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BUCHBESPRECHUNG/109: Lily E. Kay - Das Buch des Lebens (Genetik) (SB)


Lily E. Kay


Das Buch des Lebens

Wer schrieb den genetischen Code?



"Meine These besagt, daß Molekularbiologen 'Informationen' als eine Metapher für biologische Spezifität verwendeten. Allerdings ist 'Information' die Metapher einer Metapher und somit ein Signifikant ohne Referent, eine Katachrese." (S. 19)

Unter dem Originaltitel "Who Wrote the Book of Life? A History of the Genetic Code" hatte die Wissenschaftlerin Lily E. Kay wenige Wochen vor ihrem Tod im Dezember 2000 bei der Stanford University Press ein Buch veröffentlicht, das im anglo-amerikanischen Sprachraum für einiges Aufsehen sorgte. Inzwischen sind zwei Jahre verstrichen. Viel Zeit für die Übersetzung, die der Carl Hanser Verlag jetzt nachgereicht hat. In ihrem Werk versucht Kay, einerseits einen Bogen zwischen der Genetik und der Informatik zu spannen, andererseits sich als Wissenschaftschronistin zu plazieren und darzulegen, "wie sich die Genetik mit ihren Zielsetzungen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammensetzte - ein Prozeß, in dem auch der globale Informationsdiskurs entstand". (Klappentext)

Für dieses Unterfangen scheint Lily E. Kay, 1947 in Krakau geboren, im besonderen Maße prädestiniert zu sein. Schließlich arbeitete und lehrte sie in den USA, wo sie seit 1960 lebte, als Molekularbiologin und Wissenschaftshistorikerin unter anderem in Boston am MIT und an der Harvard University und anschließend in Berlin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte. Dabei beschäftigte sie sich neben der Molekularbiologie insbesondere mit Informationstheorie, Linguistik und Kryptographie. Die wissenschaftliche Situation, die Mitte des vorigen Jahrhunderts zunächst zur Idee eines Gencodes führte, den man anschließend innerhalb der Strukturen des Zellkerns gefunden zu haben glaubte, müßte Kay allzu vertraut sein, so daß sie, wenn auch nicht als Augenzeugin, so doch als Sachkundige erhellend davon hätte berichten können. Vor allem hätte sie aus der Beschreibung damaliger Denkansätze und Vorgehensweisen Fragen aufwerfen können, die schon für sich gesehen ihr Werk aus der Masse sich vergeblich als Heldenepen gebärdenden Versuche historischer Auseinandersetzungen und Aufbereitungen hervorgehoben hätte.

Zumindest der Originaltitel wirkt vielversprechend. Allein schon die Adressierung der in ihm enthaltenen Frage legt nahe, daß Kay nicht beabsichtigte, den alten Disput aufzuwärmen, ob die Natur oder eher die Wissenschaft die Autorenschaft für das Buch des Lebens zu beanspruchen habe. Vielmehr schwebte ihr eine sehr viel genauere Adresse vor. Mit dem Kapitel "Genetischer Code und Kalter Krieg", in dem sie die Verwicklung des US-Militärs, der Atomenergiekommission und der Geheimdienste in die Förderung, Kontrolle und Ausrichtung der Genetik sowie die Rolle der Kryptographie bei der Entstehung des genetischen Codes anreißt, legt sie nahe, daß sie zu diesem Thema etwas Substantielles zu berichten habe.

So entsteht beim ersten, schnellen Blättern der Eindruck, Kays Buch sei an all jene gerichtet, die etwas Neues über die Molekularbiologie im allgemeinen und den Wissenschaftsbereich, der zur Sequenzierung des Gencodes führte, im besonderen erfahren wollen. Oder auch an Leser, die sich generell für die geschichtliche Entwicklung der Genetik oder Wissenschaft interessieren. Angesprochen fühlen werden sich wahrscheinlich auch Sprachwissenschaftler und Informationstheoretiker, die ihren Horizont auf das biologisch Materielle zu erweitern gedenken. Und nicht zuletzt dürfte das Buch das Interesse all jener wecken, die der Biomedizin oder - mit den Worten Kays und in Anlehnung an den von ihr zitierten französischen Philosophen Foucault - der "Bio- Macht" kritisch gegenüberstehen und daher nach Munition für ihre Argumentation suchen.

Daß zweifellos auch Verschwörungstheoretiker wegen der von Kay angedeuteten Verwicklung der Geheimdienste in die Entstehung des Gencodes von ihrem Buch angezogen werden dürften, soll an dieser Stelle nicht dem Kalkül der Autorin angelastet werden. Bei einer etwas gründlicheren Lektüre des Buchs wird man allerdings nicht umhin können festzustellen, daß es offenbar für all diese Leser nicht geschrieben wurde. Vielmehr stellt es ein Zeitdokument dar, das, getragen durch die Euphorie des gerade als beendet erklärten Wettlaufs zwischen dem staatlichen Human Genome Project und dem privatwirtschaftlichen Unternehmen Celera Genomics des streitbaren Forschers Craig Venter um die Sequenzierung des menschlichen Genoms, zu einem ganz bestimmten historischen Zeitpunkt entstanden ist und auch nur dann entstehen konnte.

Kay, anscheinend davon überzeugt, daß jetzt das Zeitalter der genetischen Informatik und der davon abgeleiteten DNA-Linguistik heraufdämmert, brach eine Lanze für diese neue, sich um einen festen Platz in der Wissenschaft bemühenden Fachrichtung - eine Fehleinschätzung, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Die Genetik hat sich längst von der DNA-Linguistik ab- und der Proteinforschung zugewandt, wie wir weiter unten ausführen werden.

Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, daß Lily E. Kay durchaus hält, was sie mit ihrem Buchtitel zu beantworten verspricht, aber wer erwartet, die Antwort auf die Frage nach der Autorenschaft des genetischen Codes ließe sich auf weniger als den verwendeten 542 Seiten "codieren", um einmal den typischen Sprachgebrauch der Autorin aufzugreifen, der irrt. Zumal die Idee eines sprichwörtlich vorgeschriebenen Buchs des Lebens zivilisationsgeschichtlich sehr weit zurückreicht; davon gibt Kay einen bestimmten zeitlichen Ausschnitt aus dem vorigen Jahrhundert wieder. Darüber hinaus betrachtet sie das Thema genetischer Code aus einem speziellen Blickwinkel, der auf den Versuch einer sprach- und informationstheoretischen Analyse hinausläuft, nicht aber grundlegend auf die Idee des Plans oder der Schöpfung an sich.

So verweist die Autorin auf eine ihrer Meinung nach folgenschwere Umdeutung des Begriffs "Information", der zu Beginn der wissenschaftlichen Debatte über genetische Fragen noch gar nicht existierte, dann als bloße Metapher verwendet wurde und erst später, nach dem Zweiten Weltkrieg, aufgrund verschiedener zeitgeschichtlicher Einflüsse auch von Mikrobiologen als Code aufgefaßt wurde - nach Ansicht der Autorin haben die Forscher damit der Metapher noch eine weitere Metapher aufgesetzt. Den Code zu belegen ist der Genetik in der Tat bis heute nicht gelungen, allerdings nicht, wie Kay meint, nur aufgrund sprachanalytischer Unzulänglichkeiten.

Kay ist sehr darum bemüht, sich lediglich als Chronistin zu präsentieren, die bienenfleißig zahlreiche Bibliotheken gesichtet und eine Vielzahl der namentlich erwähnten Wissenschaftler interviewt hat, um sich so von jeder persönlichen Kritik freizuhalten. Doch als Wissenschaftshistorikerin müßte Kay sehr wohl wissen, daß sie mehr als das ist. Weder ihre Auswahl an Quellenmaterial noch deren Darstellung und Würdigung ist wertneutral und losgelöst von der Voreingenommenheit einer Chronistin. Durch ihren linguistisch geprägten Ansatz bei der vermeintlich kritischen Präsentation der Entstehungsgeschichte des genetischen Codes werden andere denkbare Beschreibungen ausgeblendet - bezeichnenderweise wird gleich auf dem Einband die Erklärung abgegeben, daß das Buch "die einzelnen Resultate der Genforschung nicht in Frage" stellt.

Aber selbst Kays sprachanalytische Auseinandersetzung mit der Thematik weist enge Grenzen auf. So zählt zwar der Begriff "epistemisch" zu ihrem knappen Dutzend immer wieder verwendeter fachsprachlicher Begriffe, aber die epistemischen, das heißt erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ihres eigenen Denkens bleiben stets unberührt. Dabei hätte es der Autorin gut zu Gesicht gestanden, wenn sie in ihrem Vorwort nicht unhinterfragt in "rein materielle und energetische" Lebensrepräsentationen auf der einen und "Informationsvorstellungen" auf der anderen Seite unterschieden hätte - eine Ansicht, die das gesamte Buch durchzieht, insbesondere in der Gegenüberstellung Natur und Information -, sondern wenn sie sich bei dieser Gelegenheit einen Verweis auf den verbreiteten Irrtum erlaubt hätte, der Unterschied von Materie und Energie gegenüber Information gründe sich darin, daß sie objektivierbar sind.

Der gemeinsame Nenner der drei Begriffe ist die Deutung. Erst der Interpret teilt die Welt in Erscheinungsformen, indem er ihnen Namen verleiht. Hätte sich Kay nicht nur auf die Analyse des Informationsbegriffs beschränkt, sondern sich zumindest nebenbei auch mit dem Materie- und Energiebegriff befaßt, dann hätten sich viele umwegige "Diskurse" - ein weiteres ihrer Lieblingswörter - erübrigt. Womöglich wäre dabei dann kein so umfangreiches Buch über die konzeptionelle Entstehungsgeschichte des genetischen Codes herausgekommen, aber es wäre womöglich Platz für weitere, über die Linguistik hinausgehende Fragen entstanden, die zu stellen wissenschaftsgeschichtlich sicher nicht minder aufschlußreich gewesen wären.

Um an das obige Beispiel anzuknüpfen: Die Physiker selbst wissen am ehesten, daß Materie und Energie höchst problematische Begriffe sind und die Information, welche Beschreibung für einen Meßvorgang "zutrifft", eine Frage des Standpunkts und der gewählten physikalischen Experimentanordnung ist. Mehr noch, in Heisenbergs berühmter Unschärferelation wurde die interpretative Herangehensweise des Wissenschaftlers - anders gesagt: sein zielfixiertes Meßverfahren - sogar zum physikalischen Gesetz erklärt: Je nach Versuchsaufbau läßt sich Materie als Welle oder als Teilchen beschreiben. Das ist eine Frage des Standpunkts.

Die Quantentheorie, die im vorigen Jahrhundert einen nicht mehr wegzudenkenden Platz unter den physikalischen Teildisziplinen erlangt hat, ist im Gegensatz zur makroskopischen Physik der Inbegriff für Indiskretion, also für mangelnde Abgrenzung und Unbestimmtheit. Materie und Energie werden aber heute im Kern von eben dieser Quantentheorie beschrieben, was bedeutet, daß die Begriffe keineswegs als "exakt" oder "objektiv" der Informationsvorstellung gegenübergestellt werden können. Die aus physikalischen Experimenten gewonnenen Informationen sind unmittelbar vom Experimentator abhängig; die Frage, ob sie vorher schon Informationen (in der Form enthalten) waren oder nicht, ist irrelevant, bzw. ist wiederum eine Frage der Vorstellung und nur dieser.

Wer sich wie Kay mit erkenntnistheoretischen Fragen befaßt und zwischen Information und Metapher, bzw. Code als Metapher der Metapher unterscheidet, der wäre gut beraten, wenn er ein wenig über den Tellerrand seines eigenen Forschungsfelds hinausgeblickt hätte - dazu müßte er noch nicht einmal den Elfenbeinturm verlassen haben. Aber wenn eine Wissenschaftshistorikerin, die den Anspruch erhebt, die Entstehungsgeschichte des genetischen Codes im Scheinwerferlicht der historischen Rückschau zu beleuchten und aus der Kulisse der interdisziplinären Forschungslandschaft hervorzuheben, vernachlässigt zu erwähnen, welches Stück gerade aufgeführt wird, dann muß sie damit rechnen, selbst geprüft zu werden. Hier steht die Wissenschaftsgeschichte per se auf dem Spielplan, ohne sie muß eine Kritik der Metaphorik des genetischen Codes Stückwerk bleiben.

Kay ordnet sich selbst der dekonstruktivistischen, bzw. poststrukturalistischen Denkrichtung zu und grenzt sich damit sowohl gegenüber der konstruktivistischen als auch der objektivistischen Richtung ab. Warum ist es wichtig, bei der Frage, "wer schrieb den genetischen Code?", auf diese Zuordnung, die Denkvoraussetzung der Autorin und damit auf die Geschichte der Wissenschaft und ihrer Metaphernbildung einzugehen? Weil Kay bereits in ihrem eigenen Titel genau jene Denkweise transportiert, die sie in mühsamer historischer Kleinarbeit zu kritisieren versucht. Denn mit "Buch" unterstellt sie notwendigerweise dessen Existenz und setzt eine Instanz voraus, die selbiges geschrieben hat. Genau diese Schlußfolgerung versucht die Autorin allerdings, ganz und gar ihrer dekonstruktivistischen Richtung treu bleibend, zu verschleiern, indem sie schreibt:

In poststrukturalistischer Perspektive, von der dieses Buch getragen ist, ist es die Schrift selbst, die schreibt. Denn sobald die Molekularbiologen die skripturalen Repräsentationen des genetischen Codes übernahmen, sobald sie sich, bewußt oder auch nicht, dem Informationsdiskurs und den begleitenden Analogien eines genomischen Schreibens und Lesens verschrieben, wurden diese Repräsentationen konstitutiv für die Überlegungen der Entschlüssler; ihre Arbeit wurde geformt durch die neue Biosemiotik der Kommunikation. (S. 13)

Schon der Begriff Buch ist eine Metapher - Kay hingegen geht von der Natur immanenten exakten biologischen Strukturen aus, die aus ihrer Sicht von den Wissenschaftlern überdeutet werden, was sie wie erwähnt Metapher der Metapher nennt. Genau darauf hatte sich ihre Kritik wesentlich bezogen, deswegen hatte sie überhaupt zum genetischen Code recherchiert: um darauf aufmerksam zu machen, daß er heute nicht mehr als ursprüngliche, sondern als "sehr machtvolle Metapher" verwendet wird und schließlich zum gesellschaftlichen Phänomen der "Bio-Macht" geführt hat. In diesem Sinne erweist sich die Wissenschaftshistorikerin selbst als eifrige Protagonistin einer übergeordneten Macht, der Ontologie. Diese wirkt sehr viel umfassender als die "Bio-Macht", trotz ihrer vielfältigen gesellschaftlichen Erscheinungsformen. Solch ein Schlußfolgerung zieht die Autorin allerdings nicht, wenn sie über das "Buch des Lebens" schreibt:

Dennoch steckt darin die jahrtausendealte Aporie einer stummen Sprache und eines Buchs ohne Autor, ein Problem mit konkreten epistemischen, kulturellen und ökonomischen Folgen. Denn selbst wenn das Genom ein Text und DNA eine Sprache wäre, ließe sich das 'Buch des Lebens' kaum unzweideutig lesen: Sprache ist kontextabhängig und Worte sind mehrdeutig. (S. 13/14)

Damit versteckt Kay den offensichtlichen Widerspruch, daß selbst die exakten Wissenschaften mit ihrem scheinbar fundierten Wissen nicht losgelöst von der menschlichen Vorstellung beschreibbar sind, hinter dem Versuch, vieles in Frage zu stellen, aber einiges eben doch als Wahrheit anzunehmen, in diesem Fall "das Buch des Lebens" mit seinem genetischen Code oder ganz allgemein: "die Natur". Der Versuch, jenem Widerspruch einen Namen zu verleihen, indem er als Aporie (Unmöglichkeit, eine philosophische Frage zu lösen) bezeichnet wird, ist bequem und kann durchaus gelöst werden, wenn man bereit ist, auch die eigenen Denkvoraussetzungen auf den Prüfstand zu heben.

Worte seien "mehrdeutig", behauptet Kay im obigen Zitat und stellt damit nachdrücklich unter Beweis, daß sie dem Konzept der Aporie den Vorzug gibt - womit sie allerdings eindeutig ist. Denn Worte sind nur dann mehrdeutig, wenn sie mehrdeutig gemeint sind (oder von der Seite des Adressaten her als mehrdeutig aufgefaßt werden), und damit wären sie folglich in jedem Fall wieder eindeutig. Dieser kleine Verweis ist zur näheren Einschätzung des vorliegenden Buchs durchaus relevant, kommt doch Kay zu dem Schluß, daß "die Darstellungen des Genoms als Information (...) strenger Überprüfung" nicht standhalten (S. 19). Eine Behauptung, die offenbar aus der selbst auferlegten linguistischen Enge geboren ist, ansonsten aber längst widerlegt wurde. Denn wer das sogenannte Genom lesen kann (und immer wieder lesen kann), hat damit Sprache geschaffen. Und wer wollte heute, da der genetische Fingerabdruck gerichtsrelevant ist, daran zweifeln, daß diese Sprache kommunizierbar ist?

Wohlgemerkt, es gäbe genügend Anlaß, den genetischen Code über eine linguistische Analyse hinausgehend kritisch unter die Lupe zu nehmen, aber das beabsichtigt Kay erklärtermaßen nicht. Sie verbleibt in der Sprachanalyse und versucht lediglich, sprachwissenschaftliche Mängel im genetischen Code aufzuzeigen. Ihm aber deshalb grundlegend Sprachqualität abzusprechen, ist zu kurz gegriffen. Spricht nicht die administrative Nutzanwendung dessen, was Genetiker an Mitteln und Methoden bereitstellen, eine eindeutige Sprache?

Von einer Mikrobiologin wie Kay wäre bei der Beschäftigung mit diesem Thema eigentlich zu erwarten gewesen, daß sie nicht nur eine Chronik der wissenschaftlichen Bemühungen, eine Sprache in den variablen Strukturen des Zellkerns, respektive den Nukleinsäuren, erkennen zu wollen, zusammenträgt, sondern daß sie sich darüber hinaus damit auseinandergesetzt hätte, daß Sprache und sprechen keineswegs das gleiche sind. Während die Sprache des Interpreten bedarf, der die Zeichen durch seine Deutung erst entstehen läßt (zuvor sind sie lediglich amorphe Struktur), bedeutet sprechen Interaktion. Es reicht also bei weitem nicht, wie Kay den Überlegungen Schrödingers zu folgen und analog zu seinem aperiodischen Kristall (S. 96) im oder an der Zelle Strukturen zu identifizieren, in die aufgrund ihrer Aperiodizität Bedeutung hineininterpretiert werden kann, sie somit als Zeichen zu deuten.

Daß Kay noch nicht einmal die Frage aufwirft, ob Biologie spricht, ist ein deutlicher Hinweis auf die Grundlage ihres der Abstraktion geschuldeten Denkens. Dabei führt sie selbst, offenbar als Auflockerung des ansonsten eher spröden Textes gedacht, die Anekdote an, daß Max Delbrück 1971 "seine Zuhörerschaft wie so oft mit einem ernst gemeinten Scherz" unterhielt:

Auf nahezu zwei Jahrzehnte DNA-basierender Molekularbiologie und eine knapp zweistellige Zahl von Nobelpreisträgern aus diesem Forschungsfeld zurückblickend (darunter auch er selbst), wies er darauf hin, daß in Wirklichkeit Aristoteles das DNA-Prinzip entdeckt hatte, und falls das norwegische Komitee eine posthume Nobelpreisverleihung erwäge, so solle es den griechischen Philosophen in Betracht ziehen. (...) Es war Aristoteles' Prinzip des Primum Mobile, des 'unbewegten Bewegers', des Ursprung aller Bewegungen. (S. 67)

Es spricht jedoch weder für Delbrück noch für Kay, daß hier Aristoteles' Prinzip des Primum Mobile angeführt wird. "Auch wenn ein Primum Mobile der Newtonschen Physik katastrophal erscheint, sagte Delbrück, beschreibt der 'unbewegte Beweger' perfekt die DNA. Sie wirkt, erschafft Form und Entwicklung, verändert sich jedoch selbst nicht dabei." (S. 67) Es bedarf noch nicht einmal des Hinweises auf Mutationen, um zu erkennen, daß die DNA niemals die Rolle des unbewegten Bewegers spielen kann. Die Genetik gibt zwar vor, mit dem Gencode den Bauplan des Lebens in Händen zu halten, doch ist sie wesentlich gekennzeichnet durch die Abweichung vom postulierten Plan.

Auch wenn viele im Postulat des "unbewegten Bewegers" eine letzte Instanz oder das Göttliche zu erkennen meinen, ist Aristoteles' Prinzip des Primum Mobile weniger als dessen Huldigung zu verstehen, sondern vielmehr als eine Folge des philosophischen Streits zwischen zwei damaligen Denkschulen, bei dem Aristoteles der Kausalkette ein Ende bzw. einen endlichen Ausgangspunkt setzte. Damit holte er die Abfolge von Ursache und Wirkung in ihrer Letztbegründung aus dem Jenseits, der Welt der Ideen oder der Götter, ins Diesseits, in die Welt des Menschen. Hieraus einen Plan abzuleiten, der für Mensch und Tier zu gelten habe, ist ein Irrtum, so daß Delbrücks Anekdote in der Tat nur als Scherz aufzufassen ist.

Allerdings läßt sich das Postulat eines Planes, nach dem sich das Leben wie überhaupt die Welt zu richten habe, an andere Stelle in Aristoteles' Werken finden. Auch wenn die Elementenlehre schon auf Thales von Milet und andere Philosophen Griechenlands zurückzuführen ist, gilt Aristoteles als Begründer der Lehre der Fünf Elemente und damit als einer ihrer eifrigsten Verfechter. Er war der Ansicht, daß die Erde aus vier Elementen besteht, die in Schichten übereinanderliegen (Erde, Wasser, Luft und Feuer), sowie als fünftes dem Äther des Himmels. Jedes Ding wurde diesen fünf Elementen zugeordnet und hatte sich, wenn keine Kraft von außen auf es einwirkte, entsprechend seiner Elementzugehörigkeit zu verhalten. So fiel ein Stein zu Boden, weil er erdiger Natur war, während der Wind nach oben striff. Die griechischen Philosophen postulierten damit für alles in der Welt einen zugrundeliegenden Plan, nach dem es sich richte. Wenn also schon im Zusammenhang mit Aristoteles von einer Analogie zum Gencode als Plan des Lebens gesprochen wird, dann hinsichtlich dem dieser Denkweise verpflichteten Postulat einer Ordnung, nach der sich die Welt, also alles Lebende und Nichtlebende, zu richten habe.

Es spricht vieles dafür, daß Kays Bemühungen der Gedanke Pate stand, daß wir heute im Informationszeitalter leben und daher die Genetik als wissenschaftlicher Schlüsselbereich mit Zukunftsaussicht unter diesem Aspekt zu sehen ist. Doch auch wenn dem ein oder anderen Forscher im Jahr 2000, kurz nachdem die Sequenzierung des Humangenoms, also der Gesamtheit der sich als Gene ausdrückenden Nukleinsäuren im Zellkern des Menschen, als erfolgreich abgeschlossen galt, die genetische Informatik und damit die DNA-Linguistik als besonders zukunftsträchtig erschien, ist die Entwicklung inzwischen weiter vorangeschritten. Damals, vor zwei Jahren, herrschte noch die Ansicht vor, daß die funktionale Genanalyse nun der Sequenzierung des Humangenoms auf dem Fuße folgen werde. Statt dessen wandten sich die Forscher jedoch der Analyse des Proteoms zu, das heißt der Gesamtheit der menschlichen Proteine (Eiweiße). Mit dem auch "Proteomics" genannten Forschungszweig wollen die Biomediziner herausfinden, welche Proteine im Verlauf einer Krankheit in veränderter Zahl gebildet werden. Dies könne nicht nur eine frühzeitigere Diagnose ermöglichen, hofft die Medizin, sondern auch eine gezieltere Behandlung.

Zusammenfassend bleibt festzustellen, daß die Molekularbiologie nach ihrem vorübergehenden Abstecher in die Sphäre der Nukleinsäuren wieder in den Schoß der Proteinforschung zurückgekehrt ist, aus der sie Mitte des letzten Jahrhunderts entsprungen war. Sicherlich wäre Kay nicht vorzuwerfen, hier aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, da doch Mikrobiologie und Linguistik zu ihren Fachrichtungen zählten und eine Verknüpfung dementsprechend nahelag; indes hat sie dabei ausgerechnet die erkenntnistheoretischen Zirkelschlüsse beider wissenschaftlichen Beschreibungssysteme weiter befördert. So muß am Ende die Frage unbeantwortet bleiben, welchem Leserkreis dieses Buch ans Herz zu legen sei.

Lily E. Kay
Das Buch des Lebens
Wer schrieb den genetischen Code?
Carl Hanser Verlag, 1. Auflage 2001
542 Seiten
ISBN 3-446-20231-5