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BUCHBESPRECHUNG/130: "Panikmache" von Jörg Schindler (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Jörg Schindler
Panikmache. Wie wir vor lauter Angst unser Leben verpassen.

von Klaus Ludwig Helf, Februar 2017


Die «Stiftung für Zukunftsfragen« attestierte 2015 bei der Präsentation der Ergebnisse ihrer jährlichen Umfragen eine Rückkehr der «German Angst«; Jörg Schindler stellt dagegen gleich am Anfang des vorliegenden Bandes die steile These auf, dass die gefühlte und die tatsächliche Bedrohungslage in Deutschland weit auseinander klafften - auch beim Terrorismus: "Wir leben in so sicheren Verhältnissen wie selten zuvor. Elend und Krieg kennen die meisten Deutschen ... nur noch aus Erzählungen. Zwar ist der Reichtum in unserem Land grotesk ungleich verteilt, aber in bittererster Armut leben die wenigsten, kaum jemand leidet Hunger. Unser Essen ist, allen Lebensmittelskandalen zum Trotz, so gesund wie selten zuvor" (S.14). Die Bedrohungen unseres Lebens - so der Autor weiter - nähmen kontinuierlich ab und wir lebten in einer "paradoxen Wirklichkeit": "Wir sind die gesündesten, reichsten und am längsten lebenden Menschen der Geschichte. Und wir werden immer ängstlicher" (S.17).

Die Anzeichen für diese panischen Ängste sind im Sicherheitsbereich u.a. Fußfesseln für vermutete Terroristen, drastische Absatzsteigerungen bei Pfeffersprays, Schreckschusswaffen und Messern, Ausweitung der Video-Überwachungen im öffentlichen Raum und Aufblähung privater Sicherheitsdienste, im Gesundheitsbereich u.a. Fitness- und Wellness-Apps, die Herzfrequenzen, Puls, Muskel- und Fettanteil kontrollieren, Superfood als Medizin der Zukunft gegen Laktose, Gluten und Histamin, in Erziehung und Bildung u.a. Helikoptereltern, Überbetreuung und soziale Abschottung in privaten Schulen und Hochschulen, aber andererseits auch freiwillige totale digitale Selbstentblößung z.B. in den sozialen Netzen. Diesen Widersprüchlichkeiten einer «paradoxen Wirklichkeit« geht Jörg Schindler in seinem neuesten Buch gründlich auf die Spur und ermahnt uns, das Leben vor lauter Angst und Panik nicht zu verpassen.

Jörg Schindler (* 1968) ist seit 2012 Reporter im Berliner SPIEGEL-Büro, zuständig für die Themenbereiche Terrorismus, Extremismus und innere Sicherheit und Träger des Wächterpreis der deutschen Tagespresse der Stiftung «Freiheit der Presse« 2009; 2014 zusammen mit Kollegen erhielt er den Henri-Nannen-Preis für «Beste investigative Leistung« für die Artikel zur NSA-Affäre. Schindler wurde erstmals bekannt durch seine Recherchen über die sexuellen Übergriffe in der Odenwaldschule.

Nach der Einleitung ("Alarmzustand") folgen fünf Kapitel mit den Themen: Wohlstandsängste, Wurzeln der Angst, Spiele mit der Angst, Terrorisierung der Gesellschaft und entfesselte Angst; am Schluss des Bandes stehen ein Abspann ("Keine Panik"), Dank, ein Literaturverzeichnis und der Anmerkungsapparat. Angst sei "ein ziemlicher Seismograph für tektonische Verschiebungen in Gesellschaften" und auch ein "wunderbares Ruhigstellungs- und Manipulationsinstrument": "Heute begegnen wir den Überwachungsorgien privater Konzerne und staatlicher Dienste mit fröhlichen Gleichmut - solange sie unserer Sicherheit dienen und die ist, da kann man sicher sein, fast immer bedroht. Wir sind von Angstmachern umgeben" (S.20). Wer sind diese und was wollen sie? Damit beschäftigt sich der vorliegende Band und wirft einen kritischen Blick auf die aktuellen Ängste in unserer Gesellschaft. Es geht dem Autor dabei vor allem um die Rolle der Medien mit ihren Katastrophen- und Schreckensbildern aus der ganzen Welt, um die Wirtschaft mit Sicherheits- und Überwachungstechniken, um die Sicherheitsbehörden mit ihrem Drang nach Macht durch Überwachung und letztlich um die Politik, die um Wählerstimmen wirbt. Mit der Durchsetzung des Neoliberalismus habe das Individuum eine Umwidmung erfahren durch die schrittweise Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche. Die Deregulierung bedeute gleichzeitig mehr Eigenverantwortung für den Einzelnen und fördere den gegenseitigen Konkurrenzkampf.

Die letzte Konsequenz eines totalen Individualismus sei die Einsamkeit: "Wo Statusgewinn und Eigensicherung die herausragenden Ziele sind, kann man sich schlicht nicht mehr auf andere verlassen. Das Einzige, das man dann noch miteinander gemein hat, ist die Angst. Die Angst, abgehängt zu werden, das Nachsehen zu haben, Letzter zu sein" (S.81). Trotz relativ gesunder ökonomischer Stabilität - im Vergleich zu anderen westlichen Industriestaaten - rumore die Angst vor Arbeitslosigkeit und Abstieg in einem Großteil der Bundesbürger und habe auch die Jungen fest im Griff: "Die zunehmende Angst betrifft vor allem die «mittleren Lagen in unserer Gesellschaft« ... Und das liegt vor allem daran, dass die soziale Leiter sehr viel länger, ihr Anstiegswinkel spitzer geworden ist. Der Weg nach oben wird damit immer beschwerlicher, der Blick nach unten, wo sich schon jetzt ein Heer der Abgehängten tummelt, immer schwindelerregender. Anders als in der Vergangenheit ist nicht mehr von vornherein ausgemacht, in welche Richtung es eigentlich geht. Die Folge ist wachsende «Status-Angst« (S.69/70).

Das "kapitalistische Vademecum der vergangenen Jahrzehnte, dass vielleicht nicht alles gut, aber doch wenigstens besser werde, tönt zurzeit ein wenig hohl" (S.75), zumal auch die Scheren bei den Vermögens- und Einkommensentwicklungen weit auseinanderklafften und sich die Kluft zwischen Arm und Reich stetig vertiefe.

Jörg Schindler beleuchtet auch die Hintergründe der Vertrauenskrise im Journalismus und in den Medien. Er berichtet von haarsträubenden Beispielen eines Hau-Ruck-Journalismus, der seine eigene Glaubwürdigkeit untergrabe. Im manischen Bemühen, schneller, besser und lauter zu sein als die Konkurrenz, durchlöchern viele inzwischen fast schon lustvoll ihre eigenen Qualitätsstandards und beschleunigen damit den Niedergang. Hinter den bedenklichen und peinlichen Entgleisungen der Medienbranche vermutet Jörg Schindler zu Recht keine mutwillige systematische Verdummungs- oder gar Verschwörungsstrategie der «Lügenpresse« oder der «gekauften Journalisten«, sondern fahrlässige und kritiklose Übernahme offizieller Lesarten und «sozialer Medien«: "Die Wahrheit ist prosaischer. Sie handelt von Journalisten, die einer stetig wachsenden Informationsflut, einem stetig wachsenden Zeit- und Konkurrenzdruck mit immer weniger Mitteln und Möglichkeiten gegenüberstehen. Woraus die meisten nach wie vor versuchen, das Beste zu machen. Manche ziehen aber auch das Einfache dem Komplexen vor und nehmen dabei Fehler und Unschärfen in Kauf" (S.155). Diese schwarzen Schafe verzichteten weitgehend auf Recherche und ersetzten diese durch Ahnung und Meinung. Mit dem Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen steht Jörg Schindler für einen entschleunigten, nachdenklichen Journalismus mit tiefenscharfer Recherche und genauer und unabhängiger Beobachtung - darin liege die Zukunft und Chance eines verantwortungsbewussten Journalismus auch in Zeiten der schnellen und flüchtigen digitalen Medien.

Bei der Angst vor dem Terror wurde - so Jörg Schindler - die Paranoia zum Staatsmodell; die Hoffnung, den Terror bereits in seiner Entstehung verhindern zu können, sei allmählich zu einer "regelrechten Obsession" angewachsen. Der Staat, die Sicherheitsbehörden und auch gesellschaftliche Akteure hätten den Terror als "Generalschlüssel zur Lösung ihrer Probleme" entdeckt, so dass man bei deren Bedrohungsszenarien kaum noch unterscheiden könne zwischen Hysterie und gezielter Angstpolitik einerseits und angemessener Furcht und Vorsichtsmaßnahme andererseits: "Im Fokus stand dabei aber nicht etwa die Frage, welche sozialen, kulturellen und psychologischen Faktoren zur Radikalisierung des Einzelnen beitragen, sondern allein die Verhinderung der Tat. Die konnte, so das Mantra, von jedem, jederzeit an jedem Ort begangen werden" (S.190). Während im Bereich der Cyberkriminalität, der Datensammlung bei Netzaktivitäten und bei der staatlichen Datenüberwachung die Gefahren chronisch unterschätzt würden, nehme die Angst vor Terrorismus und Islamismus und auch vor gesundheitlichen Schäden oft groteske hysterische Züge an. Angst sei ein emotionales Gefühl, das überlebensnotwendig sei, andrerseits müsse man damit auch rational umgehen. Was ist zu tun? Einfache Rezepte gibt es nicht. Schindler empfiehlt, hinter die Kulissen der Angst zu blicken: "Man würde nämlich entdecken, dass vielfach erst unsere Art zu wirtschaften, zu arbeiten, zu leben zu den Umständen führt, vor denen sich alle fürchten. Das freilich hieße, bisweilen seinen Instinkt zu hinterfragen und nicht jeder Panikmache auf den Leim zu gehen. «Eine solche innere Revolution sorgt für mehr Aufklärung und weniger Angst im Leben«" (S.271). Viele Menschen seien aber damit zufrieden, ihre Sorgen und Nöte auf einen Sündenbock zu projizieren, der ihnen präsentiert werde und gegen den sie dann mit immer größerer Verbissenheit Schutzwälle errichten: "Und am Ende sind sie eingesperrt mit ihrer Angst. Wo sich Angst breitmacht, bleibt jedoch kein Platz für Phantasie, für Ideen, für neue Lebensentwürfe ... Denn für den Ängstlichen ist jede Veränderung eine Bedrohung ... Der unterlässt alles, was seine Sicherheit bedroht, und versucht damit auch, den Zufall, die Spontaneität, die Überraschung, den Reiz des Unberechenbaren aus seinem Leben zu verbannen" (S.271/272).

Die Idee zu seinem Buch - so der Autor im Abspann - sei lange vor dem Aufwind von Pegida und der AfD entstanden, die aus der Angst ein Geschäftsmodell gemacht hätten; ihre anwachsende Resonanz in der Gesellschaft habe den Autor in seinen Recherchen und beim Schreiben beflügelt. Schindler gelingt es, in sehr gut lesbarem Format, pointiert und analytisch anhand einer Fülle von Beispielen und wissenschaftlichen Belegen hinter die Kulissen der Ängste in unserer Gesellschaft zu blicken. Es gelingt ihm, die Panik- und Angstmomente in unserer Gesellschaft zu analysieren und zu dekonstruieren, kritische Bedrohungen auszumachen, bei denen wir wachsam sein müssen und andere als hysterisierend zu entlarven. Jörg Schind ler hat ein wichtiges Buch gegen falsche Panikmache und Verunsicherung geschrieben. Am Schluss des Bandes gibt er uns noch einen aufmunternden Handlungshinweis: "Mehr noch als Passivrauchen kann Passivhandeln die Gesundheit gefährden. Wer jedem Risiko auswicht, der verpasst am Ende - mit Sicherheit - sein Leben" (S.272)

Jörg Schindler
Panikmache. Wie wir vor lauter Angst unser Leben verpassen.
Fischer Verlag Frankfurt/Main 2016
FISCHER Taschenbuch
Paperback
288 Seiten
14,90 Euro

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Mai 2017

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