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REZENSION/099: Pelewin - Der Schreckenshelm ("Die Mythen") (SB)


Viktor Pelewin


Der Schreckenshelm

Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus



Hin und wieder kommt es vor, daß sich Autoren bei dem Bemühen, etwas Einfallsreiches schreiben zu wollen, gehörig verlaufen. Wenn das ausgerechnet auf jemanden zutrifft, der sich mit dem Thema Labyrinth befaßt, erhält das allerdings eine recht skurrile Note. Viktor Pelewin zählt mit seinem "Schreckenshelm" eindeutig zu dieser Kategorie. Sein Versuch, sich mit vermeintlich inhaltsschwerem Chatroom-Geplapper der Herausforderung zu stellen, etwas Lesenswertes zum Mythos von Theseus und dem Minotaurus im Labyrinth von Kreta zu sagen, ist gescheitert. Pelewin hat von Anfang an den Faden verloren und seine Verwirrung auch noch als besondere Erkenntnis verkauft.

Dem klassischen Mythos zufolge, der hier in moderner Form verarbeitet werden sollte, ist der Held Theseus in das Labyrinth von Kreta eingedrungen, hat den bislang unbesiegten Stiermenschen Minotaurus bezwungen und, Ariadne sei Dank, anschließend mit Hilfe eines abgerollten Fadens wieder hinausgefunden. Diesen Stoff hat der junge russische Schriftsteller Viktor Pelewin im Rahmen einer internationalen Buchreihe, an der über 30 Verlage Geschichten zum Thema "Die Mythen" neu erzählen lassen, nahezu komplett als Chatroom-Gespräch zwischen gut einem halben Dutzend Personen verfaßt.

Nun ist bekannt, daß in Chatrooms ungeheuer viel kommuniziert wird, was häufig noch das pseudogewichtige Geplauder in Szene- Kneipen, auf Künstlertreffs und vermeintlichen Avantgarde-Parties an Aufgeblasenheit überbietet. Insofern könnte man sagen, daß Pelewin inhaltlich der von ihm gewählten dialogischen Form des Chatrooms treu geblieben ist. Dabei hat er nicht mit Anspielungen gegeizt. So nennt er eine Person "Romeo-y-Cohiba". Wem der Name nichts sagt, hat wirklich nichts verpaßt im Leben. Wer hingegen weiß, daß dies eine Anspielung auf kubanische Zigarren der Sorte Romeo y Juliette sein soll, kann sich vielleicht etwas auf sein Wissen einbilden. Aber was trägt solche Produktnamenkenntnis zu dem Mythos bei, den der Autor vorgeblich angetreten war zu erhellen?

Pelewins weitere Chatroom-Teilnehmer tragen Namen wie Nutscracker, Organizm(-:, Monstradamus, Ariadne, IsoldA oder UGLI 666. Lange Zeit sind sie verwirrt, suchen nach Orientierung, wissen nicht genau, wie sie überhaupt in diese Situation gekommen sind und vermögen nicht einmal zu sagen, was sie herausfinden wollen. Und sie entdecken nach einem für den Leser ermüdend langen Wortabtausch schlußendlich, daß sich ihre Wirklichkeit im Schreckenshelm befindet und dieser aber auch Teil der Wirklichkeit ist. Wer hätte das gedacht?!

Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: Es spricht nichts dagegen, wenn sich moderne Literatur um die Erschließung mythologischer Topoi bemüht. Nur zu! Daß sich internationale Verlage zu einem gemeinsamen Projekt über Mythen zusammenschließen, böte die Chance, sich dieser uralten Archivform auf eine so frische und entschlossene Weise zu widmen, daß selbst die uns heute überlieferten Versatzstücke hinsichtlich ihres ursprünglicheren, durch keine Schrift gefesselten Umgangs mit ungelösten Menschheitsfragen nähergebracht werden könnten.

Wer sich jedoch wie Pelewin rigoros über die ohnehin spärlichen Spuren des Theseus-Minotaurus-Mythos hinwegsetzt, hätte zumindest den Beweis antreten müssen, daß er sich diese abgehobene Einstellung leisten kann. Statt dessen aber erweckt er den Eindruck, sich an der Aufgabe kräftig verhoben zu haben. Wie auch die überdimensional dicke Zigarre, mit der sich der Autor auf einem Foto über dem hinteren Klappentext hat ablichten lassen, ein intellektuelles Fassungsvermögen vortäuscht, das an keiner Stelle des Buchs auch nur ansatzweise gezeigt wurde. Herausgekommen ist dagegen viel Rauch um nichts, und man ist geneigt zu vermuten, Pelewin sei der Nikotinschub so sehr zu Kopf gestiegen, daß sich dieser zu einem gewaltigen Schreckenshelm mit zwei Hörnern ausgewachsen hat ...

In seiner vierseitigen Einleitung zum eigentlichen Chatroom- Gespräch vergleicht Pelewin die Mythen mit einer uralten Programmiersprache, die die Menschen heute nicht mehr verstünden. Dieses erfrischende Eingeständnis der Unwissenheit wird jedoch schon im nächsten Satz wieder verworfen und ins Gegenteil verkehrt:

Unser Verständnis ist so ausdifferenziert, so widersprüchlich und komplex, daß die Frage "Was bedeutet es?" jeden Sinn verliert. (S. 8)

Damit gibt Pelewin bereits die Schlußantwort vorweg. Seine tiefe Sinnverbundenheit besteht in der Aussage, daß die Frage nach dem Sinn ihre Bedeutung verliert. Im Grunde genommen hätte man das Buch an dieser Stelle bereits beiseite legen können, denn was folgt, verläßt die Grundlage der vorangestellten Behauptung der Sinnlosigkeit nicht. Deshalb wundert es auch nicht, daß Pelewin im weiteren Verlauf seiner einführenden Erklärung Wahrheiten postuliert und Widersprüchliches lose aneinanderreiht:

Warum hat der Minotaurus einen Stierkopf? Was geht darin vor? Ist sein Geist eine Funktion seines Körpers, oder ist sein Körper nur ein Bild in seinem Geist? Befindet sich Theseus im Labyrinth? Oder das Labyrinth in Theseus? Oder beides? Oder keines von beidem? Jede Antwort bedeutet, sich in einem anderen Gang des Labyrinths zu verlieren. Schon viele behaupteten steif und fest, die Wahrheit zu kennen. Doch bislang hat keiner aus dem Labyrinth herausgefunden. (S. 8)

Pelewin liefert hier seine Wahrheit gleich im Doppelpack. Erstens als Behauptung, daß jede Antwort bedeute, sich in einem anderen Gang des Labyrinths zu verlieren, und zweitens, daß bislang keiner aus dem Labyrinth herausgefunden habe. Woher will er das wissen? Das ließe sich nur von außerhalb des Labyrinths feststellen, was aber seiner Aussage widerspräche. Wäre die ganze Welt ein Labyrinth, könnte das niemand erkennen. Ein Labyrinth existiert nur, wenn es ein Nicht-Labyrinth, ein Außerhalb gibt, das als Vergleich herangezogen werden kann. Im Unterschied zu Pelewins "Schreckenshelm" wird im klassischen Minotaurus-Mythos nicht mit absoluten Postulaten gehandelt, zum Beispiel dem, daß niemand aus dem Labyrinth herausgefunden habe.

Wenn die Einleitung bereits so verquast ist, wundert es natürlich nicht, wie weit Pelewin im weiteren Verlauf seiner Erzählung danebengreift. Beispielhaft kann dies an einer Textpassage aufgezeigt werden, in der Ariadne den anderen Chatroom- Teilnehmern berichtet, wie sie einen Zwerg getroffen und mit ihm gesprochen habe. Der sei dann aber davongerannt, und während sie auf ihn wartete, habe sie in einigen alten Ordnern an der Wand gestöbert, worin Fragen gestellt worden seien. Jetzt habe sie einige Blätter mit Antworten vorliegen. Aber man erfahre wenig Neues daraus. Die "ewigen Fragen" seien früher auch nicht schlauer gewesen, "sonst wären sie ja nicht ewig", schreibt die Figur Ariadne in ihrem Chatroom (S. 171).

Dieser Behauptung müßte entgegengehalten werden, daß genau umgekehrt ein Schuh daraus wird: Eine "ewige Frage" wäre als sehr schlau zu bezeichnen, eben weil sie ewig Bestand hat und durch keine Antwort eliminiert werden konnte. Dieser Umkehrschluß ist insofern nicht unerheblich, als daß hieran Pelewins Unverständnis deutlich wird. Wenn Mythen nur austauschbare, jederzeit reproduzierbare, sinnentleerte Erzählungen ähnlich dem "Schreckenshelm" wären, bräuchte man sie wirklich nicht zu bewahren. Dann ginge einer Kultur auch nichts verloren, wenn sie keinen mythologischen Hintergrund mehr besäße. Doch jeder, der sich näher mit Mythen befaßt, dürfte zumindest ahnen, daß in ihnen mehr steckt, als sich ihm auf den ersten Blick erschließt.

Auf eine moderne literarische Verarbeitung von Mythen hingegen, die sich darin gefällt, sich von der ersten bis zur letzten Seite in unzusammenhängenden Banalitäten zu ergehen, kann sehr wohl verzichtet werden; womöglich hat Pelewin inhaltliche Beliebigkeit mit Avantgarde verwechselt. Davon abgesehen ist dem Übersetzer Andreas Tretner ein Lob auszusprechen. Er hat sich redlich Mühe gegeben, dem Produkt durch eine variantenreiche Sprache mehr Gehalt zu verleihen. Dennoch bleibt zu resümieren, daß mit dem "Schreckenshelm" kein Mythenschatz gehoben wurde - er wurde auch nicht tiefer versenkt, denn das unterstellte, daß es überhaupt zu irgendeiner nennenswerten Berührung mit dem Ursprungsstoff gekommen wäre.

13.11.2006


Viktor Pelewin
Der Schreckenshelm
Der Mythos von Theseus und dem Minotaurus
Berlin Verlag
Berlin 2005
188 Seiten
ISBN 3827004470