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REZENSION/017: Kari Köster-Lösche - Die Hakima (Historie) (SB)


Kari Köster-Lösche


Die Hakima - Ärztin zwischen Kreuz und Halbmond



Mit dem 1994 bei Ehrenwirth erschienen Roman "Die Hakima" hat die Tierärztin und Autorin Kari Köster-Lösche einen mittelalterlichen Bilderbogen geschaffen, der in vielerlei Hinsicht zur Reflektion aktueller gesellschaftlicher und sozialer Entwicklungen anregt. Gerade die sich heute wieder verhärtende Front zwischen christlich und islamisch geprägten Staaten erscheint in einem anderen Licht, wenn man das Schicksal der jungen Lübeckerin Ymme im maurischen Spanien zu Anfang des 13. Jahrhunderts verfolgt. Dieser Teil der Erzählung bildet jedoch nur eine Facette im Motiv der Grausamkeiten und Machtansprüche, mit denen sich Menschen im Gewande religiöser Erfüllung auch heute noch peinigen.

Schon der einleitende Rückblick auf die Heilerin Hodica, die Großmutter der Hauptperson des Romans, die in einer drastisch verlaufenden Begegnung mit einem christlichen Priester ums Leben kommt, faßt das Verhältnis alter Religionen und expansiver Mission exemplarisch zusammen:

'Weib, ich werde eure blutigen Opferstätten, die Eichen und die Götzenbilder zerstören. Christus wird siegen.' Hodica sah auf. Sie verstand und sprach Sächsisch. Aber nicht einem christlichen Priester gegenüber. 'Zcerneboch, der derselbe wie euer Teufel ist, soll es dir vergelten', sagte sie. 'Vergießt ihr nicht Blut an eurem Altar? Und was sind das für Götter, die du mir da anpreist? Den einen sieht man nicht - der andere hängt hilflos an einem Balken. Bei Svantevits vier Köpfen - ein Gott mit vier Köpfen ist mächtiger als einer mit einem einzigen! Aber ohne Kopf?' Sie lachte verächtlich. 'Behalte du deinen Stammesgott - ich behalte meinen!'

Wie man sich denken kann, wird dieser Vorschlag zur friedlichen Koexistenz vom eifernden Priester nicht angenommen. Zu sehr fühlt er sich durch die streitbare alte Frau in Frage gestellt, und so droht er wiederholt die Ausrottung ihres Pantheons an, schließlich ist das ja auch sein Auftrag als Missionar. Doch offensichtlich stimmt, was man sich hinter vorgehaltener Hand zuraunt - Hodica ist nicht nur eine Heilerin mit streitbarer Stimme, sie versteht es auch, die Macht ihrer Götter für sich einzusetzen:

Der Blick der Slawin fraß sich durch das Herz des sächsischen Priesters und traf die Mauer des verfallenden Turms hinter ihm. Steine kollerten herab. Das war der Teufel. Luder schürzte seine Soutane und begann zu laufen. 'Euch selbst muß man ausrotten, damit eure Götter sterben', kreischte er hinter ihr her. Hodica, mittlerweile am Fuß des Burgberges angekommen, inmitten von Händlern und Bauern, die von oder zur Travefähre strömten, drehte sich um und sah dem fremden Priester entgegen. Sie konnte nicht fortlaufen, das Stechen in ihrer Brust kam immer öfter und gegenwärtig zusammen mit einem wilden Pochen ihres Herzens. Sie streckte ihm die gespreizten Finger wie einem wilden Wolf entgegen, um ihn zahm zu machen. Wie versteinert blieb er stehen. 'Dein Kleid und deine Hände werden vor Blut triefen, wenn du vor deinen Gott geladen wirst', keuchte sie und griff sich an die schmerzende Brust. 'Deine Kinder bis ins zehnte Glied wird man an ihren blutigen Händen erkennen. Gewalt werden sie säen, und durch Gewalt werden sie umkommen ...'

Man kann sich vorstellen, daß dieser letzte Fluch nicht nur zwei Generationen später, im eigentlichen Handlungsverlauf, zur Erfüllung gelangt, sondern stellvertretend für die gesamte Christenheit des Mittelalters verstanden werden kann, wie auch die einzelnen Handlungsträger jeweils eine ganze religions- und geistesgeschichtliche Strömung verkörpern. So kreuzen und beeinflussen sich die persönlichen Schicksale vor den verschiedensten Szenarien aus der Zeit des beginnenden 13. Jahrhunderts, in dem die römische Kirche auf umfassende Weise in das weltliche Geschehen Europas eingriff. Das effektvoll angestimmte Thema sozialer und religiöser Intoleranz stellt sich immer wieder zwischen die Lübeckerin Ymme und ihr Ziel, alles über die Heilkunst zu erlernen.

Nicht zuletzt als Enkelin einer verrufenen Heidin soll sie zur Beute eines armen Adligen werden, der es auf die Mitgift ihrer Familie abgesehen hat. Ihr Vater, ein erfolgreicher Kaufmann, der aufgrund seines bürgerlichen Standes und der heidnischen Herkunft seiner Frau nur die Chance dieser Heirat hätte, um sozial aufzusteigen, verschließt sich dem erpresserischen Drängen des jungen Adligen jedoch kategorisch, der düstere Drohungen ausstoßend von dannen zieht.

Als das elterliche Haus kurz darauf in Flammen aufgeht, kann kein Zweifel um die Brandursache bestehen. Verfolgt von dem verschmähten Ritter flieht Ymme aus Lübeck und wird von einem fahrenden jüdischen Händler aufgenommen. Der muß diese hilfreiche Geste bald dadurch büßen, daß er von dem sie verfolgenden Ritter beinahe erschlagen wird. Nachdem dieser sich an Ymme vergangen hat, rächt sie sich, indem sie ihn mit seinem eigenen Messer kastriert. Später erfährt sie von anderen Reisenden, daß der Ritter nicht mehr nach Lübeck zurückgekehrt sei und sie nun verdächtigt werde, ihn getötet zu haben. Beste Voraussetzungen also für eine weite Reise, die Ymme bis nach Spanien führen wird.

Ihre erste Station ist Frankfurt, wo sie durch Vermittlung des fahrenden Kaufmanns von einer jüdischen Ärztin aufgenommen wird, die ihr die Grundlagen der Heilkunst beibringt. Dabei erfährt der Leser einiges über den Bewegungsraum jüdischer Gemeinden in deutschen Städten des Mittelalters, in denen eifernde Kleriker im Namen Papst Innozenz III. zum Kreuzzug aufrufen, um die Heilige Stadt Jerusalem wieder in den Schoß der Kirche zurückzuführen. In dieser Atmosphäre konnten sich Juden nur durch reichliche Zahlungen an die Mächtigen der Stadt freihalten, was sie jedoch nicht vor dem beliebtesten Gerücht über religiöse und ethnische Minderheiten aller Zeiten schützte, Ritualmord an christlichen Kindern zu begehen. Auch der Hostienfrevel soll eine Untat der Christusmörder gewesen sein, die damit den falschen Messias schmähen wollten.

So stellt auch die von Juden verborgene Christin eine große Belastung für die kleine Gemeinde dar, die sie großzügig ausgestattet wieder auf die Reise schickt. Die wissenshungrige Ymme nutzt den Schutz einer Pilgergesellschaft, die sich auf dem Weg nach Spanien befindet, um ihren Traum von einem Studium an einer der dortigen Medizinschulen, die ihr die jüdische Ärztin empfohlen hat, wahr zu machen. Doch die Zuflucht, die einer alleinreisenden Frau den notwendigen Schutz bieten soll, führt zur verhängnisvollen Konfrontation mit dem Priester, der die Pilger anführt und der die Selbstständigkeit des Mädchens sofort als Mangel an büßerischer Demut auslegt. Immer wieder kollidiert die medizinische Ambition Ymmes, die sie auch Ungläubige behandeln läßt, mit den Dogmen des Priesters, der verderben lassen will, was seiner Ansicht nach Gottes Strafe verdient hat.

Die nächste Manifestation klerikalen Alleinvertretungsanspruches erlebt Ymme im südfranzösischen Languedoc, wo die Bewegung der Katharer, die der römischen Kirche untreu geworden ist, ihre Hochburg hat. Es ist die Zeit der Albigenserkriege, in denen die "Reinen", die "Katharer", zu Namenspaten des Begriffes "Ketzer" werden, da sie nicht nur einer gnostischen Variante des Christentums angehören, sondern vor allem der Verweltlichung der Kirche durch ihre Lebenspraxis eine Absage erteilen. Da die Welt in ihrer Sicht das Produkt eines finsteren Demiurgen darstellt, kann nichts davon göttlicher Natur sein, weshalb sie kirchliche Einrichtungen wie auch alle Glaubenssakramente ablehnen.

Aufgrund ihrer dualistischen Weltsicht hatten die Katharer auch nicht das Problem, das Schmerzhafte und Leidvolle der Welt im Widerspruch zur göttlichen Schöpfung erklären zu müssen. Sie gingen von einem lichterfüllten Jenseits als Heimstatt und Zielort aus und enthielten sich so weit wie möglich jeder weltlichen Verstrickung. Jede Form der Gewalt stellte für sie einen verderblichen Einfluß des bösen Weltherrschers dar, so daß sie keine Tiere aßen und diese, wie Ymme tief beeindruckt erleben konnte, bei einer Erkrankung ebenso gut wie Menschen behandelten. In ihrer Armut lebten sie häufig in Höhlen in den Bergen und enthielten sich Zeugung und Fortpflanzung, da dies die Macht des Demiurgen nur vergrößern könnte.

Als Katharer bezeichneten sich nur diejenigen, die diese Weltsicht in ein mönchisches Leben umsetzten. Dem Rest der christlichen Bevölkerung, die ihnen aufgrund der überall spürbaren Machtanmaßung der römischen Kirche in Scharen zulief, dienten sie als Prediger, die kein Blatt vor den Mund nahmen und die Kritik an der verweltlichten Glaubenspraxis häufig mit dem Leben bezahlen mußten. Um so mehr betrachteten ihre Anhänger sie als Märtyrer und Vertreter eines Urchristentums, das sich ohne Rückhalt um die Verwirklichung der Glaubensideale bemühte.

Die daraus resultierende Eskalation kirchlicher Gewaltanwendung in Form eines Kreuzzugs innerhalb der Christenheit schildert Kari Köster-Lösche von der stolzen Selbstbehauptung der Bewohner des Languedoc bis zu ihrer blutigen Vernichtung, der Ymme auf abenteuerlichem Weg entkommt. Die Autorin zeichnet ein manchmal verwirrendes Bild der mitten durch die mittelalterliche Gesellschaft verlaufenden Fronten und der kompliziert angelegten Intrigen, indem sie historische Figuren neben fiktiven Handlungsträgern auftreten läßt und jeder Interessensgruppe einen exemplarischen Vertreter zuordnet. Natürlich spielt der Priester, mit dem Ymme bereits aneinandergeraten ist, als zu Mord und Brandschatzung anstachelnder Sendbote der Hölle eine wichtige Rolle, aber auch ein mysteriöser Johanniter tritt in diversen Verkleidungen in Erscheinung und erweist sich schließlich als Schutzpatron der jungen Frau.

So kommt es im Lager des Königs von Aragonien, der versucht, zwischen den Ansprüchen der Kirche und seinem auf der Seite der Katharer stehenden Lehen zu vermitteln, zu einem Gespräch, das typisch für die waffenstarrende Ökumene ist, die die Autorin mit offensichtlicher Freude an ideologischen Konfrontationen immer wieder inszeniert:

"'Eine nordländische Katharerin, ein falscher Johanniter, ein verkleideter Jude und ein ungeliebter Templer auf einen Haufen zusammen. Was es nicht alles gibt!" Der Knappe sah seinen Herren an und verschüttete vor Schreck den Wein auf den Teppich. Guido schüttelte den Kopf. 'Ein zukünftiger Templer muß sich an alles gewöhnen', tadelte er mild, 'an die Wahrheit am allermeisten, und sie ist nicht immer die Wahrheit des Papstes.' 'Zu meiner Überraschung', warf Cornelius ein, 'habt Ihr Eure Zunge immer noch. Ich glaube, das liegt daran, daß ein gebildeter Papst sorgsam jeder Kenntnis des Deutschen oder des Griechischen oder des Romanischen ...' 'Oder, oder und so weiter aus dem Wege geht. Ja, das mag sein. Aber meine Ordensoberen verstehen mich um so besser. Schließlich schicken sie mich immer weiter weg in der Hoffnung, mich endlich loszuwerden.'"

Man muß sich schon ein wenig in der Kirchengeschichte auskennen, um die Andeutungen zu verstehen, mit denen die Autorin ihre Interpretation dieser Epoche des Kampfes zwischen kirchlichen und weltlichen Machthabern illustriert. Hier mangelt es manchmal an begleitender Erklärung, so daß man das Werk eigentlich mit einem Geschichtslexikon und einem theologischen Nachschlagewerk an der Seite lesen müßte. Kari Köster-Lösche hält sich weitgehend an die historische Überlieferung und setzt dabei ein Wissen voraus, das den Rahmen eines Unterhaltungsromans sprengt. Eine umfassendere Erläuterung des geschichtlichen Kontexts hätte den Lesegenuß zweifellos gesteigert.

Obwohl die Autorin Mitglieder der verschiedenen kirchlichen Orden auftreten läßt, enthält sie sich der Spekulationen, die vor allem die Templer umranken, die gerade in den Albigenserkriegen eine dubiose Rolle gespielt haben. Während einige Forscher behaupten, sie seien an der Austrottung der Katharer beteiligt gewesen, sprechen andere Interpreten von einer geistigen Verwandtschaft im Sinne das Auflebens alter Mysterienkulte. Aber auch die innerkirchlichen Machtkämpfe fallen bei diesem Thema unter den Tisch, sodaß die Andeutungen der mit den Orden verbundenen Ränke und Intrigen leider unausgeführt bleiben.

Doch wenn es um den im Namen Gottes forcierten Blutfluß geht, der auch die konspirativen Häretiker nicht zur Ruhe kommen läßt, die Ymmes Schilderung ihrer Erlebnisse beim Massaker von Béziers lauschen, und die daraus folgende Skepsis gegenüber aller blinden Demut, ist die Autorin in ihrem Element:

"'Die Ritter wollten wissen, wie sie in der Kathedrale die Rechtgläubigen unter den Abtrünnigen herausfinden sollten. 'Schlagt sie alle tot; der Herr wird die Seinen schon herausfinden', sagte der Legat. Ich werde es nie vergessen.' Guido von Köln blickte erschüttert auf den Boden, bis sich Cornelius wieder gefangen hatte. 'Manchmal frage ich mich', murmelte er, 'ob es gerechtfertigt ist, Tausende totzuschlagen, damit zehn übrigbleiben. Warum schlägt man nicht die zehn tot, damit die Tausende ihre Ruhe haben?' 'Ein Gott', sagte Cornelius heftig, 'der aus der Weite des Universums auf uns herabsieht, müßte wirklich in dieser Weise rechnen. Geschaffen hat er sie alle: die Tausende und die zehn. Wie kann jemand behaupten, daß er die zehn lieber hat?' War Gott wirklich ein Kaufmann? Wer auch immer über Gott sprach, hielt ihn dafür, dachte Ymme, seltsamerweise nur ihr Vater nicht. Vielleicht deshalb, weil er selber einer war. 'Es wird immer so sein', erklärte plötzlich der kleine Arzt, 'solange die Menschen sich anmaßen, mit angeblich göttlichem Maß zu messen. Das schlimme ist nur, daß das menschliche Maß nicht besser ist.' 'Gott kennt kein Maß', sagte Guido entschlossen. 'Er ist im wahren Sinne maßlos, ohne Ausdehnung, ohne Inhalt, ohne Dimension. Wahrscheinlich ist er sogar nur ein Trugbild, eine Abbildung unserer selbst. Ein Mensch, der sich seines Namens bedient, verwendet ihn als Metapher für Macht.' Der Arzt lächelt. 'Eben das meinte ich. Wenn man einen Gottesbegriff durch einen anderen ersetzt, bedeutet es lediglich einen Wechsel in den Machtverhältnissen: von Tammuz zu Baal zu Gott und Beelzebub, von Inanna zu Maria ...' Der Knappe ließ die Kanne fallen und stürzte schreiend hinaus. Guido war wie der Blitz hinter ihm her und zog ihn am Ohrläppchen wieder herein. 'Du erledigst deine Arbeit', sagte er ärgerlich, 'und wenn du etwas hörst, was du nicht verstehst, so mußt du immer daran denken, daß du vollgestopft mit Nichtwissen zu mir gekommen bist, aufgebläht durch deine eigene Unkenntnis. Ein bißchen Luft hast du ja schon abgelassen, aber noch nicht meßbar viel. Erst wer viel weiß, hat das Recht, an der richtigen Stelle aufzuschreien; nur wer alles weiß, darf die anderen überbrüllen - und das sind die wenigsten. Du schweig!'

Auch im weiteren Verlauf ihrer Reise trifft Ymme vorwiegend auf Menschen, die sich mit viel List und Tücke zwischen den theologischen Fallstricken und dogmatischen Spitzfindigkeiten hindurchlarvieren. In Toledo, wo sie schließlich in einem arabischen Krankenhaus ihr medizinisches Wissen erweitert, leben Araber und Berber, Spanier, Franken und Juden unter christlicher Herrschaft, aber mit ausgeprägt islamischer Kultur zusammen. Es ist der Beginn der Reconquista, der Rückeroberung Spaniens durch die Christen, und dementsprechend schwer haben es alle, die nicht dem römischen Glauben angehören. Während sich die Juden, die als Gelehrte auch in christlichen Institutionen arbeiten, durch hohe Abgaben freihalten, sind viele Moslems pro forma zum Christentum übergetreten und praktizieren ihren Glauben im Verborgenen.

Bei allen exotischen Annehmlichkeiten maurischer Lebenskultur schwindet auch hier nichts von der latenten Bedrohung, die Ymme jeden Tag erlebt, da sie vorzugsweise mit Ungläubigen zusammen arbeitet. Alte Feinde stellen sich ein, und schließlich muß sie die Stadt, in der sie eine Hakima, eine weise Ärztin, geworden ist, fluchtartig verlassen. Natürlich ist sie vorher zum Spielball der konkurrierenden Mächte weltlicher und geistiger Art geworden und wurde dabei in den Verliesen nach Art der Gerechten mißhandelt, doch die politischen Ränke gereichten ihr auch zum Vorteil und ließen sie überleben. Ein eher für einen Roman als für die geschichtliche Wirklichkeit typischer Verlauf, denn schließlich geht es vorrangig um Unterhaltung und nicht darum, die Aussichtslosigkeit menschlicher und hier insbesondere weiblicher Existenz herauszustellen. So bleibt Ymme letztlich in einem manchmal unwahrscheinlichen Maße vom Schicksal begünstigt und überlebt alle Angriffe ihres klerikalen Todfeinds wie auch alle Roheit männlicher Dominanz.

Zudem erlernt sie eine Form der Medizin, die von einem doch etwas überzogenen Glauben an die absolute Priorität wissenschaftlicher Erkenntnisse geprägt ist. Die Diskussionen zwischen ihrem Lehrer und seinen anderen Schülern wirken bisweilen wie Aufzeichnungen aus medizinhistorischen Vorlesungen, wo alles eingeflochten wird, was aus dieser Zeit einer beginnenden institutionalisierten Heilkunde bekannt ist. Auch die Schilderung der verschiedenen Eingriffe und Behandlungen wirkt teilweise etwas spröde, da man merkt, wie sehr sich die Autorin um die Präsentation eines medizinhistorisch korrekt interpretierten Fortschritts bemüht, den sie vor allem mit arabischen Entwicklungen in Zusammenhang bringt. Das Krankenhaus, in dem sie arbeitet, stellt zwar eine typisch arabische Errungenschaft dar, die Theorien entsprechen jedoch den griechischen Vorlagen, auf denen die islamische Medizin beruht, worüber die Autorin in ihrer einhelligen Begeisterung für diese Kultur hinweggeht.

Bücher und Schriften spielten eine zentrale Rolle bei der Verbreitung der Theorien, die die westliche Medizin über den Reimport aus dem Orient wesentlich beeinflußten. Die Kennzeichnung der islamischen Kultur als einer hochzivilisierten arabischen Errungenschaft läßt die vielen Einflüsse anderer europäischer und asiatischer Kulturen jedoch zu sehr außer acht, wie auch die dem Islam innewohnende Toleranz im Kontrast zu den blutigen Verfolgungen Andersdenkender im Roman etwas verklärt wirkt. Schließlich verbot der Islam als monotheistische Hochreligion, in der nicht umsonst die "Buchreligionen" der Christen und Juden als ähnlich fortgeschritten anerkannt wurden, verwaltungstechnisch weniger entwickelten Religionen die Glaubenspraxis und wies weitere Schattenseiten zentralistischer Organisationsformen auf.

Trotz der Erlaubnis für Christen und Juden, ihren Glauben gegen eine Kopfsteuer auszuüben, hatten sie in den islamischen Ländern doch einiges auszustehen. So wurde die Kennzeichnung der jüdischen Glaubenszugehörigkeit durch einen gelbfarbigen Aufnäher auf der Kleidung, von dem sich die Juden Toledos im Roman mit einer hohen Summe beim Bischof freikauften, in arabischen Ländern schon seit Jahrhunderten verordnet, bevor Christen diese unrühmliche Stigmatisierung übernahmen, und die vielen Bestimmungen, die die Religionsausübung von Christen und Juden behinderten und ihre Möglichkeiten im öffentlichen Leben einschränkten, wurden besonders vom 13. Jahrhundert an, als sich der Islam in Europa auf dem Rückzug befand, mit drakonischer Härte durchgesetzt.

Für einen der spannenden Unterhaltung gewidmeten Roman ist es jedoch zu viel verlangt, eine genaue Analyse der geschilderten Umwälzungen in Staat, Religion und Wissenschaft zu erwarten. So beschränkt sich die Autorin auf die farbige und bemüht recherchierte Beschreibung einer Epoche, in der die römische Kirche ihre Macht durch länderübergreifenden Einfluß auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens festigte und das Bild Europas, wie wir es heute kennen, wesentlich prägte. Dabei lag der Schwerpunkt auf der Errichtung tiefgreifender Verwaltungsstrukturen, die in dem Roman am Beispiel der Heilkunde vorgestellt werden.

Krankenhäuser und Medizinschulen als institutionalisierte Einrichtungen mit einem Bestand von Schriften, die die gesamte Entwicklung griechischer und arabischer Medizin umfaßten und über soziale und philosophische Theorien weitergehenden Einfluß auf die Lebensgestaltung nahmen, verdrängten eine Volksmedizin, die auf persönlicher Überlieferung und vorchristlichen Konzepten beruhte. Die Instanz lizenzierter Spezialisten verlieh Heilern, die ihre Fähigkeit lediglich durch Erfolg, nicht aber durch Zertifikate unter Beweis stellten, immer mehr die zwielichtige Aura des trügerischen Scharlatans und ebnete der Medizin als administrativer Verfügungsform den Weg. Am ärztlichen Ethos will die Autorin auf keinen Fall rütteln, und so kommt es auch nur einmal zur kategorischen Opposition der jungen Hakima, als sie sich gegen patriarchalische Theorien über Frauenheilkunde durchsetzt, die sie durch praktisch erarbeitetes Wissen ad absurdum führt.

Das Buch endet, wie es angefangen hat, mit dem diesmal hoffnungsvoll getönten Ausblick auf eine Zivilisierung des wilden Nordens durch Menschen wie die Ärztin Ymme. Die alten Götter der slawischen Zauberin Hodica sind dem Untergang geweiht, und auch im Norden Europas bricht ein Zeitalter übergreifender Strukturen und abstrakter Prioritäten an, in denen der Mensch immer weniger als Mitglied einer überschaubaren Sippe und immer mehr als Objekt eines zentral regulierten Verwaltungswesens in Erscheinung tritt, das seiner Natur nach Normierung und Vereinheitlichung einfordert. Alles in allem also ein Loblied auf den aufgeklärten Humanismus, der sich von den Abgründen eines dunklen Glaubensfanatismusses verabschiedet. Wenn man über die positivistische Geschichtsauffassung hinwegsieht, stellt das Buch als spannende Illustration des Dilemmas wiederstreitender Wahrheiten eine sehr lesenswerte Lektüre dar.


Kari Köster-Lösche
Die Hakima - Ärztin zwischen Kreuz und Halbmond