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BUCHBESPRECHUNG/149: Marx. Der Unvollendete, von Jürgen Neffe (Sachbuch) (Klaus Ludwig Helf)


Jürgen Neffe
Marx. Der Unvollendete

Klaus Ludwig Helf, April 2018


Nach der Auflösung des sowjetkommunistischen Systems als einzigem Gegenmodell zum Kapitalismus war Karl Marx "zum toten Hund" erklärt und als Nationalökonom, Philosoph und Gesellschaftswissenschaftler gebrandmarkt worden, dessen Analysen, Erkenntnisse und Theorien überholt, widerlegt und wertlos seien. Marx selbst wurde außerdem für seinen Missbrauch als "Staatstheoretiker" eines vollkommen aus den Fugen geratenen Herrschafts- und Gewaltsystems in Haftung genommen, ebenso für dessen monströse und mörderischen Auswüchse unter Potentaten wie Stalin, Mao, Ceausescu oder Pol Pot. Seit den unübersehbaren Verwerfungen und Flurschäden, die die neoliberalen Wirtschafts- und Gesellschaftsstrategien weltweit angerichtet haben und spätestens seit dem Beinahe-Crash des internationalen Finanzsystems 2007/8 können wir weltweit in den Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaften den Beginn einer Marx-Renaissance festmachen, die im Jahr 2018 einen vorläufigen Höhepunkt erreicht. Bereits 2013 wurde das "Kommunistische Manifest" und "Das Kapital" (Band 1) von der UNESCO zum Weltkulturerbe erklärt und dadurch Karl Marx posthum geehrt und rehabilitiert. Der revolutionäre Querkopf und Denker des Frühkapitalismus des 19. Jahrhunderts habe bereits damals wissenschaftliche Diagnosen mit heute geradezu verblüffender Aktualität erstellt. Rechtzeitig zu den Feierlichkeiten um das 150-jährige Jubiläum seines Hauptwerks "Das Kapital. Zur Kritik der politischen Ökonomie" und zum Marx-Jahr in Trier (200. Geburtstag am 5.Mai 2018) erschienen zahlreiche Beiträge, so auch die vorliegende Biografie.

Der Autor Jürgen Neffe ist promovierter Biochemiker, Wissenschaftsjournalist und Autor u.a. von vielbeachteten Biografien über Albert Einstein und Charles Darwin; er publiziert regelmäßig in "Geo", "Nature" und "Spiegel".

Die Biografie wird eingeleitet von einem Zitat von Willy Brandt über das Freiheitsstreben von Karl Marx, es folgen ein Prolog ("Marx und kein Ende") und zwei Hauptteile, ein sehr umfangreicher Anmerkungsapparat (36 Seiten), eine ausführliche Bibliografie, ein knappes Personenregister und ein Bildnachweis. Neffe versteht es hervorragend, uns mit Karl Marx und seiner Zeitgenossenschaft in einem sich entfesselnden Kapitalismus vertraut zu machen: u.a. bürgerlich behütete Kindheit und Jugend in Trier, Studium in Bonn und Berlin, politischer Journalismus, Verfolgung und Exil in Paris, Brüssel und dann bis zu seinem Tod in London, das bunte, turbulente und krisengeschüttelte private und politische Leben, die wichtigsten Schriften und Werke, Freundschaften und Zwistigkeiten mit Zeitgenossen und Weggefährten, die produktive Freundschaft mit Engels und seine wichtigsten Theorien, deren Relevanz auch heute noch aktuell sind. Das zentrale Thema von Karl Marx - so die These von Jürgen Neffe - war die Freiheit und da, wo sie an ihre Grenzen stößt, die Befreiung. Dies werde von Skeptikern und Gegnern jeder Couleur noch immer leidenschaftlich bestritten. Die aktuellen Auseinandersetzungen um die Errichtung einer von der chinesischen Regierung gespendeten Marx-Statue in Trier belegen die Heftigkeit der Kontroversen jenseits der üblichen Parteigrenzen. Ein vorbehaltloser Umgang mit Marx werde durch den -ismus erschwert, den man an seine vier Buchstaben angehängt habe: "Marx hat nie einen Marxismus begründet. Nichts lag ihm ferner, als ein abgeschlossenes System zu schaffen. Die Welt im Wandel durch Widerspruch verträgt in seiner Sichtweise keine dogmatische Erstarrung" (S. 16). Neffe schätzt vor allem die Methoden, die Marx angewandt hat und die heute noch aktuell seien:

Seine Analysen und Vorhersagen scheinen wie für unsere Zeit gemacht. Seine Methode, Fragen zu stellen und Antworten aus Antagonismen zu gewinnen, hat bis heute nichts von ihrer Attraktivität verloren. Sein Werkzeug, die Welt aus ihren Widersprüchen zu begreifen, die Dialektik, hat er von Hegel übernommen und dann, wie er für sich reklamiert, "vom Kopf auf die Füße" gestellt. "Alternativlos" brächte es bei ihm zum Unwort des Jahres. (S. 20) 

Mit seiner Analyse des Kapitalismus als entfesseltes System sagte Marx die globalisierte Welt unserer Tage mit ihren immensen sozialen Ungleichheiten, der Kapitalisierung aller Lebensbereiche bis hin zur Finanzkrise des Kapitals selbst voraus. Das Kapital - so Marx - gleiche einem lebendigen Wesen, das zum Wachsen verurteilt sei und daher ständig frische Nahrung brauche:

Das System wird nicht von Bedürfnissen getrieben, sondern vom Hunger eines Nimmersatten. Geht der Nachschub zurück oder gar zu Ende, droht ihm Verfall. Wie jedes hungrige Tier folgt es dann der Logik der Panik. Es nimmt sich, was es kriegen kann, auch wenn es dabei die Quellen für seine eigene Zukunft austrocknet. (S. 458) 

Neffe charakterisiert Marx nicht eindimensional, sondern in seiner schillernden Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit in einer "Parallelität von Schaffens- und Leidensdruck" (S. 479), mit einem "brachial ungesunden Lebensstil und mit ruinösen Verhaltensmustern": Bewegungsarmut, Kettenrauchen, exzessiver Alkoholgenuss, unregelmäßige Ernährung, Leber- und Gallenschwäche, der skrupellose Umgangsstil im politischen Geschäft, der zärtliche und sanfte Familienvater, die unermessliche Arbeitswut, sein unerbittlicher Perfektionismus in der Wissenschaft, der von Zweifeln und Skrupeln zerfressen ist, die scharfsinnige Analyse der Gesetzmäßigkeiten des Kapitalismus und die eigene Unfähigkeit mit Geld umzugehen. Weder die zahlreichen Krankheiten, Phasen der Armut, Ehekrisen und Familientragödien hinderten ihn daran, beharrlich an seinem Werk zu arbeiten: "Seine Leiden gehören zur biografischen Grundausstattung des Mythos Marx wie das Gold zur Ikone. Ein Lazarus, aussätzig und ewig am Rande der Existenz, schafft gegen alle Widrigkeiten ein Werk von Weltbedeutung" (S. 486). Neff versteht es vortrefflich und verständlich auch für interessierte Laien, das komplizierte Gedankengebäude von Marx von den Frühschriften über das "Kommunistische Manifest" und das "Maschinenfragment" bis zum "Das Kapital" differenziert zu entfalten und auch die Konsequenzen bis in die heutige Zeit fortzuschreiben. Wer sich intensiver mit den theoretischen Schriften beschäftigen will, kann sich im ausführlichen Anhang abarbeiten. Neff hat mit dieser Biografie ein Meisterwerk geschaffen, das Lust und Laune macht, sich mit Marx zu beschäftigen.

Jürgen Neffe
Marx. Der Unvollendete
Verlag C. Bertelsmann, München 2017
gebunden
mit zahlreichen Fotografien und Reproduktionen
656 Seiten
28 Euro

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Quelle:
© 2018 by Klaus Ludwig Helf
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2018

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