Schattenblick →INFOPOOL →BUCH → ROMANE

REZENSION/107: Tomás Mac Siomóin - An Tionscadal (Gälisch) (SB)


Tomás Mac Siomóin


An Tionscadal



Ende 2006 hat Tomás Mac Siomóin beim Oireachteas, dem alljährlichen Fest gälischer Kultur in Irland, für sein Buch "An Tionscadal" den Preis für den besten Roman des Jahres gewonnen. Ungewöhnlich wie auch erfrischend für einen gälischsprachigen Roman, hat "An Tionscadal" nichts - jedenfalls nicht direkt - mit Irland zu tun. Es kommen darin weder Kartoffelplage noch Keltischer Tiger, weder Trunksucht noch die Troubles in Nordirland, weder Bestechungsskandale noch Bauboom vor. Statt dessen befaßt sich Mac Siomóin mit Fragen universeller Natur - Leben und Sterben, Gesellschaftsordnung, Gier, Globalisierung sowie Übermacht der Konzerne und der Geheimdienste. Übersetzt heißt "An Tionscadal" "Das Projekt". Im Roman geht es um eine bahnbrechende Entdeckung, die das Leben aller Menschen auf diesem Planeten völlig verändern könnte - was mächtige Interessen auf den Plan ruft.

Die Hauptfigur des Buches, der irische Kosmopolit Daithí O'Gallchóir, arbeitet, obwohl eigentlich gelernter Chemiker, als leitender Manager der Vermarktungsabteilung von Martell, einem weltweit führenden Pharmaunternehmen. Bei einem Aufenthalt in Barcelona bekommt der Kunstliebhaber - er beschäftigt sich in seiner Freizeit mit mittelalterlichen Kirchenfresken - eine uralte Karte in die Hände, die ihn in ein fast vergessenes Dorf führt, wo es ein ganz besonderes, religiöses Wandmotiv gibt. In Les Pedres stellt O'Gallchóir mit Erstaunen fest, daß die Menschen dort im Schnitt über 300 Jahre alt werden und kaum bis gar keine Gesundheitsbeschwerden kennen. Wollte O'Gallchóir übersprünglich das Foto des als verschollen geltenden Freskos für seine Sammlung aufnehmen, so geht es ihm nun um nichts weniger, als das große Geheimnis von Les Pedres zu ergründen und in Besitz zu nehmen. Zwar schweben ihm allerlei Vorteile für die Menschheit vor, letztlich aber hat er nur den persönlichen Ruhm im Sinn.

Der 1938 geborene Mac Siomóin, der seinen Doktor der Biologie an der renommierten Cornell-Universität in den USA gemacht hat und seit rund zehn Jahren in Katalonien lebt, schöpft in der Figur O'Gallchóirs sowie den örtlichen Gegebenheiten in den östlichen Pyrenäen, wo er Les Pedres angesiedelt hat, aus dem eigenen Erfahrungsschatz. Sein Interesse für lateinamerikanische Literatur findet in der Reise O'Gallchóirs nach Les Pedres, einer Art europäischem Shangri La, und in den Erfahrungen, die der Romanheld dort macht, seinen Niederschlag. Dieser erste Teil des Buchs, der im Jahr 2000 spielt, erinnert gelegentlich an den magischen Realismus eines Gabriel García Márquez.

Erzählt wird die ganze Geschichte in Form eines Tagebuchs, das von O'Gallchóir geführt und in der zweiten Hälfte des Romans um fiktive Dokumente und Ausschnitte aus dem Protokoll einer mehrtägigen Konferenz der Firma Martell in Barcelona im Jahr 2005 ergänzt wird. Auf der Konferenz wird von firmeneigenen Experten sowie hochrangigen Gästen aus Militär, Politik, Religion und Wirtschaft umfassend die Frage diskutiert, ob man das Lebenselixier Sempraviva, das O'Gallchóir aus Les Pedres mitgebracht hat, den Menschen zugänglich machen sollte oder nicht. Diesen Teil des Buchs nutzt der bekennende Marxist Mac Siomóin geschickt, um die wichtigsten politischen Themen unserer Tage - demographische Verschiebungen, Klimawandel, Nutzung der Gentechnologie, Ressourcensicherung, Sozialabbau und "Terrorismus" - unter die Lupe zu nehmen und zu zeigen, wie einseitig und menschenfeindlich die neoliberalen Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts sind. Eigentlich sind es gar keine Antworten, sondern Denkblockaden, die jede Lösung der Probleme der menschlichen Existenz unmöglich machen und jede Utopie von vornherein ausschließen.

Tatsächlich ist es der Vertreter des Vatikans, der auf der Konferenz über Fortsetzung oder Einstellung des "Projektes" den menschenfreundlichsten und philosophisch weitgreifendsten Ansatz präsentiert - was natürlich Bände über die erbsenzählende Sichtweise der versammelten Anthropologen, Finanzexperten, Psychologen, Soziologen usw. spricht. Hier zeigt Mac Siomóin, der selbst sowohl preisgekrönter Dichter als auch Übersetzer des Werkes des nicaraguanischen Befreiungstheologen Ernesto Cardenal Martínez aus dem Spanischen ins Gälische ist, daß der christliche Glaube nicht zwingend den Einsatz für eine bessere Welt im Hier und Jetzt ausschließt. In "An Tionscadal" hat Mac Siomóin viele aktuelle politische Fragen, die er sonst in seinen pointierten und anregenden Artikeln für Zeitschriften wie Comhar oder Red Banner verarbeitet, zu einer packenden Erzählung zusammengefaßt. An diesem empfehlswerten Roman wäre höchstens zu kritisieren, daß die Figuren, einschließlich der des O'Gallchóirs, etwas eindimensional gezeichnet werden. Doch möglicherweise war dieser Eindruck vom Autor gewollt, um die Verarmung des modernen Menschen im Hamsterrad der Konsum- und Leistungsgesellschaft zu unterstreichen.

28. Juli 2008


Tomás Mac Siomóin
An Tionscadal
Verlag Coiscéim (www.coisceim.ie), Dublin, 2007
208 Seiten