Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/043: Herbert W. Franke - Transpluto (Science Fiction) (SB)


Herbert W. Franke


Transpluto



Was ist, wenn sich die Wirklichkeit, wie man
sie zu kennen glaubt, aufzulösen beginnt?

Für Science Fiction-Fans ist es immer wieder spannend, Romane zu lesen, die den Rahmen der gewohnten Vorstellungen von dem, was man für Realität hält, sprengen. Bloße Theorien werden mit Leben gefüllt, oder es werden einfach Welten erschaffen, in denen nichts von dem, was man kennt, Gültigkeit hat. So auch in `Transpluto': Die Besatzung eines kleinen Raumschiffs macht sich auf den Weg in eine Galaxis, die sich fernab unseres Sonnensystems befindet. Hier gibt es einen Planeten, auf dem alles, was man meint, mit physikalischen Gesetzen und mathematischen Formeln erklären zu können, ins Wanken gerät.

Unsere Vorstellung von Realität basiert auf Kausalitäten, das heißt, jede Wirkung setzt eine bestimmte Ursache voraus. Dieses Prinzip wird zum unabänderlichen Naturgesetz gemacht, das sich verselbständigt, und zwar unabhängig davon, ob es Menschen gibt, die diese Naturgesetze bemerken und studieren. Bestenfalls ist es Aufgabe der Naturwissenschaftler, diese Gesetzmäßigkeiten nachzuvollziehen und zu erforschen.


Herbert W. Franke, 1927 in Wien geboren, gilt als Fachkundiger in vielen Wissenschaftsgebieten. Er studierte Physik, Mathematik, Chemie, Psychologie und Philosophie und promovierte an der Universität Wien mit einem Thema aus der theoretischen Physik zum Doktor der Philosophie. Seit 1957 ist er freier Schriftsteller und hat in seinen Science Fiction-Romanen bereits zahlreiche wissenschaftliche Themen auf spannende Weise abgehandelt.


Die Story: Eine Forschungsexpedition in ein unerforschtes Gebiet

Mitte des 21. Jahrhunderts. Ebenso wie noch im 20. Jahrhundert Touristen Fahrten mit riesigen Luxus-Passagierdampfern buchten, macht man es im 21. Jahrhundert mit komfortabel ausgestatteten Raumschiffen. Sie befördern finanzkräftige Passagiere zur reinen Erholung durchs All, machen mal hier, mal dort Station, überall, wo es in diesem Sonnensystem Sehenswürdigkeiten anzuschauen gibt.

Vier Leuten gelingt es auf recht abenteuerliche Weise, ein solches Luxus-Schiff zu kapern und sich mit dem autarken Teil dieses Schiffs auf und davon zu machen. Ihr Ziel: Alpha Centauri, ein Gebiet weit jenseits unseres Sonnensystems. Es sind Curt Longson, Physiker und Wissenschaftshistoriker, Laszlo Roth, Journalist, Frederik Danner, Getriebetechniker und Amadea Balbao, Kybernetikerin.

Was mag diese vier - alles gestandene Wissenschaftler oder Techniker - dazu bewogen haben, eine solch verbrecherische Tat, mit der sie ihre ganze Karriere aufs Spiel setzen, zu verüben? Jeder von ihnen hat seine eigenen Motive, aber eines haben alle gemeinsam: Sie wollen wissen, was es mit einem geheimnisvollen Planeten auf sich hat, auf dem sich offenbar alle physikalischen Gesetze in ihr Gegenteil verkehren ...

Ohne große Zwischenfälle gelangen sie in dieses mysteriöse Gebiet, und schon beim Anflug in die Umlaufbahn des Planeten treten die ersten Merkwürdigkeiten auf: Die von der Besatzung wahrgenommenen zeitlichen und räumlichen Distanzen stimmen nicht mehr mit den Berechnungen des Schiffscomputers überein. Man schenkt diesem Phänomen noch nicht allzuviel Beachtung. Kritischer wird es erst, als die Besatzung feststellt, daß auch das vertraute Gesetz der Gravitation für diesen Ort nicht mehr gilt:

Es sah allerdings höchst merkwürdig aus, wenn sich einige von ihnen noch jenseits, andere schon diesseits der Krümmungsstelle befanden - da sie sich aus gegenwärtiger Sicht in einer Art Schwebezustand zu befinden schienen. Nach einigen Dutzend Metern hatte keiner mehr eine Ahnung, in welche Richtung sie eigent- lich gingen. Es konnte ebensogut vorwärts oder rückwärts nach links oder rechts, aufwärts oder abwärts sein. Und trotzdem: nicht die geringsten Schwierigkeiten mit dem Gleichgewicht. Exakt 1 g, trotz den krassen Unter- schieden gegenüber den Verhältnissen auf der Erde. Die Anziehungskraft mußte hier eine ganz andere Ursache haben, als das vom Physikunterricht her bekannt ist. Masse als Quelle der Gravitation - der ganze Erdball, um das eine g zu erreichen. Hier genügten offenbar einige Quadratmeter Bodenfläche, unabhängig von ihrer Orientierung, ihrem Verlauf, und trotzdem immer dersel- be Wert: ein g! Dieser Wert, für die Situation auf der Erde typisch und eher dem Zufall ihrer Masse entspre- chend, konnte hier gar nicht ebenso groß sein, wenn nicht Beziehungen ganz anderer Art bestanden. Viel- leicht war alles das, was man bisher als konstant angenommen hatte, beispielsweise die Lichtgeschwin- digkeit, in Wirklichkeit variabel. Und vielleicht waren jene Größen, die man als zufallsbedingt angesehen hatte, wie etwa die Erdanziehung, in Wirklichkeit die eigentlichen Invarianten über Raum und Zeit hinweg zu unveränderlichen Größen? Das würde allerdings auch bedeuten, daß die moder- nen Wissenschaftler den Standort der Erde völlig falsch eingeschätzt hatten, daß ihre Kollegen aus dem Mittel- alter vielleicht sogar besser informiert gewesen waren, auf welche Weise auch immer. (S. 164/165)

Geradezu hilflos versucht jetzt die Besatzung, wissenschaftliche Methoden, die sich bis dahin bewährt haben, in die Praxis umzusetzen. Sie messen, zählen, mikroskopieren, analysieren und katalogisieren, und ganz offensichtlich kann dabei nie etwas anderes herauskommen, als das, was man ohnehin schon kennt, nämlich Vergleichswerte in Form von Zahlen und Beschreibungen. Meßinstrumente zur Bestimmung des Abweichungsgrades werden entwickelt, die gewonnenen Daten in Computer eingespeist. Der Rechner ist auf eine große Anzahl von Möglichkeiten programmiert worden. Letztlich kann aber niemals etwas anderes dabei herauskommen, als das, was innerhalb dieser Computer-Bandbreite vorgegeben ist.

Da sieht man, wie fest sich die Schulmeinung in unseren Gehirnen verankert. Dabei: alle Anhaltspunkte nur indirekt - Annahme über etwas, was noch kein Mensch im einzelnen gesehen hat. Diskussionen über Werden und Vergehen der Sterne, Berechnung ihrer Masse, ihre Anziehungskraft - Körper, die auch im besten Fernrohr nur als punktförmige Lichtquellen erscheinen! Eigentlich spricht daraus ein ungeheurer Hochmut, doch auf einem solchen Hochmut beruhte eben unsere Weltanschauung. Der Einsturz eines Weltbilds! Unglaublich, daß er so lautlos erfolgen kann, ohne daß jemand etwas davon merkt! Anderer- seits ... ich kann es sogar verstehen, daß man es unterdrücken will, unterdrücken muß. Die Erde als Ebene, mit einem unbegrenzten, aber endlichen Raum, Relativität, Urknall, Steady-state-Theorie, weiße und schwarze Löcher ... Und schließlich, auf einmal, etwas völlig anderes, etwas Unglaubliches, Unverständliches ... (S. 113/114)

Mehr und mehr beginnen die vier Besatzungsmitglieder an sich und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit zu zweifeln. Jeder von ihnen meint, als Wissenschaftler bzw. Techniker die elementaren Prinzipien des Universums zu kennen - alles Schulweisheiten, die offenbar mit der Realität nichts zu tun haben, zumindest nicht auf dem Planeten, auf dem sie sich gerade befinden.

Im nachhinein stellen sie fest, daß die Wissenschaftler auf der Erde allesamt mit einer ziemlichen Arroganz und Überheblichkeit an ihre Forschung herangehen, wenn sie meinen, mittels Berechnungen ihre Vorstellungen von Bekanntem auf Unbekanntes übertragen zu können. Sämtliche Erklärungsmodelle müssen die vier über Bord werfen. Übrig bleibt eine einzige Hilflosigkeit gegenüber allem, was sie umgibt.

Die Expedition. Das Schiff, das sie `Transpluto' nannten. Die Vorbereitungen für eine Reise, die ein Vierteljahrhundert dauern sollte. Ein neuent- wickeltes Fusionstriebwerk, Recycling, Kälteschlaf - die technischen Einzelheiten kann ich mir erspa- ren. Und unsere Ausrüstung für die Landung, drü- ben auf Alpha Centauri? Wie kann man sich schon auf etwas vorbereiten, von dem man nichts weiß! Was sie da schließlich an Meß- und Auswertegeräten mitgeschleppt haben ... zu dieser Auswahl gehört schon eine gehörige Portion Phantasielosigkeit. Eigentlich unglaublich: Da sollen Menschen in eine völlig andere Welt gebracht werden, zum ersten Mal die Konfrontation mit einem Sternensystem weitab von der Sonne! Und was nehmen sie sich vor: Mes- sungen der Gravitation, Umlaufdauer, die Fein- struktur des Sonnenspektrums, Zusammensetzung der Atmosphäre, elektrisches Feld ... als würde es sich um einem Jupitermond handeln! Stellt euch vor: Kolumbus steigt aus seinem Schiff, stellt ei- nen Theodoliten auf und fängt an, Zahlen auf Perga- ment zu malen ... absurd! (S. 111/112)

Die Probleme, mit denen die Crew konfrontiert ist, basieren in erster Linie darauf, daß die Umgebung nicht mit ihrer Wahrnehmung übereinstimmt. Als Meßinstrument gelten hier die Sinnesorgane: Die Besatzung muß feststellen, daß das, was sie sehen, hören, riechen und fühlen kann, nicht so ist, wie es sein sollte, das heißt, nicht mit ihren gewohnten Vorstellungen übereinstimmt.

Was er erwartet hatte, war der bekannte, schon von Eugen Sänger beschriebene Sternenbogen, Effekt der Umsetzung von Radiostrahlung in sichtbares Licht infolge der Zeitdilatation. Zu dieser Zeit hätte erst ein kleiner, relativ hochfrequenter Teil der Radiowellen so weit gegen das Sichtbare hin verscho- ben sein dürfen, daß er als Farbe wahrnehmbar würde: ein heller Fleck im imaginären Zielpunkt der Fahrt, darum herum vielleicht einige mehr oder weniger scharf ausgeblendete Kreislinien, vermutlich in der Folge blau, gelb, grün und rot, entsprechend einigen aus irgendwelchen astrophysikalischen Gründen beson- ders stark vertretenen Spektralbereichen. Die Wirk- lichkeit sah anders aus: Was sich da als Bogen am Himmel erstreckte, erfaßte fast schon die Peripherie der in Fahrtrichtung liegenden Himmelshalbkugel, wies eine Unzahl feiner und feinster Linien auf, die Farben reich an allen möglichen Tönen, wobei sich die Vielfalt durch immer neue Kombinationen ver- schiedenfarbiger Kreise noch beachtlich erweiterte. Im Inneren der ringförmigen Leuchterscheinung lag aber nicht der erwartete und gefürchtete schwarze Fleck, aus dem nach weiter beschleunigter Fahrt schließlich ein gebündelter Gamma-Strahl auf sie zuschießen sollte, sondern eine eben scheinende Fläche in opalschillerndem Grau, eine quergespannte Haut, eine Wand aus gezogenem Glas - Blick in ein Linsensystem -, eine irgendwo in der Tiefe spiegelnde Fläche ... (S. 116/117)

Die Schlußfolgerung des wissenschaftlichen Leiters, der bei der ersten Expedition in dieses Gebiet dabei war, Dr. Blomak, lautet, daß die Wissenschaft offenbar von falschen Voraussetzungen ausgegangen sein muß. Bei einigen dieser Phänomene meinte man, sie nach kleinen Korrekturen in die bestehenden Theorien eingliedern zu können. Anderes aber, beispielsweise die Tatsache, daß sich der Bogen ganz plötzlich um das Raumschiff herum erstreckt, ist ihnen völlig unerklärlich.

Dazu gibt es meines Erachtens nur zwei Erklärungen, die aber auf dasselbe hinauslaufen. Erstens: Die Geschwindigkeit unserer Bewegung hat - ohne daß wir etwas davon bemerkt hätten oder den Grund wüßten, außerordentlich stark zugenommen. Wir wären bereits jetzt weitaus schneller, als wir es je vorgehabt haben. Die anderen Erklärungen: die Lichtgeschwin- digkeit, die wir für eine Konstante gehalten haben, hat überraschenderweise stark abgenommen, die Licht- wellen bewegen sich also nur noch mit einem Bruchteil ihrer gewöhnlichen Geschwindigkeit durch den Raum. So müssen wir natürlich den Eindruck gewinnen, daß sich unsere Fahrt beschleunigt hat. Beides aber bedeutet dasselbe: daß hier unbekannte Naturgesetze gelten, anders als jene, die auf der Erde nachgewie- sen wurden. (S. 118)

Die Neigung ist groß, die Tatsachen aufzufordern, sich nach der Theorie zu richten.

Ein lohnenswertes Thema für jeden, der sich mit der Frage nach der Effektivität wissenschaftlicher Forschungen befaßt: Gibt es auch noch andere Forschungsmethoden als die, zu konstatieren, zu messen, festzustellen und zu beobachten - die Herbert W. Franke ja durchaus glaubhaft in Frage stellt, indem er ihre Wirkungslosigkeit beschreibt. Leider sind seine Schlußfolgerungen nicht konsequent genug, sie zweifeln die Grundlagen und Voraussetzungen für das Erstellen wissenschaftlicher Methoden nicht wirklich an. Er bleibt mit der Lösung für seinen Roman im Rahmen der bekannten Herangehensweise: Er tauscht lediglich Gesetzmäßigkeiten mit Gesetzmäßigkeiten aus. Das grundsätzliche Prinzip, zuerst eine Theorie aufzustellen, und die Wirklichkeit entsprechend zu interpretieren, bleibt bestehen und alle wissenschaftlichen Methoden werden darauf abgestimmt.


Herbert W. Franke
Transpluto
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 1982