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REZENSION/073: Gert Ledig - Die Stalinorgel (Antikriegsroman) (SB)


Gert Ledig


Die Stalinorgel



Das Genre der Kriegsliteratur ist in einem Deutschland, das sich seit 1990 ferner denn je jeder Möglichkeit wähnt, von einem anderen Staat überfallen zu werden, und dem die Entsendung eigener Soldaten auf fremde Schlachtfelder lauterster Friedensdienst ist, weitgehend in Vergessenheit geraten. Seit dem unspektakulären Entschlafen der letzten größeren Bewegung gegen den Atomkrieg und der Mutation führender Pazifisten zu Vorkämpfern der Weltgerechtigkeit von Gnaden der EU und USA findet sich für die literarische Aufarbeitung des Krieges kaum ein Publikum, das nicht mit der cineastischen Ästhetisierung dieses ältesten Themas menschlichen Gegeneinanders à la "Der Soldat Ryan" zufriedenzustellen oder der alleinseligmachenden Geschichtsdoktrin zum verheerendsten Krieg des letzten Jahrhunderts, die in den vermarktungsorientierten und konsumkompatiblen Machwerken eines Guido Knopp gesetzt wird, erlegen wäre.

Dementsprechend verdienstvoll war die Wiederherausgabe des Buches "Die Stalinorgel" durch den Suhrkamp Verlag im Jahre 2000 kurz nach dem Tod seines Verfassers Gert Ledig am 1. Juni 1999. Damit wurde ein 1955 erstmals erschienenes und nach durchaus breiter Rezeption und positiver Würdigung als erfolgreich zu bezeichnendes Buch wieder verfügbar gemacht, das mit dem Scheitern des Versuchs, die Wiederbewaffnung der BRD und die damit einhergehende Vertiefung der deutschen Spaltung zu verhindern und der immer aggressiver durchgesetzten Remilitarisierung der Bundesrepublik den Protest der Straße entgegenzusetzen, in Vergessenheit geraten war. Obwohl Ledig mit der Schilderung eines auf 48 Stunden befristeten Ausschnittes vom Kampf um eine Höhe an der Ostfront in der Nähe von Leningrad im Spätsommer 1942 ein Werk vorgelegt hatte, das in der Distanzlosigkeit zum Kampfgeschehen und der Bodenlosigkeit allen menschlichen Strebens in der Hölle gegenseitiger Zerfleischung keinen Vergleich mit den berühmtesten Werken der Antikriegsliteratur zu scheuen braucht, obwohl er mit weiteren Romanen über die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und ihre Auswirkungen auf die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft erlebte Zeitgeschichte auf höchst eindrückliche Art wiedergibt, suchte man seinen Namen in Standardwerken zur deutschen Literaturgeschichte lange vergebens.

In einer Zeit, in der sich Bundeskanzler herausnehmen, deutsche Soldaten gerade dorthin marschieren zu lassen, wo die Stiefel und Panzerketten der Wehrmacht tiefen Eindruck in der Erinnerung der Menschen hinterlassen haben, tut man gut daran, sich an die Realität der Fronterlebnisse der Soldaten des Zweiten Weltkrieges zu erinnern. Diese Aufgabe erfüllt gerade eine so subjektive wie allgemeingültige Darstellung, die Ledig in "Die Stalinorgel" niedergelegt hat, vorzüglich. Der Autor hat zwar selbst in der von ihm gewählten Region gekämpft, doch könnte das Szenario eines aus der Sicht beider Seiten der Front geschilderten Kampfes um einen für die in sicherer Distanz befindliche militärische Führung strategisch bedeutsamen Punkt, der für die betroffenen Soldaten jedoch allein durch die unmittelbare Topographie seiner Deckungsverhältnisse und Schußfelder in Erscheinung tritt, an fast jedem Ort der Ostfront stattgefunden haben. Die Akteure sind dementsprechend prototypisch angelegt, sie verkörpern in der Anonymität ihrer Funktionszuweisung und Rangordnung die Namenlosigkeit des Räderwerks einer Maschine, das gerade in der rein zweck- und verbrauchorientierten Integration der Menschen in das hierarchische Zwangsystem der Armee das Gesicht eines Schmerzes erhält, dessen Grauen sich der Leser kaum entziehen kann.

In dem von Florian Radvan verfaßten Nachwort zur Wiederherausgabe des Buches erfährt man, daß die Direktheit der von jeglichem ideologischen wie heroischen Anwurf baren Schilderung Ledigs bei aller unausweichlichen Würdigung ihrer schriftstellerischen Qualität nicht jedermanns Sache war. So berichtet Radvan von Änderungsvorschlägen des Claassen-Verlags an dem Manuskript der "Stalinorgel", die "eine teilweise überdrehte Gewaltdarstellung" betrafen, und der Ablehnung des Ledig-Romans "Vergeltung" durch den gleichen Verlag, demzufolge der Autor in der Schilderung der Leiden des Bombenkriegs "Grauen auf Grauen häuft und keinen menschlichen Rest bestehen läßt, dem zuliebe der Leser all diese Grauen auf sich nimmt". Der Widerspruch zwischen der zwar stets verlangten, in ihrer Einlösung jedoch als unerträglich empfundenen und daher abgewehrten Authentizität entfaltet dort seine Wirkung am stärksten, wo existentielle Aussichtslosigkeit auf den Leser übergreift und Fragen provoziert, die über den geschilderten Gegenstand weit hinausgehen.

Ledig wurde bisweilen von DDR-Rezensenten vorgehalten, allzu nihilistisch das bloße Grauen des Krieges in den Vordergrund zu stellen und keine Bewertung seiner Hintergründe, in dem Fall des antifaschistischen Kampfes der Sowjetunion gegen Hitlerdeutschland, vorzunehmen. Heute liegt die Aktualität des Buches jedoch gerade in der Totalität des Krieges, der jeden Beteiligten völlig unabhängig von seinen Motiven mit Haut und Haaren absorbiert, um ihn entweder als Leiche oder als lebenslänglich gezeichnetes Opfer seiner Erinnerungen wieder auszuspeien. In der damaligen Situation konnte die politische Botschaft des Buches jedoch ohne weiteres aus der schon wieder wachsenden Kriegsgefahr und der dabei dominanten Rolle der westlichen Alliierten abgelesen werden.

Der Münchner Ledig war als Mitglied der KPD und Sympathisant der DDR durchaus auf einem politischen Minenfeld tätig, und die Tatsache, daß der Claassen-Verlag auch die Rückblenden auf den Ersten Weltkrieg, die den deutschen Militarismus illustrieren, aus dem Manuskript strich, das in seiner Originalform nicht erhalten und daher nicht wiederherzustellen ist, zeigt, daß man gerade angesichts der Ablehnung, die dem Buch von anderen Verlagen entgegenschlug, Rücksicht auf die Animositäten weniger des BRD-Publikums als der BRD-Eliten nahm. Schließlich war die Bevölkerung keineswegs mehrheitlich von der militaristischen Politik der Regierung Adenauer begeistert, so daß ein Werk, zu dessen dramatischsten Szenen die Abhaltung eines Standgerichts in der unter russischem Feuer liegenden Kommandantur des betreffenden Frontabschnitts gehört, von vorneherein mit Gegenwind zu rechnen hatte.

Gerade in dieser Episode, in der die Militärjustiz in Form eines Gerichtsoffiziers in Erscheinung tritt, der Recht und Ordnung gegen die Auflösungserscheinungen der Truppe durchsetzen will, während um ihn herum alle die Flucht ergreifen und nur einige Offiziere, die er für das Gericht verpflichtet, nicht anders können, als so - gegenüber den angreifenden Russen - oder so - gegenüber der Disziplinlosigkeit grausam vergeltenden Instanz des Kriegsrechts - ihren Kopf zu riskieren, erweist sich diese Sonderform der Rechtsprechung als von grundauf durch die Gewalt staatlichen Verfügungsinteresses bestimmt. Wenn schließlich an einem fahnenflüchtigen Unteroffizier ein Exempel statuiert werden soll, während sich alle anderen um ihn herum aus kreatürlichem Überlebenstrieb nicht minder schuldig machen, und der zur Ausführung der Exekution mittels eines eigenen Aktes der Feigheit vor dem Feinde erpreßte Offizier nach einer Hinrichtung, für die der Delinquent durch Vorspiegelung falscher Tatsachen gefügig gemacht wird und deren Ausführung eher einem Mord im Affekt als einem justiziablen Ritual gleichkommt, dem Wahn verfällt, dann hat man einen Blick auf Sinn und Funktion der Militärjustiz erhalten, der begreiflich macht, mit welchen Mitteln Menschen in Situationen getrieben werden, die ihren Wünschen und Hoffnungen gegenüber nur vernichtenden Charakters sein können.

Ledigs Prosa ist von einer dichten und prägnanten Form, die die Unannehmlichkeit eines Lebens unter menschenfeindlichsten Bedingungen ebenso spürbar macht wie die Negation jedes Sinns und Zwecks, der Soldaten suggeriert wird, um sie über die Androhung konkreter Strafen hinaus leistungsfähig und angriffslustig zu machen. Die Kontakte zwischen ihnen sind von einem System fremder Absichten und Ziele geprägt, die sie in mörderischer Feindseligkeit, erzwungenem Gehorsam, opportunen Bündnissen und niederträchtigen Hinterhalten um das Bezwingen des jeweils anderen, dessen Endlichkeit das eigene Leben noch ein wenig verlängert, ringen läßt. Individuelle Erinnerungsfetzen, die in Form kursiv gesetzter Rückblenden an die zivile Persona der Akteure erinnern, lassen derweil erkennen, daß Belastbarkeit und Empfindsamkeit der sich grausam traktierenden Kontrahenten allzu menschlich sind, was niemandem ein Trost sein kann, der schon an den Widrigkeiten eines für sicher gewähnten Alltags scheitert.

Der 1921 geborene Autor war ganz offensichtlich darum bemüht, die Erfahrung des Krieges zugunsten einer besseren Zukunft fortzuschreiben. Der 1945 in die KPD eingetretene und der Partei auch nach ihrem Verbot die Treue haltende Ledig spendete die Einnahmen aus dem Verkauf der "Stalinorgel" einem Kinderheim für Kriegswaisen und traf 1958 mit seinem Hörspiel "Über Westdeutschland fliegt der Tod", das im Deutschlandsender der DDR ausgestrahlt wurde, den Nerv einer von Atomkriegsgefahr bedrückten Bevölkerung. Seinem Hörspiel "Der Staatsanwalt" aus dem gleichen Jahr, einem Sittengemälde über die von Profitstreben und Machterhalt gewebten Verstrickungen zwischen Politik und Wirtschaft der BRD, stellte er das Bekenntnis voran: "Ich bin Arbeiter und Schriftsteller. Weil ich liebe, kann ich auch hassen. Die Feder ist nur eine Waffe von vielen. Gert Ledig."

Es kann also nicht verwundern, daß ein Schriftsteller dieses Kalibers an politischer Schlagkraft und Streitbarkeit eine Zeiterscheinung blieb und auch mit der Wiederveröffentlichung seiner Werke nur einen kleinen Leserkreis fand. Der gleichfalls immer mehr in Vergessenheit versinkende Heinrich Böll wird im Nachwort zu "Die Stalinorgel" mit einer unveröffentlicht gebliebenen Bewertung des Buches zitiert, in der er als langjähriger Soldat unter anderem an der Ostfront ein kompetentes Licht auf die Ledigsche Sicht des Krieges und seiner literarischen Verarbeitung wirft. In dem Buch gebe es "keine Unterbetonung, kein literarisches Kunstmittel, und doch genügt der Roman hohen literarischen Ansprüchen: nicht ein einziges Mal wird der Zeigefinger erhoben, und kein Wort fällt von der verlorenen Generation; Handlung und Personen sind mit sicherem erzählerischen Instinkt gegeneinandergesetzt: das Weberschiffchen der Handlung flitzt an der Kette der Personen vorbei, webt sie erbarmungslos ein, und in Kursivschrift sind Muster eingesetzt, die dem ganzen Tiefe geben. Sinnloses Herumstampfen auf einem Stück Erde bei Leningrad: Gegenstoß, Rückzug, Igelstellung, zwei Nächte und zwei Tage eines Krieges, der fast zweitausend Tage und Nächte gedauert hat."

Auch Anna Seghers zollte Gerd Ledig höchsten Respekt, indem sie ihm 1956 attestierte, ein erschreckendes Portrait des Krieges geschaffen zu haben, das trotz des Verzicht auf die politische Bewertung des Kampfes der Sowjetunion gegen den Hitlerfaschismus bei jedem Leser, der nicht "ganz verhärtet und abgestumpft" sei, den Gedanken provoziere: "So ist der Krieg. Ich will kein Deutschland, in dem die Toten die Toten begraben." Diese Devise ist heute so maßgeblich wie vor 50 Jahren, als Ledig seine Kriegserlebnisse in eine höchst ergreifende, die Verletzlichkeit der Akteure, die Nacktheit ihres Überlebenswunsches und die Grausamkeit der sie verfügenden Ordnung mit der Wucht niemals verhallender, da niemals ihres Schreckens enthobener Schreie wirksam werdenden Prosa goß. Literatur von so verlustlos auf den Leser übergreifender Wirkung entsteht nicht zufällig unter dem Eindruck existentieller Not, die zu beseitigen auch und gerade ein Anliegen in Zeiten tiefsten, von krasser ökonomischer Gewalt gezeichneten Friedens sein könnte.


Gert Ledig
Die Stalinorgel
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000