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BUCHBESPRECHUNG/167: Antonio Labriola - Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung (Gerhard Feldbauer)


Ein genialer Theoretiker der Arbeiterbewegung

Antonio Labriola trug entscheidend zur Durchsetzung des Marxismus und der Schaffung der Sozialistischen Partei in Italien bei

von Gerhard Feldbauer, 4. Februar 2019


In verdienstvoller Weise hat der Dietz Verlag Berlin ein Buch von Antonio Labriola (1843-1904) "Über den historischen Materialismus" (1974 bei Suhrkamp) neu herausgebracht. Der Leser lernt das Wirken des herausragenden Theoretikers in der Periode der Schaffung und des Wachstums der Sozialistischen Partei kennen, in der es darum ging, die italienische Arbeiterbewegung vom Einfluss des Anarchismus, nach seinem Begründer Michael Bakunin Bakunismus genannt, zu befreien. Bakunin hatte in Italien auf kleinbürgerlicher Basis die frühe Arbeiterbewegung formiert, bis 1874 129 Sektionen der IAA mit 26.000 Mitgliedern geschaffen. Um die Arbeiterbewegung auf dem richtigen Weg voranzubringen, was einschloss, eine einheitliche sozialistische Partei zu schaffen, ging es darum, den Marxismus durchzusetzen. Dazu wirkte Friedrich Engels seit 1871 als Korrespondierender Sekretär des Generalrates für Italien. Mit Engels, in dem Labriola, wie Herausgeber Fritz Haug im Vorwort betont, "seinen Mentor" sah, hatte er einen intensiven Briefwechsel "einer vertrauensvollen Zusammenarbeit".

In diesem Prozess spielte Antonio Labriola (nicht zu verwechseln mit dem Führer der Anarchosyndikalisten Arturo Labriola) zusammen mit Filippo Turati (der später reformistische Positionen bezog) und dessen Frau, der russischen Emigrantin Anna Kuliscioff (eigentlich Anna Rosenberg), eine entscheidende Rolle. Er arbeitete als Professor an der Universität von Rom und war als Publizist tätig, U. a. schrieb er in der theoretischen Zeitschrift "Critica Sociale". Zunächst Junghegelianer bezog er Schritt für Schritt marxistische Positionen und wurde ein entschiedener und schöpferischer Vertreter des historischen Materialismus. Sein Wirken trug dazu bei, dass sich die norditalienischen Sozialisten auf ihrem Kongress im Februar 1877 in Mailand endgültig von den Bakunisten lossagten und sich für die Bildung einer eigenen politischen sozialistischen Partei aussprachen.

Im "Vorwärts" vom 16. März 1877 schrieb Engels: "Endlich ist auch in Italien die sozialistische Bewegung auf einen festen Boden gestellt und verspricht eine rasche und siegreiche Entwicklung." So war es in der Tat. 1892 schlossen sich auf dem Sozialistenkongress in Genua die norditalienische Föderation, die Revolutionäre Sozialistische Partei der Romagna und die Arbeiterpartei der Lombardei zur einheitlichen Partei der Italienischen Arbeiter zusammen. 1893 nahm sie den Namen Italienische Sozialistische Partei an. Zwei Jahre nach Labriolas Tod stieg die rund 250.000 Mitglieder zählende ISP zur drittstärksten Arbeiterpartei Europas auf. Bereits 1900 hatte sie in einem Generalstreik in Genua das Streikrecht durchgesetzt.

Auf den Spuren dieses genialen Denkers zu wandeln wird für den Leser ein in der heutigen Zeit seltenes Erlebnis. Zu Labriolas Verdiensten gehörte, dass in der zweiten Hälfe der achtziger Jahre in Italien Standardwerke des Marxismus erschienen wie "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" (1883), "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates" (1885), der Erste Band des "Kapital" (1886) und das "Manifest der Kommunistischen Partei" (1889). In seinen Beiträgen hat Labriola ihre fundamentale Bedeutung herausgearbeitet. Davon zeugt besonders das Kapitel "Im Gedenken an das Manifest der Kommunisten", das er als "den Anfang der Neuen Ära" charakterisiert, die "die Proletarier aus Unglücklichen, mit denen man Mitleid hat, zu berufenen Totengräbern der Bourgeoisie machte". Keines der "späteren Werke" der Verfasser, die "eine viel beträchtlichere Bedeutung haben", könne das "Manifest" ersetzen. So wie der "Klassenkampf die Vereinfachung aller anderen ist", vereinfacht das "Manifest" in "theoretisch klaren und allgemeinen Formen die ideologische, ethische, psychologische und pädagogische Anregung der anderen Formen des Kommunismus, nicht in dem es sie leugnet, sondern in dem es sie höher hebt." Er unterstreicht die Rolle des "ökonomischen Faktors", der allein dazu wird "dienen müssen, um die ganze Geschichte zu erklären".

Labriola geht auf die bei der Verbreitung des Marxismus notwendige Auseinandersetzung mit "anderen Formen des Sozialismus" wie dem reaktionären, dem bürgerlichen, dem utopischen usw. ein, die sich "immer wieder erneuern", mit denen wir uns "im Kriegszustand" befinden, wie er zu den Ideen des "Revisionismus von links" des französischen Soziologen Georges Sorel bemerkt. Er verweist auf die in der Arbeiterbewegung selbst auftauchende Zerstrittenheit, die viele Leute hindere, zu erkennen, "wie alle Klassenkämpfe in wachsendem Maße auf den einen Kampf zwischen den Kapitalisten und den proletarischen Arbeitern zurückgehen". Ein Personenregister gibt Auskunft wie Labriola die großen Geister seiner Zeit in und über Italien hinaus zu Rate zog, wovon der weniger bekannte Giovanni Battista Vico (1668-1744) zu erwähnen wäre. Der Begründer einer progressiven Geschichtsphilosophie (der Geschichtswissenschaft als Bewusstsein der Menschen von ihren eigenen Taten), die in Deutschland zuerst von Herder und Goethe, in Frankreich von Jules Michelet aufgegriffen wurde.

Labriolas schöpferisches Wirken ist in Sonderheit geeignet Lehren zu vermitteln. Das erkannte schon Antonio Gramsci, der Kämpfer gegen den Opportunismus der Sozialdemokratie und Mitbegründer der Kommunistischen Partei Italiens, der Labriolas "philosophische Problemstellung" als "vorherrschende" sah, aus der er für seine "Theorie der Praxis" schöpfte. Und für uns, die wir uns nach der katastrophalen Niederlage des Sozialismus heute in einer tiefen, scheinbar ausweglosen Krise befinden, bietet sich ein schöpferischer Theoretiker wie Labriola geradezu an. War er doch "kein Diktator des Denkens, sondern der abwägende Demonstrator der Wegsuche, Lehrer mit Fernwirkung" (nochmals Haug).

Antonio Labriola
Drei Versuche zur materialistischen Geschichtsauffassung
Herausgegeben von Wolfgang Fritz Haug
Karl Dietz Verlag Berlin
ISBN 978-3-320-02347-8
291 Seiten
29,90 Euro

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Quelle:
© 2019 by Gerhard Feldbauer
Mit freundlicher Genehmigung des Autors


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Februar 2019

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