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REZENSION/106: Stiftung Warentest - Handbuch Medikamente 2001 (SB)


Stiftung Warentest


Handbuch Medikamente 2001



Etwa 300.000 Menschen - so heißt es in der Einleitung dieses Buches - werden in Deutschland jährlich wegen unerwünschter Arzneimittelwirkungen in ein Krankenhaus eingewiesen, wobei etwa 25.000 davon diese "schädlichen und unbeabsichtigten Reaktionen" nicht überleben. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erhält darüber hinaus pro Jahr 10.000 Berichte über schwerwiegende, bis dahin nicht bekannte unerwünschte Wirkungen, die zentral in einer Datenbank erfaßt werden, neben etwa 5500 weiteren gravierende Nebenwirkungen jährlich, die erst nach der Zulassung auftauchen oder in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlicht wurden. Viele dieser unerwünschten Wirkungen oder Nebenwirkungen, besonders Überempfindlichkeitsreaktionen, sind nicht vorhersagbar und fallen erst auf, wenn das Medikament schon auf dem Markt ist und von Tausenden von Patienten verwendet wurde. Manche Störungen zeigen sich sogar erst nach vielen Jahren. Mehr noch stehen mit Sicherheit diesen Zahlen eine weit größere Anzahl unregistrierter oder nicht erkannter Vorfälle gegenüber, denn auch das wird in der neuen Auflage des Handbuchs Medikamente der Stiftung Warentest deutlich ausgesprochen:

In Deutschland gibt es derzeit überhaupt keine einheitliche Regelung, um alle Arzneimittel-Zwischenfälle zu erfassen. Der Hersteller muß zwar bis zur Zulassung des Medikaments dessen Wirksamkeit, Unbedenklichkeit und pharmazeutische Qualität nachweisen, die nach der Markteinführung empfohlenen wissenschaftlichen Anwendungsbeobachtungen, werden dagegen nicht vom Hersteller eingefordert.

Nur die Berufsordnung sowie sein eigener Anspruch verpflichtet den Arzt, jeden Verdacht auf eine unerwünschte Arzneimittelwirkung dem BfArM zu melden. Doch wie konsequent dies letztlich durchgeführt wird und ob der einzelne überhaupt in der Lage ist, die Beschwerden eines Patienten als Nebenwirkung des in Frage kommenden Medikaments zu erkennen, steht auf einem anderen Blatt. Aus Zeitgründen oder Unsicherheit, damit mögliche eigene Fehler einzugestehen, werden die Erfassungsbögen in vielen Fällen nachlässig oder gar nicht ausgefüllt, die Dokumentation der Anwendung von Arzneimitteln ist damit kurz gesagt lückenhaft, wenig aussagekräftig und eigentlich gar nicht vorhanden. Die bestehenden Arzneimittelinformation reduzieren sich im Grunde auf reine Marketingschriften der Hersteller.

An dieser verheerenden Situation in einem Land, dessen medizinischer Standard gemeinhin als ausgezeichnet gilt, kann auch das neu aufgelegte Buch der Stiftung Warentest nichts ändern. Dazu müßte ein Umdenken stattfinden, in dem tatsächlich die medizinische Versorgung des Menschen im Vordergrund stünde zulasten der vorrangigen wirtschaftlichen Interessen. Das Handbuch Medikamente kann nicht das Ungleichgewicht in der Forschung beheben, in die mehr Gelder zur Entwicklung neuer Medikamente und deren Marketing fließen, als in die weitere Untersuchung und Überwachung längst entwickelter Wirkstoffe.

Doch allein die Tatsache, daß in diesem Buch aus Sicht der Verbraucher die derzeit am häufigsten verordneten Arzneimittel auf ihren sinnvollen Einsatz überprüft sowie für Ärzte wie Laien gleichermaßen strukturiert und nachvollziehbar transparent gemacht werden, daß ein Gutachterteam aus renommierten Medizinern im Auftrag der STIFTUNG WARENTEST diese Arzneimittel einer weiteren eingehenden Prüfung unterzogen, Berge von Literatur und klinischen Studienergebnissen analysiert, die Einwände und Unterlagen aus der pharmazeutischen Industrie durchgearbeitet und in umstrittenen Fällen zusätzlich unabhängige Expertenmeinungen eingeholt hat, wurde von der pharmazeutischen Industrie schon als Angriff verstanden.

Der Bundesfachverband der Arzneimittel-Hersteller kritisierte, die Bewertungskriterien seien vielfach nicht nachvollziehbar. Der Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie bemängelte, das Buch führe zur Verunsicherung von Patienten und verstärke Vorbehalte gegenüber Arzneimitteln.

Noch vor der Herausgabe der vierten Auflage mußte die Stiftung Warentest 67 Abmahnungen von Anbietern und sechs Gerichtsverfahren bewältigen. Die meisten Einsprüche konnten zurückgewiesen werden, nur in wenigen Fällen wurden Textpassagen aufgrund der zusätzlichen Informationen geändert.


Dabei ist dieses Werk keineswegs eine Gefahr für die Produkte pharmazeutische Industrie, selbst wenn es 20 Prozent davon als "wenig geeignet" aussortiert. Obwohl die Statistiken durchaus dafür sprechen, pharmazeutische Mittel noch viel grundsätzlicher in Frage zu stellen, u.a. beispielsweise die stets unhinterfragte Akzeptanz von Nebenwirkungen bei jedem stark wirksamen Medikament, so sorgt doch gerade dieses Buch beispielhaft dafür, verunsicherte und verwirrte Schafe wieder in den Kreis folgsamer Patienten zurückzuholen.

Auch hierzu finden sich in der Einleitung Zahlen. So heißt es:

"Dass jedes Jahr rund 4500 Tonnen Arzneimittel weggeworfen statt eingenommen werden, beruht auch auf der Verunsicherung. Die Gemeinschaft der Krankenversicherten kostet das jährlich 4 Milliarden DM." (Wieviele Patienten sich angesichts des Fachlateins oder unverständlicher Informationen durch Ärzte schlecht beraten oder mit ihren Leiden nicht ernst genommen fühlen und demzufolge Rezepte auch gar nicht erst einlösen, ist hingegen eine Frage, die hier gar nicht aufgeworfen wird, denn damit schadet sich der Patient höchstens selbst.)

Doch nicht nur die Patienten sind verunsichert. Gerade Ärzte, die durch begrenzte Bugets von den Krankenkassen angehalten sind, kostensparend zu medikamentieren, finden selbst kaum durch den Wust von Präparaten, die zugelassen sind, sich in der Nachzulassung befinden oder abverkauft werden dürfen. In einer Pressemitteilung der Stiftung Warentest hieß es hierzu:

Von rund 45.000 Mitteln auf dem Markt sind nur 25.000 nach dem Arzneimittelgesetz geprüft und zugelassen. Für rund 6.400 Mittel wurde von den Herstellern ein Nachzulassungsantrag gestellt, der bis spätestens Ende 2004 vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) bearbeitet werden soll. Für 5.000 Medikamente haben die Hersteller auf die Nachzulassung verzichtet und dürfen bis zum Jahre 2003 weiter abverkaufen. Die restlichen über 8.000 Mittel wurden dem BfArM nicht gemeldet und müssen unmittelbar vom Markt.

Indem das Buch in verständlicher Sprache Arzt wie Patienten gleichermaßen in den Stand versetzt übersichtlich zu beurteilen,

- wodurch sich die rund 100 darin behandelten Krankheitsbilder auszeichnen und inwiefern Medikamente hier überhaupt ansetzen können;

- mit welchen Wirkstoffen üblicherweise versucht wird, das Problem in den Griff zu bekommen, und was von diesen Wirkstoffen zu halten ist;

- welche unerwünschten Wirkungen oder Wechselwirkungen zu beachten sind - nicht wahllos aufgelistet, sondern nach Häufigkeit und Relevanz gestaffelt;

und schließlich alles über Zusammensetzung, aktuellen Preis, Festbetragsregelung der Kassen und Güte "ihres" Medikaments in einem schnell erfaßbaren Steckbrief vermittelt, soll es letztlich sowohl eine optimale Versorgung des Patienten gewährleisten, aber diesen auch dazu bewegen, die verordneten Medikamente wie vorgeschrieben einzunehmen.

Da der Arzt auf diese Weise ein hervorragendes Hilfsmittel und eine Orientierungshilfe für den kaum überschaubaren Pharmamarkt mit einer sinnvoll strukturierten Therapie in die Hand bekommt und eventuell auch preisgünstige Alternativen, liegt dieses Buch genau im Trend der Krankenkassen und Gesundheitspolitik.

So erklärte denn auch der Vorstand der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Dr. med. Leonhard Hansen, auf Nachfrage des Deutschen Ärzteblatts 98, die Neuauflage sei sachlicher als frühere Veröffentlichungen. Daß einiges Grundsätzliches erläutert werde, sei sinnvoll, ebenso, daß umstrittene Präparate konkretisiert würden. Seine einzige Sorge bestand darin, daß es doch unrealistisch und unnötig für Patienten sei, jede einzelne Verordnung nachzuprüfen.

Doch das wäre durchaus im Sinne der Herausgeber dieses Nachschlagewerks, die nicht den professionellen Rat von Fachleuten ersetzen, sondern die Eigenverantwortlichkeit des Patienten im Rahmen der Therapie stärken und damit ganz in der Tradition der Stiftung Warentest ihrem Schutz als Arzneimittelkonsument dienen wollen.


Handbuch Medikamente
Ausgabe 2001
904 Seiten, 78,- DM
Stiftung Warentest, Vertrieb, Postfach 81 06 60, 70523 Stuttgart