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REZENSION/078: Nuruddin Farah - Yesterday, Tomorrow (Somalia) (SB)


Nuruddin Farah


Yesterday, Tomorrow

Stimmen aus der somalischen Diaspora



Wer heute an Somalia denkt, der denkt meist an Anarchie, Warlords oder gar Brutstätte des Terrorismus. Solcher abwertenden Einschätzungen nicht genug, dürfte sich bei vielen inzwischen ein Bild des Somaliers verfestigt haben, das diesem nahezu jede Menschlichkeit abspricht. In der üblichen Berichterstattung verkommen Somalis mal zu gefühllosen Banditen, die nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind, mal zu instinktgetriebenen, sich der zivilisierten Welt verweigernden Scheiterexistenzen, deren vermeintlich niederen Motive sie 1993 tote GIs durch den Straßenstaub von Mogadischu schleifen ließen.

Zu diesem Eindruck trugen nicht unwesentlich die Frontberichterstatter des US-Propagandasenders CNN bei, die vom Pentagon 1992 rechtzeitig an den Strand von Somalia beordert worden waren, um die Invasion der US-Soldaten live auf die heimischen Fernsehschirme zu bringen. "Ihr kriegt in den nächsten Stunden eine klasse Show zu sehen", versprach damals Armeesprecher Kirk Cocker den geduldig ausharrenden Medienvertretern, bevor die Friedensengel in ihren Landungsbooten einschwebten, angeblich gekommen, um eine Hungerkatastrophe abzuwenden, faktisch aber, um Weltordnungspolizei zu spielen.

Ein Jahr darauf, in dem die Somalier unter anderem die Folter und Vergewaltigung somalischer Jungen durch UN-Soldaten sowie das vernichtende Bombardement einer Versammlung zahlreicher somalischer Persönlichkeiten durch US-Kampfhubschrauber miterleben mußten, kondensierten sich jedoch einzig und allein die CNN-Bilder jenes geschändeten toten US-Soldaten zum kulturellen Gedächtnis des Westlers und seiner Vorstellung von dem, was Somalia angeblich kennzeichnet.

Der Autor Nuruddin Farah zeigt mit seinem Buch "Yesterday, Tomorrow - Stimmen aus der somalischen Diaspora", daß diese Sichtweise von Land und Leuten eine Perversion ist. Die Herzen der Somalis sind nicht mit Haß auf die westliche Welt erfüllt und sie sind auch keineswegs leer, wie uns die Fernsehbilder glauben machen wollen. Die von Farah in Dialogform wiedergegebenen Gespräche, die er über mehrere Jahre hinweg mit somalischen Flüchtlingen in Kenia, Italien, England, Schweden und der Schweiz geführt hat, zeugen von einer tiefen und vielschichtigen Gefühlswelt der Vertreter eines Volkes, dessen Geschichte von Fremdherrschaft geprägt ist und das vielleicht deswegen eine starke Sehnsucht nach seiner Heimat entwickelt hat, einen besonders großen Wert auf Traditionen legt und sich gegenüber Einflußversuche von außen zur Wehr setzt.

Am auffälligsten an der somalischen Gesellschaft ist das Leben in Clanen und Unterclanen. Doch für diese Form des Zusammenlebens wird offenbar in der heutigen globalisierten Welt kein Platz mehr freigehalten. Nicht einmal von Nuruddin Farah selbst, der 1976 unter dem repressiven Regime Siyad Barres aus dem Land fliehen mußte und nach Jahren im Exil, in der Geisteshaltung eines Kosmopoliten, vor allem die festgefahrenen Clanstrukturen für den Bürgerkrieg und Exodus der Somalis nach dem Sturz des Diktators im Jahre 1991 verantwortlich macht.

Sicherlich, Barre hatte eine Günstlingswirtschaft betrieben und alle wichtigen Ämter und Pöstchen mit Leuten seines Clans besetzt, und auch in der Zeit danach verliefen die Bürgerkriegsfronten entlang der Clane. Indes sollte nicht vergessen werden, daß Barre von den Weltmächten, zunächst der Sowjetunion und dann den USA, tatkräftig unterstützt und für die Durchsetzung ihrer eigenen Interessen am Horn von Afrika instrumentalisiert worden war. Und noch vor dieser Phase der Stellvertreterhegemonie hatten verschiedene Kolonialmächte das Land beherrscht und unter sich aufgeteilt - Frankreich "besaß" das heutige Djibouti, Britannien die Provinz Somaliland und Italien das somalische Kernland. Schon zu der Zeit hatte das Clanwesen seine Ursprünglichkeit eingebüßt, es war von der Fremdherrschaft überprägt und mißbraucht worden.

Farah bezieht sich deshalb in seiner Ablehnung der Clangesellschaft auf eine Entwicklung, die sich durchgesetzt hat, aber mit der vielleicht ursprünglich einmal vorhandenen Idee, die zur Bildung dieser spezifischen Form von Überlebensgemeinschaft geführt haben könnte, nämlich Loyalität der Mitglieder untereinander und damit Standfestigkeit gegenüber menschlichen ebenso wie natürlichen Gewalten, keinerlei Verwandtschaft mehr erkennen läßt.

Zeitlich knüpft Nuruddin Farah mit seinem Buch an das Jahr 1991 an, in dem viele Einwohner wegen der plötzlich ausgebrochenen Clanskämpfe und unüberschaubaren Verhältnisse nach Kenia geflohen sind und dort von den Behörden in Lagern untergebracht wurden. Hier traf der Autor, der damals nicht allzuweit entfernt als Literaturprofessor an einer Universität in Uganda gearbeitet hatte, auch auf die geflohenen Mitglieder seiner eigenen Familie, und er erfuhr aus erster Hand von der chaotischen Lage in Mogadischu, den Plünderungen ebenso wie der eigenen Absicht, wieder zurückzukehren und sich daran zu beteiligen. Farah räumt ein, es sei ihm schwer gefallen, das Buch zu schreiben. "Von Zweifeln bestürmt", habe er mehr als einmal das Projekt aufgeben wollen. Dennoch habe der Drang, es zu schreiben, überwogen. Der Autor begründet seine Entscheidung mit den Worten:

Wenn ich es nicht fallengelassen habe, liegt das an meinem Wunsch, in Somalias Anarchie eine gewisse Ordnung zu bringen, in Einklang mit der Weisheit, daß die Person, deren Geschichte erzählt worden ist, nicht stirbt. Hier sind also die Stimmen der Flüchtlinge, der Exilanten, der Vertriebenen. Ich präsentiere sie Ihnen in Demut: roh, voller Tränen, schmerzensreich. Es sind Berichte von einer ganzen Nation in Geiselhaft, die ein Meer von Geschichten ergeben, erzählt von Somalis in einer Übergangssituation. (S. 11/12)

Farah hat über Jahre hinweg vieler seiner in alle Himmelsrichtungen zerstreuten Landsleute aufgesucht und sie von ihren Erlebnissen berichten lassen. Vorzugsweise erkundigte er sich nach ihren Erfahrungen in dem Gastland oder befragte sie über ihre Einschätzung der Lage in Somalia und ob sie an eine Rückkehr dächten. Die auf seine Fragen antwortenden "Stimmen aus der Diaspora" werden von dem Autor sehr einfühlsam wiedergegeben und in Schilderungen seiner eigener Erfahrungen mit anderen Menschen, bei denen er entweder Gast sein durfte oder die ihm in ihrer Funktion als Beamte entgegentraten, eingebettet. Dabei beleuchtet Nuruddin Farah an mehreren Stellen sehr deutlich, daß man ihm und seinen Landsleuten im Ausland häufig mit Mißtrauen begegnet. Beispielsweise hat der Autor, der für die Recherche zu diesem Buch notgedrungen sehr viel reisen mußte, feststellen müssen, daß Somalis bei der Einreise in ein anderes Land stets aus der Warteschlange herausgewunken werden und daß das anschließende Verhör offenbar obligatorisch ist - anscheinend wirkt sich das Fehlen einer Zentralregierung in Somalia höchst irritierend auf Grenzbeamte anderer Nationen aus.

Der Autor vermag aber nicht nur den Dünkel westlicher Bürokraten treffend offenzulegen, auch für das Gehabe und Gebaren seiner Landsleute in der Diaspora hat er ein feines Gespür, das er mit nicht minder feiner Feder zu Papier bringt, wie folgende Schilderung eines Abends im Jahre 1991 in der kenianischen Hafenstadt Mombasa, kurz nach der Flucht seiner Familie aus Mogadischu, zeigt:

Sie tauschten Geschichten aus, die in den Gerüchteküchen des Exils zusammengebraut worden waren. Nacheinander gaben sie haarsträubende Erzählungen von sich, die sie gehört hatten. Sie ließen einander geduldig aussprechen, brachten Gegenversionen, fügten hinzu oder ließen weg. Einige der Geschichten waren mir schon vertraut. Dennoch wußte ich immer noch nicht, was der apokryphen Vorstellungswelt des Gerüchtesumpfes entstammte und was im Haus der Wahrheit beheimatet war. (S. 33)

Solche bildhaften Reflexionen, angereichert mit zahlreichen, teils ob ihrer Absurdität zum Schmunzeln anregenden Dialoge, sind stilistisch gelungen und bereichern das Schaffenswerk des Autors, dessen Name schon häufiger im Vorfeld der Vergabe des Literaturnobelpreises genannt wurde. Farahs frühere Romane, die ebenfalls bei Suhrkamp herausgegeben werden, spielen in Somalia selbst. Auch in dem soeben auf englisch erschienenen Roman "Links" führt der Autor die Leserschaft zurück in seine Heimat, die er so lange nicht gesehen hat.

Zweifellos ist Nuruddin Farah als Schriftsteller ein geeigneter Botschafter seines Landes. Mal mit sanfter, mal entschlossener, aber nie verletzender Stimme mahnt er, daß die kulturell geprägte Sichtweise des Europäers nicht die einzige auf der Welt und der westliche Absolutheitsanspruch eine Anmaßung sei. Demgegenüber tauchen aber die früheren afrikanischen Kolonien nicht als bloße Opfer auf. Auch an der diffamierenden Selektion der somalischen Flüchtlinge durch die kenianischen Behörden läßt Farah kein gutes Haar.

Die Ernsthaftigkeit des Autors, die persönlichen Beweggründe von Menschen vor dem Hintergrund historischer Umbrüche verstehen zu wollen, wird vor allem dadurch unterstrichen, daß er keine Multikultimission verfolgt und die gewachsenen Unterschiede der Völker nicht wegzuerklären trachtet. Die Eigenarten sowohl der Somalis als auch der Kenianer, Italiener, Schweizer, Schweden oder Briten, denen er in "Yesterday, Tomorrow" begegnet, werden aus einer beobachtenden, zugewandten Neugier heraus geschildert, nicht jedoch verurteilt. Genau darin unterscheidet sich Farah deutlich von vielen anderen Autoren, die "über" Afrika schreiben und nur das wiedergeben, was sie sowieso immer sehen, da es durch dieselben Augen wahrgenommen wurde. Die unvoreingenommene Einstellung Farahs hingegen dürfte die Herzen seiner Landsleute geöffnet und sie zum Sprechen gebracht haben, selbst jene Gesprächspartner, die aus der Not geboren ein eher verschwiegenes Leben führen.

So erhielt Farah, nachdem er das Vertrauen eines somalischen Schleusers gewonnen und mit ihm gesprochen hatte, von diesem die Adresse eines anderen Schleusers, der ihm nähere Auskünfte und eine weitere Adresse eines "Kollegen" gab. Was in keinem sachlichen Bericht über illegale Schleuseraktivitäten zu erfahren ist, liefert Farah im nebenherein, während er dabei sein Mosaik der Somalis in der Diaspora Stück für Stück ergänzt. Wenn zum Beispiel ein Biochemiker, der zuvor an der Universität von Mogadischu gelehrt hat und vier Fremdsprachen beherrscht, nun seinen Unterhalt mit dem Schleusen somalischer Flüchtlinge bestreitet, dann trägt bei Farah selbst die illegale Handlung noch ein menschliches Gesicht. Dabei heißt der Autor das Schleusen von Flüchtlingen keineswegs gut, aber er unterliegt auch nicht dem verbreiteten Reflex, sofort den moralischen Zeigefinger zu recken und sich von den Ansichten seiner Gesprächspartner distanzieren zu müssen.

Auf diese Weise gelingt es dem Autor, das womöglich enge Wertgefüge der Leserschaft auf unmerkliche Weise in Frage zu stellen. Das macht "Yesterday, Tomorrow" zu einer unterhaltsamen, informativen und nachdenklichen Lektüre.


Nuruddin Farah
Yesterday, Tomorrow. Stimmen aus der somalischen Diaspora
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
308 Seiten, 12,- Euro
ISBN 3-518-12320-3