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REZENSION/140: Elsie Chapman - Du oder Ich (Thriller, Science Fiction) (SB)


Elsie Chapman


Du oder Ich



Angesichts der Tatsache, daß am 1.5.2013 in Cumberland/Kentucky ein Fünfjähriger seine zweijährige Schwester mit einer Waffe erschoß, die er gerade zum Geburtstag geschenkt bekommen hat, und man weiß, daß jedes Jahr in Amerika 30.000 Menschen durch den Gebrauch von Schußwaffen sterben, denkt man im ersten Moment "typisch Amerika", wenn man dem Gespräch zwischen der 15-jährigen West Grayer und ihrem ein Jahr älteren Bruder Luc zuhört, mit dem das Buch "Du oder Ich" von der in Kanada lebenden Autorin Elsie Chapman beginnt. Die zwei Jugendlichen unterhalten sich über ihre Kampfausbildung als "Substitute" und es entfaltet sich ein Gesellschaftssystem, in dem jeder Mensch einen Doppelgänger hat, den er von Geburt an zu hassen hat und den innerhalb eines Monats zu töten er irgendwann im Alter zwischen 10 und 20 den Auftrag vom "Board" bekommt. Das nächste, was man sich fragt ist: Beruht dieser Roman auf einem Computerspiel? Denn assoziativ verbindet man den Begriff "Board" gleich mit Tastatur. Aber wenn man im Wörterbuch nachschlägt, findet man auch die Bedeutung "Behörde", die hier wohl zutreffender ist. Wieso die Doppelgänger allerdings "Substitute" heißen, bleibt bis zum Ende unerklärt, denn "Substitute" bedeutet eigentlich "Ersatz", "Vertretung" oder "Austausch". Die Menschen, die ihre Doppelgänger ermorden, ersetzen sie jedoch nicht. Sie reißen eine Lücke in Familien, Freundeskreise, Liebesbeziehungen. Denn diese Doppelgänger sind einfach andere Mitmenschen, die in anderen Familien aufgewachsen sind und nur durch genetische Manipulationen dasselbe Aussehen haben.

'Was soll das Ganze?', fragt man sich. West Grayer, aus deren alleiniger Sicht dieser dystopische Roman geschrieben wurde, gibt dem Leser auf Seite 27 eine eher dürftige - und auch nur auf diese eine Textstelle beschränkte - Erklärung, die auch wieder eher wie die Einleitung in die Hintergrundwelt eines Computerspiels klingt:

Damals, als der universelle Grippeimpfstoff die unschöne Nebenwirkung irreversibler Unfruchtbarkeit mit sich brachte, gelang es dem Board, die menschliche Rasse durch ein System von konstanten und sorgfältig überwachten biologischen Eingriffen am Leben zu erhalten. Doch die menschliche Natur ist darauf ausgerichtet, sich zu zerstören, egal wie viele Chancen sie erhält, und Krieg überzog die Welt. Eine Untergruppe des Boards spaltete sich ab, beanspruchte die obere Westküste Amerikas für sich und kehrte allen anderen den Rücken. Die stark bewachte Stadt nannten sie Kersh, die letzte kriegsfreie Zone der Welt.
Aber der Preis um hier leben zu können, ist hoch. Um innerhalb der Grenzen einigermaßen sicher zu sein, müssen wir uns im Gegenzug auf die Gefahr im Außen vorbereiten. Der Krieg im Surround dringt als konstante Bedrohung zu uns vor, brodelt immerzu direkt unter der Oberfläche. Deshalb zieht man uns zu Soldaten heran. Denn eine Stadt voller Killer zu überwältigen, wäre kein leichtes Unterfangen.
Da die Stadt vom Rest der Welt abgeriegelt ist, Raum und Mittel also begrenzt sind, sind hier nur die Besten von uns erwünscht. In seiner Genialität hat das Board Substitute kreiert, indem es die Gene so manipulierte, dass zwei identische Kinder von zwei unterschiedlichen Elternpaaren gezeugt werden. Jedem Paar kommt dabei die Aufgabe zu, den besten Killer heranzuziehen, den, der am härtesten im Nehmen ist.

23 Seiten weiter wird erklärt, wie diese Genmanipulation funktionieren soll:

Wenn Eltern ein Kind wollen, ruft das Board ihre individuelle Genkarte ab und erstellt eine neue, daraus kombinierte. Das nächste Elternpaar durchläuft dieselbe Prozedur. Dann nimmt das Board die Genkarten beider Babys und generiert das, was man einen Substitute-Code nennt. Dieses künstliche Genmaterial wird codiert, damit es die Gene so steuert, daß die äußeren Merkmale übereinstimmen. So gesehen sind Substitute wie Zwillinge. Das macht es ihnen leichter, sich gegenseitig zu finden - sie müssen einfach nur nach ihrem eigenen Gesicht Ausschau halten.
Manchmal überschreitet die Substituten-Codierung ihre Parameter und greift auf andere Gene zu, so daß die beiden Substitute über ähnliche Reflexe, Hirnmuster und Sprachfähigkeiten verfügen. Sich selbst zu besiegen und einen Weg zu finden, um zu gewinnen, ist die größte Herausforderung für jeden Kämpfer.
(Seite 50-51)

Einmal davon abgesehen, daß Genkarten zu erstellen und neu zu gestalten noch keine veränderten Menschen erzeugt, fragt man sich doch, wozu ein solcher Umstand betrieben werden soll. Gegen wen, bitte schön, soll denn hier gekämpft werden? Davon, daß die Stadt tatsächlich gegen ein feindliches Umfeld verteidigt wird, ist nämlich nirgendwo die Rede. Die Erwachsenen müssen sich weder fit halten noch zu irgendwelchen Reserveübungen antreten oder sich gar als Soldaten bewähren. Genausowenig bekommt man irgendetwas vom Krieg im Surround, der auf Kersh überschwappen könnte, mit. Und selbst wenn eine Bedrohung existent wäre, müßte man sich doch fragen, welchen Sinn es haben soll, die Hälfte der Gesellschaft zu eliminieren, bevor sie überhaupt die Stadt verteidigen kann.

Die Kinder durchlaufen in der Schule zwar eine Ausbildung, die sie dazu befähigen soll, ihre Doppelgänger zu ermorden, hat ein Kind jedoch das Pech, schon mit 10 Jahren den Auftrag zu bekommen, muß es eben versuchen, ohne Vorbereitung seinen Zwilling zu meucheln. Wenn es Glück hat, hat es noch Geschwister, die dafür sorgen, daß es sich frühzeitig im Gebrauch von Waffen übt. Doch nicht selten sind alle Geschwister schon zuvor diesem abartigem System zum Opfer gefallen und es muß sich allein durchs Leben schlagen, in dem die Substitute nicht nur der ständigen Angst ausgesetzt sind, umgebracht zu werden, sondern auch ein Leben zweiter Klasse führen müssen, denn Substitute dürfen nur minderwertige Nahrung kaufen und bekommen nur die niedrigsten Jobs.

Erst als Vollendeter, also als Mörder seines Doppelgängers, darf ein Kersh-Bewohner sein Leben so gestalten, wie er es möchte. Und das drückt sich darin aus, einen bequemen Job zu ergattern, heiraten zu dürfen und Kinder zu bekommen.

Für West Grayer liegt dieses Ziel noch in verhältnismäßig weiter Ferne, als Lucs Freund Chord mit der Hiobsbotschaft zu ihnen stößt, gerade aktiviert worden zu sein, also den Auftrag bekommen zu haben, innerhalb der nächsten 31 Tage sein Ebenbild zu ermorden. Sollte das weder ihm noch seinem Widersacher gelingen, werden beide eliminiert, denn alle Substitute haben eine Zeitschaltuhr im Kopf, die nach Ablauf der 31-Tage-Frist das Gehirn zerstört.

Hat man die Abscheu, sich in eine solche Gesellschaft hineinversetzen zu müssen, erst einmal überwunden, kann man sich zumindest mit der Hoffnung ans Lesewerk machen, daß es der Protagonistin vielleicht gelingen kann, dieses menschenverachtende System irgendwie zu Fall zu bringen.

Diese Annahme, sollte man meinen, ist bei einem solch abartigen Konstrukt menschlicher Barbarei selbstverständlich. Jedoch gibt es niemanden in diesem Plot, der das System wirklich in Zweifel zieht. Es geht den Protagonisten gar nicht darum, etwas gegen das Regime zu unternehmen, sondern zu lernen, wie man sich am besten in das System einfügt und das Überleben sichert. Auch die Striker, jene Auftragskiller, die vorgeben, sich dem System zu widersetzen, indem sie gegen Bezahlung den Auftrag eines Substituten übernehmen, stützen es, da sie den Wohlhabenden ermöglichen, ihr Leben freizukaufen.

Schwer nachzuvollziehen bleibt bis zum Schluß, warum West beschließt, sich dieser Killerorganisation anzudienen. Da sie zu jung für die schulische Waffenausbildung ist, vermutet man zunächst, daß ihr dort eine entsprechende Ausbildung im Mordhandwerk zukommt. Doch weit gefehlt. Nach dem Motto 'learning by doing' bekommt sie gleich nach ihrem Antrittsgespräch den Auftrag, ein 13-jähriges Mädchen zu killen, was ihr mehr schlecht als recht gelingt. Das kaltblütige Abschlachten Minderjähriger, deren Überlebenschancen sie gerade durch den Umstand minimiert, daß diese nicht mit einem Gegner rechnen, der nicht so aussieht wie sie, scheint ihr moralisch keine Probleme zu bereiten.

Die einzigen Emotionen, wenn man es überhaupt so nennen will, äußern sich in der stereotyp wiederkehrenden Trauer über den Verlust ihrer Geschwister und in der Angst um das Leben ihres Freundes, der ihr beistehen will und den sie ständig zurückweist, was sich auf so nervtötende Weise wiederholt und mit oberflächlichen Dialogen und aneinandergereihten Belanglosigkeiten durchsetzt ist, daß gelegentlich auftretende Spannungsmomente im Nu verpuffen.

Die Diskrepanz zwischen ihrer Trauer und der Kaltblütigkeit, mit der West andere Teenager ermordet, ohne das geringste dabei zu empfinden, läßt kein stimmiges Charakterbild aufkommen und schon gar keine Sympathie. Zeitweise könnte man - obwohl man auch über sie nichts erfährt - eher mit ihrer Widersacherin sympathisieren, da die sich wenigstens mit ihrem Freund zusammentut. Und es stellt sich die berechtigte Frage, weshalb es die Andere weniger verdient hat weiterzuleben?

Sollte sich West solche Fragen auch gestellt haben, hat sie das dem Leser nicht mitgeteilt, obwohl ihr Verhalten einen solchen Schluß zulassen könnte. Als sie nämlich selbst ihren Auftrag bekommt, ist sie zwar, was das Ermorden von Menschen betrifft, schon recht geübt und es wäre für sie ein leichtes gewesen, ihre Doppelgängerin auf dieselbe Art und Weise ins Jenseits zu befördern wie die Opfer ihrer anderen Aufträge. Dennoch geht sie ihr allem Anschein nach wochenlang aus dem Weg, wobei dem Leser erst nach einem Zeitsprung von drei Wochen erlaubt wird, daran teil zu nehmen. Die letzten der ihr verbliebenen 10 Tage flieht sie von einem Stadtteil zum nächsten. Dies irrationale Verhalten klärt sich auch nicht durch das beharrliche Drängen ihres Freundes, es zu erklären. Es dient lediglich dazu, das Buch mit statischen Umgebungsbeschreibungen zu füllen. Denn im Laufe des Romans durchstreift man als Leser drei der vier Bezirke Kershs: Jethro, das Industrieviertel, in dem West heimisch ist und sich gut auskennt, Gaslight, das ähnlich wie Jethro aufgebaut ist, allerdings statt mit Fabrikgebäuden mit Wasseraufbereitungsanlagen ausgestattet ist, und Leyton, den Sitz des Boards, Geschäftsviertel und damit reichster Distrikt. Calden, in dem wohl hauptsächlich landwirtschaftliche Erzeugnisse produziert werden, wird nur am Rande erwähnt. Bei dieser Einteilung und auch dadurch, daß Kersh rundum durch eine riesige, unter Strom stehende eiserne Barriere vom Surround abgetrennt wird, hat man unwillkürlich ein Brettspiel vor Augen, das dem Spieler nur so viel Informationen liefert, wie ein Spielfeld aufzuzeigen vermag. Natürlich schmückt die Autorin diese Informationen noch mit einigen Details aus, dennoch erlebt man diese Umgebung nicht, sondern betrachtet sie lediglich.

Die seelenlose Handlungsweise der Protagonistin nebst den farblosen Darstellungen der Nebenpersonen machen das Lesen zu einem nur schwer erträglichen Unterfangen. Hinzu kommt, daß man das ganze Geschehen immer nur aus Sicht West Grayers geschildert bekommt. Ein Perspektivwechsel hätte diesem Roman wenigstens ein wenig Farbe verleihen können. Was denkt der Freund beispielsweise, und vor allem, was geht in der Doppelgängerin vor? Eine wirkliche Auseinandersetzung mit der Doppelgängerin wäre sicher interessant gewesen. Daraus hätten sich nicht nur viele interessante Konflikte ergeben, sondern dies hätte eventuell auch zu weiterführenden Fragen führen können, ob das mörderische System nicht vielleicht im Zusammenschluß angreifbar wäre. Doch solche Fragen sind in diesem Roman nicht vorgesehen. Jeder nicht einmal vorhandene Widerstandsgedanke gegen das System versickert zum Schluß dann auch - Hollywood läßt grüßen - in erfüllter Zweisamkeit.

Dieser Roman paßt in eine Welt, in der ein Menschenleben nicht mehr wert ist als der Bildschirmpixel, den es mit einem Tastendruck zu eliminieren gilt. Und er paßt zur Mentalität einer amerikanischen Mehrheit, die offensichtlich nichts daran auszusetzen hat, daß ihre Regierung mit ihren Drohnen in Pakistan und wo immer es ihr beliebt reihenweise Menschen abknallt.

Nur, muß man sich eine Lektüre auf dieser Grundlage wirklich antun?

19. Juni 2013




Elsie Chapman
Du oder Ich
Deutsche Erstausgabe
Titel der Originalausgabe: Dualed
Aus dem Amerikanischen von Alexandra Baisch
Knaur Verlag, München 2013
329 Seiten
€ 16,99
ISBN: 978-3-426-65329-6