zeigt, dass es echte, fundamentale Alternativen auf der Höhe der Zeit gibt. Diese Widersprüchlichkeit der Gegenwart öffnet den Raum der Zukunft«. (S. 281). Stalder gelingt es, das komplizierte und komplexe Wechselspiel von technologischen, sozialen und gesellschaftlichen Entwicklungen darzustellen und zu analysieren und dabei potenzielle Handlungsoptionen auszuloten; er hat einen vortrefflichen Diskussionsbeitrag über die Digitalisierung unserer Gesellschaft geliefert. Aber Vorsicht: man muss sich schon viel Zeit und Ruhe gönnen, den kompakten und zuweilen abstrakten Stoff zu bewältigen; aber es lohnt sich.

Felix Stalder:
Kultur der Digitalität,
Suhrkamp Verlag, Berlin 2016,
edition suhrkamp 2679,
284 Seiten

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Quelle:
© 2016 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. November 2016

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