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BUCHBESPRECHUNG/141: Kleine politische Texte von Tilmann Moser (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Tilmann Moser
Kleine politische Texte

von Klaus Ludwig Helf, August 2017


Die Texte des vorliegenden Bandes sind mit einer Ausnahme bereits einige Jahre zuvor publiziert worden und haben - wie der Autor in der Einleitung betont - als gemeinsames Thema die "Verbindung und das Ineinandergreifen von politischen und psychoanalytischen Diagnosen" (S. 7). Nach der Aufarbeitung eigener biografischer Erfahrungen folgt der Aufsatz "Psychoanalyse und Gewalt", eine Untersuchung über die psychischen Auswirkungen von Diktatur, Krieg und Terror auf die individuelle Überichbildung und die Folgen für die psychotherapeutische Praxis. Danach kommen psychoanalytische, sozialpsychologische und tiefenpsychologische Analysen und Überlegungen zu politisch-historischen und politisch-aktuellen Prozessen und Ereignissen so u.a. über die Mordlust des IS, über Angela Merkel und den Mutterkomplex der Deutschen, tiefenpsychologische Überlegungen über den Wechselwähler und über die Sozialpsychologie der Hysterie am Beispiel der Medien-Hatz auf den ehemaligen Politiker Edathy. Tilmann Moser ist sich der Problematik einer wissenschaftlich-stringenten psychoanalytischen Diagnose einer Person, ohne diese persönlich erfahren zu haben, durchaus bewusst, hat sich aber dennoch an diese seelischen Introspektionen herangewagt mit durchaus plausiblen Deutungen und Ergebnissen. So finden wir in dem Band auch analytisch-biografische Texte über Ernst Jünger (am Beispiel seines Buches "In Stahlgewittern" und einer Biografie), über Josef Stalin (als Quellen eine TV-Dokumentation und eine Biographie über dessen Jugend) und über Chris Kyle, den US-Scharfschützen und Rekordkiller (sein Roman "American Sniper" und dessen gleichnamige Verfilmung als Vorlagen).

Tilmann Moser (*1938) ist Psychoanalytiker und Körperpsychotherapeut und Autor zahlreicher Fachpublikationen zum Thema Psychoanalyse und Körperpsychotherapie, psychische Spätfolgen von NS-Zeit und Krieg und über Religion. Seit 1978 hat er in Freiburg (Breisgau) eine Praxis, in der er auch Fortbildungsseminare anbietet.

Schlimme Kindheitserfahrungen können unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und mit Kombination verschiedener sozialpsychologischer Faktoren skrupellose Mörder und Tyrannen generieren. Stalin - so Moser- sei bereits mit 17 Jahren eine "Mischung aus Revolutionär und Bandit" gewesen. Im Priesterseminar zeigte er sich als Schläger, Ringer, Bandenführer und Spitzel aber auch als Chorknabe mit einer außergewöhnlichen Stimme und mit lyrischem Talent. Seine gnadenlose Grausamkeit und emotionale Abgestumpftheit fiel bereits in den Jugendjahren auf. Er lebte in einer paranoiden Welt mit der Zwangsvorstellung, von maskierten Verrätern verfolgt zu werden: "Stalin war ein von der gedemütigten Mutter vergöttertes, vom jähzornigen Alkoholikervater malträtiertes und geprügeltes Kind. Für gigantische Größenphantasien und hemmungslose Rachsucht war der Keim früh gelegt" (S. 85).

Wie Ernst Jünger erlebte auch der Rekord-Scharfschütze Chis Kyle den Krieg als reinigendes Gewitter, fürchtete Gefechtspausen als Langeweile, stürzte sich in einen Kampfrausch und verfiel einem Unverletzlichkeitsmythos: "Ich hielt mich damals für den Herrscher der Welt ... Wir sind dazu ausgebildet, in die Schlacht zu ziehen und Menschen zu töten ... Gleichzeitig wird uns eingeredet, wir seien unbesiegbare Teufelskerle"- so wird Kyle von Tilmann Moser zitiert: Auch bei Kyle war die Kindheit prägend; sein Vater, frommer Diakon und Geschäftsmann, predigte ihm eine primitive Gattungslehre der Menschheit (Schafe, Wölfe, Hütehunde) und dressierte den Jungen zum Jäger; sein erstes Gewehr erhielt er bereits mit sieben oder acht Jahren. In seinem Text "Psychoanalyse und Gewalt" greift Tilman Moser seine "Überlegungen zum innerpsychischen Ort der politischen Instanzen und zum therapeutischen Umgang mit ihnen" wieder auf, berichtet aus einer eigenen Therapiepraxis und verweist auf die nach wie vor untergründigen Nachwirkungen der deutschen NS-Vergangenheit und des Holocausts bis in die dritte Generation der NS-Opfer, -Täter und -Mitläufer: "Bei vielen Patienten ist der historische Hintergrund ihrer Störungen nahezu unkenntlich geworden, wenn man sich nicht sensibilisiert für die unterirdischen Traditionen der Destruktivität" (S. 40). Das Thema sei durch den Zusammenbruch des Ostblocks "auf ungeahnte Weise" wieder aktualisiert worden. Tilmann Moser sieht positive Tendenzen innerhalb der Psychoanalyse, dass die politisch-historische Dimension vieler psychischer Störungen intensiver einbezogen wird. Bei Tilmann Mosers biografisch-psychoanalytischer Diagnose über Ernst Jünger anhand seines Romans "In Stahlgewittern" und seines Verhaltens nach 1945 bis zur heftig-kontroversen Diskussion über die Verleihung des Goethe-Preises an ihn im Jahre 1982, wird deutlich, wie schwierig es war, den lange im Nachkriegsdeutschland aufrechterhaltenen Mythos der "sauberen Wehrmacht" zu zerstören. Jüngers gnadenlose und abstoßende Glorifizierung und Ästhetisierung des Krieges als rauschafter Rachefeldzug im Name einer "höheren Gerechtigkeit" war wohl auch tief eingefressen in der Psyche vieler Menschen - auch nach den beiden Weltkriegen. Tilmann Moser diagnostiziert bei dem 18-jährigen Jünger einen pathologischen Narzissmus mit "abnormen Größen- und Unverletzlichkeitsfantasien, mythologischem Denken über sich selbst, unkontrollierbarer Ruhmsucht und Dominanzstreben, rauschhaften Erlebenszuständen und vorübergehendem Realitätsverlust mit ... unbezähmbarer Kampfbegeisterung" (S. 70).

Tilmann Moser analysiert in seinen Texten auch fast tageaktuelle gesellschaftliche Themen. Beim "Gespenst der Wechselwähler", die für alle politischen Parteien eine unkalkulierbare Größe und Herausforderung darstellen, sieht er tiefenpsychologisch als Hauptursachen die seelische wie politische Verlorenheit und Heimatlosigkeit eines wachsenden Teils der Bevölkerung, ein Mangel an "Ambivalenztoleranz", der Fähigkeit, Unklarheiten z.B. in der Orientierung auszuhalten; das kollektive Kennzeichen der Zeit sei neben der Depression die "affektive Instabilität". Trotz einer weitverbreiteten Zunahme an Fortschritt und Aufklärung stelle man - so Moser - eine sich weltweit ausbreitende "Zunahme der politischen Infantilisierung" fest, die auch die großen Demokratien erfasst habe. So könne der beständige Erfolg der an sich farblosen, biederen und programmatisch diffusen Angela Merkel psychoanalytisch mit dem Begriff der Übertragung erklärt werden: frühe Konflikte, Sorgen, Suche nach Geborgenheit und Wünsche von Kindern werden an eine Person geheftet, von der man sich Kraft, Ausdauer und Sicherheit erhofft; in Zeiten der politischen Unübersichtlichkeit und Orientierungslosigkeit delegiere man in "fast kindlicher Hingabe" Verantwortung und Vertrauen an eine "lenkende Mutter". Bei diesem Modell einer politischen Regression spielten aber auch "tiefere Mechanismen der Bindung, der Loyalität und der Sehnsucht nach Ruhe eine wichtige Rolle. Man lässt nichts mehr auf die Zentralfigur kommen, spaltet innere Zweifel ab, fühlt sich getragen von einer unerklärlichen Zuversicht in ihre Kraft und ihre Weisheit und rekordverdächtige Beliebtheit und Wählbarkeit" (S. 107). Das archaische Bild der beschützenden und versorgenden Ur-Mutter immunisiere gegen Anfechtungen und Bedrohungen einer als gefährlich und undurchsichtig empfundenen Welt, dagegen komme auch eine "neunmalkluge und kantige Väterlichkeit" eines Peer Steinbrück nicht an: "Mutti bleibt Mutti, auch wenn sie mal den Überblick verliert oder in vorübergehendes Taumeln gerät" (S. 108). Dies hat auch Martin Schulz nach kurzem Höhenflug im Frühjahr 2017 schmerzhaft erfahren dürfen. Tilmann Moser macht in diesem Beitrag deutlich, wie wichtig es ist, kritische Öffentlichkeit und Kräfte gegen Angst und Regression zu mobilisieren, um das demokratische Fundament unserer Gesellschaft zu stabilisieren.

In dem vorliegenden Band erleben wir Tilmann Moser als neugierigen, kreativen und scharfsinnigen Beobachter, der seit Jahren gegen den stromlinienförmigen Mainstream innerhalb der Psychoanalyse anschwimmt, indem er immer wieder die interdisziplinäre Integration von Psychoanalyse, Therapie, Historie, Gesellschaft und Politik einfordert und selbst auch in seinen analytischen Arbeiten herstellt; er nimmt dabei kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, gesellschaftliche Missstände offen zu benennen oder auch anzuprangern, wie z.B. bei der unzureichenden Aufarbeitung der psychischen Folgen der NS-Zeit oder der schwarzen Pädagogik.

Tilmann Moser
Kleine politische Texte
Psychosozial-Verlag Gießen 2016
kartoniert
123 Seiten
16.90 EURO

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Quelle:
© 2017 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. August 2017

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