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REZENSION/134: Dorothee Häußermann - An einem ruhigen Ort (SB)


Dorothee Häußermann


An einem ruhigen Ort



Nein, mit dem ruhigen Ort, auf den der Titel des vorliegenden Romans anspielt, ist nicht die allerletzte Ruhestätte gemeint, zu der ein Mensch am Ende seines Lebens wieder zurückkehrt. Es geht um höchst lebendige Menschen und um einen Ort, Abergally, an der Nordwestküste Schottlands gelegen, an dem die Leute mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen. Das müssen sie auch, sonst würden sie von den in dieser rauhen Gegend kräftig auftretenden atlantischen Tiefausläufern, die Stürme und Regenmassen ohne Ende mit sich bringen, zur Verzweiflung gebracht. So wie die beiden deutschen Touristen Anne und Michael, die an dieser entlegenen Ecke Europas mit dem Fahrrad unterwegs sind, seit Tagen aus den nassen Klamotten nicht mehr herauskommen und sich wieder einmal den Regenschauern entgegenstemmen müssen.

Anne, Mitte zwanzig, die in Hannover Anglistik und vergleichende Literaturwissenschaft studiert, ist nach wie vor mit ihrem alten Schulfreund Michael, einem angehenden Mediziner und somit eigentlich eine gute Partie, liiert. Mit ihm an der Seite hätte sie einen relativ sicheren, finanziell gut versorgten Lebensweg vor sich. Oder sollte man besser sagen, daß sie ihn wie einen voll beladenen Güterzug auf sich zurasen sieht? Denn Anne ist unzufrieden, weniger wegen des Regens als wegen ihrer Beziehung. Ihr paßt nicht die Oberflächlichkeit Michaels, seine Gewohnheit, "zum Bleistift" zu sagen anstatt "zum Beispiel", und sein ständiges Klagen übers Wetter. Sie ist mürrisch, und er merkt es anscheinend nicht einmal.

Gleich auf den ersten Seiten der Romanhandlung erfahren die Leser, daß sich zwischen dem Paar Spannungen aufgebaut haben, die nun, da sie beim gemeinsamen Urlaub rund um die Uhr miteinander zu tun haben, Zug um Zug zum Ausbruch kommen. Da tritt etwas Unerwartetes in ihr Leben: Patric. Er nimmt die beiden Regendurchnäßten samt Fahrrädern in seinem Transporter mit zu seinem kleinen Selbstversorgerhof, den er und seine Frau Manon - sowie ihr gemeinsamer achtjähriger Sohn Lukas - betreiben. Mehr schlecht als recht, wie Anne herausfindet. Sie entdeckt aber noch mehr, viel mehr. Beispielsweise daß sie auf keinen Fall weiter mit Michael zusammen sein und nicht mit ihm nach Deutschland zurückfahren will. Statt dessen bleibt sie auf dem Hof und arbeitet dort mit. Manon und Patric, ihrerseits Außenseiter in dieser Gegend, sind damit einverstanden.

So gerät der angehende Bücherwurm aus Hannover in Kontakt mit lebendigen Würmern und erlebt allerlei taktile, olfaktorische und bis zur physischen Erschöpfung schweißtreibende Abenteuer, angefangen vom Herauslösen glibschiger Möhren aus dem vermodernden Winterlagerrest im Keller über das Ausmisten des Hühnerstalls bis zur Heuernte. Das alles muß Anne allerdings nicht in der kurzen Zeit ihrer abgebrochenen schottischen Radtourzweisamkeit überstehen, sondern größtenteils erst nachdem sie zwischenzeitlich nach Deutschland zurückgekehrt war und dort ihre Zelte abgebrochen hatte.

Häußermann, 1973 in Köln geboren, Studium der Anglistik und Germanistik in Marburg, hat in ihrem Roman augenscheinlich einiges von dem verarbeitet, was sie selbst erlebt hat: Ein Jahr auf einem Selbstversorgerhof, Abbruch ihrer Tätigkeit als Lehrerin an verschiedenen Schulen, heute als Freiberuflerin für Umweltorganisationen tätig. Das Engagement der Autorin beispielsweise im Kampf gegen die klimaschädliche Verstromung von Braunkohle dürfte beim Erschaffen der Romanfigur Anne Pate gestanden haben. Die bewegt sich in Kreisen, in denen über Themen wie fair angebauter Kaffee, der exorbitante Spritverbrauch von Luxuskarossen und organischer Anbau diskutiert wird. Anne ist ein in dieser Hinsicht besonders verantwortungsbewußtes Leben wichtig, was einer der Gründe ist, weswegen sie sich von dem Leben auf dem Selbstversorgerhof angezogen fühlt. Hier wird sie mit ihren Schwächen, Vorstellungen und Ansprüchen konfrontiert und steht ihre Frau.

Das zentrale Thema des Romans sind jedoch keine umweltbewegten Botschaften. Es geht um Beziehungen, und weil es sich um einen 388 Seiten langen Roman handelt, nimmt sich die Autorin viel Zeit für den Aufbau ihrer Figuren. Die lassen durchaus Tiefe erkennen, insbesondere Anne, aus deren Innensicht Häußermann die Handlungen der anderen Protagonisten schildert.

Die Stärken des Buchs liegen sicherlich in der einfühlsamen Schilderung der Gedanken Annes bei der Begegnung mit Eltern, Freunden, Bekannten, Dozenten und anderen Fremden. Ja, "Fremden", denn viele von ihnen begreifen nicht, weswegen sie ihrem Freund den Laufpaß gibt, ihr Studium an den Nagel hängt, Berufsperspektiven sausen läßt und durchaus Befriedigung darin finden kann, an einem Imbißstand Pfannkuchen zu backen, um ein wenig Geld zu verdienen oder eben nach Schottland zu ziehen.

Anne gelingt der Absprung aus Deutschland, doch irgendwie nicht die Ankunft. Jedenfalls landet sie nicht da, wo sie dachte, daß sie ankommen würde. Die Beziehung von Patric und Manon bricht auseinander, ihr gemeinsamer Sohn Lukas nervt die meiste Zeit, und sie, die in diesem Dauerzwist am liebsten neutral bleiben möchte, da sie sowohl mit Manon als auch mit Patric befreundet ist, wird eines Tages aufgefordert, Stellung zu beziehen. Das tut sie dann auch.

Schließlich schafft Anne einen weiteren Absprung, diesmal wieder zurück nach Deutschland. Die Anne im Jahr 2010 ist jedoch nicht mehr die aus dem Jahr 2003. Sie ist um einiges gereift, hat auf dem Bauernhof Dinge angepackt, von denen sie nie im Leben gedacht hätte, daß sie sie würde bewältigen können. Kühe melken, Gras sensen, Schafe scheren, Käse machen, mit der Motorsäge Holz zerlegen und, und, und. Das Studium hat sie nicht wieder aufgenommen und wohnt jetzt in Leipzig. Dort kellnert sie und lebt mit freundlichen Menschen in einer Dreier-WG.

So unspektakulär die Handlung auch erscheint, wer sich in die Gedanken und Gefühle einer jungen, umweltengagierten, taffen Frau hineinversetzen will und bereit ist, sich mitnehmen zu lassen, findet mit "An einem ruhigen Ort" einen sich behutsam entwickelnden Roman, der eine eigene Art von unterschwelliger Spannung verbreitet, die zum Weiterlesen reizt. Ganz nebenbei gelingt es der Autorin zu vermitteln, daß da etwas dran sein könnte, auch einmal etwas zu riskieren im Leben, nicht immer nur den bequemsten Weg zu wählen, wie dicke die anstehenden Probleme auch erscheinen mögen.

Am Ende fragt sich der Leser, ob sich Anne nach ihrem befristeten Aussteigerleben lediglich die Hörner abgestoßen hat wie wohl die meisten Heranwachsenden und jungen Erwachsenen, die nicht auf Anhieb die gesellschaftlichen Lockangebote zur gradlinigen Lebensführung angenommen haben, sondern erst über einen Umweg dahin gekommen sind, genau wie jene spießigen Bürger zu werden, vor denen sie sich früher immer gegraut haben. Oder ob Anne durch ihren gewagten Schritt überhaupt erst Hörner gewachsen sind, indem sie im fernen Schottland nicht nur vom Fahrrad, sondern auch aus dem ihr vertrauten Leben gestiegen ist, um selbiges, nach fast sieben Jahren als Bäuerin auf dem Selbstversorgerhof, gut gewappnet in Angriff nehmen zu können.

18. Januar 2013


Dorothee Häußermann
An einem ruhigen Ort
Edition Octopus, Münster 2011
388 Seiten, 18,50 Euro
ISBN 978-3-86991-406-0