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REZENSION/120: Warum fallen schlafende Vögel nicht vom Baum? (Chemie) (SB)


Herausgeber Mick O'Hare


Warum fallen schlafende Vögel nicht vom Baum?

Wunderbare Alltagsrätsel



"Die Welt ist ein rätselhafter Ort", schreibt O'Hare in seiner Einführung. "Da gibt es die großen Rätsel: Wie fing das Universum an? Was ist Leben? Wer waren unsere Vorfahren? Und da sind die kleinen Rätsel: Weshalb haben wir alle unterschiedliche Fingerabdrücke? Warum besitzen Männer Brustwarzen, die doch zu nichts nütze sind? Warum bekommen wir Fieber, wenn wir krank werden? Bringt auch schon eine Fliege, die mit einem Zug zusammenstößt, den Zug für einen winzigen Sekundenbruchteil zum Stehen?" Den kleinen, unattraktiven Fragen und Geheimnissen stellt sich dieses Buch.

Es gibt unglaublich viel, was wir gemeinhin unhinterfragt und selbstverständlich in unserem Alltag voraussetzen. Gewöhnlich stößt man erst dann auf seine Rätsel, wenn einem selbst - beispielsweise als Erwachsenem und somit personifizierter Autorität des Wissens an sich - die einfache Kinderfrage gestellt wird, weshalb der Himmel blau ist, warum der Klebstoff nicht schon in der Innenseite der Tube kleben bleibt oder warum Bananen im Kühlschrank schwarz werden? Wen immer Fragen dieser Art bei der eigenen Neugier packen und zu Nachforschungen anregen, der muß schon bald feststellen, daß selbst die zuständige Fachkompetenz, sprich die naturwissenschaftliche Forschung, präzise und eindeutige Antworten schuldig bleibt, und daß es - mit wenigen Ausnahmen - zumindest für den Laien kaum allgemeinverständliche Bücher gibt, die sich mit angewandter Chemie, Physik, Biologie oder Mathematik im Alltag beschäftigen.

Leider haben auch die Antworten in dem vorliegenden Bändchen die unangenehme Begleiterscheinung, Erklärungen zu bieten, die den neugierig gewordenen Leser unbefriedigt zurücklassen. Ich hatte mir mehr davon versprochen, zumal andere Rezensenten von diesem Buch eine Zusammenstellung von Leserfragen zu ganz alltäglichen Phänomenen versprachen, wobei schon die Frage nach der Fliege, die den Zug anhält oder die Frage "Welche Zeit am Nordpol herrscht?" von der Kategorie "kleine und unattraktive Geheimnisse oder Kinderfragen" ausgeklammert werden müssen.

Die meisten Fragen lassen auf einen akademischen Hintergrund und gewisse naturwissenschaftliche Kenntnisse der Fragesteller schließen, die durch diese Vor- bzw. Verbildung in einen intellektuellen Konflikt geraten wie der Fragesteller, dem mit seinem chemischen Verständnis klar ist, daß Reaktionen wie die Oxidation in der Kälte langsamer ablaufen, und der sich nun wundern muß, warum sich Bananenschalen ausgerechnet im Kühlschrank besonders schnell braun verfärben (ein Kind würde eine solche Frage wohl nicht stellen). Die Antwort, daß Bananen wie alle Organismen die Zusammensetzung ihrer Zellmembranen verändern, um deren Viskosität (Zähigkeit) an die Temperatur anzupassen, in der sie üblicherweise leben, sich dadurch in der Kälte verflüssigen und es so zu einem nicht vorgesehenen Zusammenkommen von Enzymen und Substraten kommt, wird den wissenschaftlich Versierten, der im Laufe seiner Ausbildung gelernt hat, alle Antworten erst einmal zu akzeptieren, zumindest am Weiterfragen hindern. Der Autor bleibt jedoch die Erklärung weiterhin schuldig, wie folglich auch die Antwort auf die sich nun aufwerfende neue Frage, was lebende Organismen überhaupt dazu veranlaßt, ihre Zellstruktur chemisch durchlässig zu machen, auch wenn sie sich dadurch selbst schaden.

Kurzum die seit nunmehr acht Jahren eingerichtete "Letzte Seite" des wöchentlich erscheinenden Wissenschaftsmagazins "New Scientist", auf der Leser ihre wissenschaftlichen Fragen zu Alltagsproblemen stellen und die sich größter Popularität erfreut, dient, wie so vieles, was an wissenschaftlichen Veröffentlichungen kursiert, vornehmlich der Selbstdarstellung und gegenseitigen Bestätigung der daran Beteiligten.

In der Rezension der Süddeutschen Zeitung vom 14.08.2001 heißt es, man könne

"...die Leserkolumne des New Scientist als einen wissenschaftlichen Ratgeber in Alltagsdingen lesen, der einem hilft zu verstehen, warum man sich im Winter "erkältet" (nicht etwa wegen der Kälte, sondern aufgrund der auch für Viren behaglichen Wärme in geschlossenen Räumen), oder warum Gläser in der Spülmaschine nach einiger Zeit immer trübe werden (weil die alkalischen Spülmittel die Glasoberfläche mikroskopisch beschädigen, wogegen es bisher noch kein Gegenmittel gibt).
Oder man mache sich bei der Lektüre den Blick eines Naturforschers zu eigen, der im Alltäglichen das Allgemeine sieht, für den hinter jedem Detail der Welt immer auch ein Stück Erkenntnis steckt, ein gedanklicher Fingerzeig, der auf Tieferes verweist (wie etwa in der einfachen Rechenaufgabe, mit der sich zeigen läßt, daß wir heute noch die Luft einatmen, die bereits durch Leonardo da Vincis Lungen geströmt ist)" ...,

und versucht damit dem Leser solcher Ankündigungen Wissenschaft im Alltag als ein kompliziertes aber immerhin zusammensetzbares Puzzle schmackhaft zu machen, für dessen Lösung man ihm auszugsweise Anregungen und Gebrauchsanweisungen verspricht, doch statt wie im Legespiel die Löcher und Fragen allmählich zu einem Ganzen zu fügen, wirft hier jede Antwort, jedes Puzzleteilchen neue Fragen auf, die das Puzzle unlösbarer werden lassen. Mit anderen Worten, der Laie bekommt zwar eine Kostprobe Wissenschaft vorgelegt, doch fallen die Happen jeweils ein wenig größer aus, als daß er sie wirklich allein verdauen könnte. Der zweifellos angestrebte Erfolg solcher vermeintlicher "Alltagswissenschaft" ist, daß sich der Fragesteller im Glauben, es gäbe zwar eine wissenschaftliche Erklärung, nur könne er sie selbst nicht verstehen, mit seinen unbequemen Fragen zurückzieht, und Wissenschaft den Fachleuten überläßt.

Darüber hinaus hinterlassen einige Antworten den Eindruck, der Frager würde mit seinem Problem nicht ganz ernst genommen. So wird auf das Problem, warum Fische manchmal aus kleinen Aquarien springen, zum einen die recht ausweichende Antwort gegeben, es gäbe darüber mehrere Theorien und eine davon unterstelle, freilebende Fische sprängen aus dem Wasser, um sich von Hautparasiten zu befreien, womit die Frage nach in kleinen Aquarien lebenden Fischen nicht einmal berührt wird. Eine weitere Theorie weicht auf die Verhaltensforschung aus, d.h. äußert die Möglichkeit, es könnte sein,

daß Fische gesprungen sind, um Freßfeinden oder unerfreulichen Begegnungen mit anderen Lebewesen zu entgehen oder sich sogar durch ein bisher unbekanntes Werbungs- oder Revierbehauptungsritual vor Artgenossen in Szene setzen wollten. (S. 18)

Der Fragesteller wird auf sich selbst zurückgeworfen und sogar bezichtigt, den nur vagen Informationsgehalt dieser Antwort selbst verschuldet zu haben, weil er keine genaueren Angaben zu Geschlecht und Fischarten in seinem Aquarium machen konnte. Die Krone aber setzt die letzte Antwort zu dieser Frage auf:

"Für Fische in Gefangenschaft sieht die Luft auf der anderen Seite der Glaswand wie Wasser aus. Und in den Sagen der Fische ist das Wasser der anderen Seite stets sauberer."

Ein anderer Fragesteller sucht nach dem Grund, warum viele Menschen niesen, wenn sie aus einer dunklen Umgebung in sehr helles Licht treten, und wird von einem der "New Scientist Autoren" mit der Antwort abgespeist, der Grund seien:

Photonen, die in die Nase eindringen. (S. 223)
Während dann ein zweiter Autor eine dieser These widersprechende Theorie vertritt, die allerdings noch ganz vernünftig klingt (durch die Wärmewirkung des Lichts gerieten die Staubteilchen in der Luft in größere Bewegung und stiegen einem so in die Nase), hat man bei der letzten Antwort wiederum das Gefühl, es ginge den Autoren nur darum, sich auf Kosten des Fragestellers, also schlicht auf "humor"volle Weise, ins rechte Licht zu setzen:
... Ich glaube, es (das Niesen) ist genetisch bedingt und verleiht einem einen noch unerkannten evolutionären Vorteil. ... Da aber die Ozonschicht dünner wird und mehr ultraviolettes Licht durch die Atmosphäre dringt, wird es zunehmend gefährlicher, direktes Sonnenlicht ins Auge fallen zu lassen. Wir Träger des Sonnen-Nieser-Gens setzen uns dem nicht aus, da unsere Augen sich automatisch schließen, wenn wir niesen! Der Rest der Menschheit wird allmählich erblinden, was von der natürlichen Auslese im allgemeinen nicht begünstigt wird.

Das klingt zwar für manche Ohren ganz amüsant und eignet sich womöglich als pseudowissenschaftlicher Bonmot auf einer gepflegten Cocktail Party, doch dem Anspruch eines wissenschaftlichen Ratgebers in Alltagsdingen werden solche Antworten keineswegs gerecht.

Die Art der Darstellung hat meiner Ansicht nach System, denn zum einen wird in einer für die wissenschaftliche Herangehensweise durchaus typischen Form jedem auftretenden Problem mit einer Erklärung entsprochen, ganz gleich wie hergeholt sie auch sein mag. Zum anderen wird deutlich, daß Wissenschaftler, zumal der Leserkreis des New Scientists, ein höchst elitärer Kreis ist, zu dem nur der gehört, der auch die Antworten auf der "Letzten Seite" richtig versteht: als ernstzunehmende Theorie oder als nicht ganz ernst zu nehmende Antwort auf eine nicht ganz ernst zu nehmende Frage. Letzteres schadet meiner Ansicht nach dem Image der Wissenschaften mehr, als es ihnen an Popularität und Zwanglosigkeit einbringt.

Aus diesem Grund erfüllt das vorliegende Bändchen logischerweise mit wenigen Ausnahmen die in es gesetzten Hoffnungen nicht, sollten den Leser tatsächlich Fragen umtreiben, die sich nicht mit immanent offen gehaltenen Erklärungen zufrieden stellen lassen.

Zum Abbau von eigenen Illusionen oder um in spielerischer Weise mit wissenschaftstheoretischem Vorgehen vertraut zu werden, ohne allerdings dabei die eigenen Fragen aus dem Blick zu verlieren und ohne mit dem Fragenstellen an sich aufzuhören und schließlich allein um der Erkenntnis willen, daß die Wissenschaft auf die eigentlich wichtigen Fragen auch keine Antwort weiß...

...lohnt sich durchaus die Anschaffung dieses handlichen Taschenbuchs.


Herausgeber Mick O'Hare
Warum fallen schlafende Vögel nicht vom Baum?
Wunderbare Alltagsrätsel
Ungekürzte Taschenbuchausgabe
Piper-Verlag, München April 2002
247 Seiten, 8,90 Euro
ISBN 3-492-23594-8