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REZENSION/139: Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band (SB)


Jochen Schmidt


Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band



Auf der Suche nach einem Buch, das meiner tanzbesessenen Freundin eine theoretische Stütze für die begonnene Tanzausbildung wäre, stieß ich auf die "Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band", das ich ihr nach eingehender Prüfung und anfänglichen Zweifeln nun doch ans Herz legen werde.

Wer anläßlich des Titels jedoch ein umfassendes geschichtliches Standardwerk erwartet, wird enttäuscht sein. Auch der Autor, Jochen Schmidt, der seit über 30 Jahren als Kulturkorrespondent mit dem Schwerpunkt Tanz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt, scheint mit dem eigenen Produkt nicht ganz zufrieden, denn der zweite Teil seiner Einleitung "Wie das Konzept funktioniert" läßt sich eigentlich als eine mit dem Wohlwollen des Lesers kokettierende Rechtfertigung dafür zusammenfassen, daß er für die gesamte Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts nur "... die Lebensgeschichten von 101 Choreographen, welche die Tanzkunst des 20. Jahrhunderts bestimmt und weiterentwickelt haben, nachzeichnet, ihre Werke beschreibt und ihre Ästhetik zu charakterisieren versucht."

Der Autor realisiert dies, indem er nach eigenem Gutdünken und Ermessen Choreographen aus dieser Zeit in "Familien", "Schulen" zusammenfaßt und diese Zuordnung jeweils im Einleitungstext zum Kapitel begründet. Allein durch diese Form schafft er geschichtliche Zusammenhänge, in denen sich die Protagonisten möglicherweise gar nicht wiederfinden und die sich unter einem anderen Blickwinkel bzw. mit einer anderen Stellungnahme zum Thema nicht so einfach nachvollziehen lassen. Damit befindet sich der Autor in guter Gesellschaft, denn jede Art von Geschichtsschreibung funktioniert so, daß sie selten die Wahrheit, sondern vielmehr nur Aspekte derselben nach Wertung des jeweiligen Geschichtsschreibers wiedergibt.

In diesem Werk wird der Leser geradezu mit der Nase auf die Willkür des Autors gestoßen, der sich über beinahe zwei Seiten nur dafür entschuldigt, daß er für die Auswahl seiner Zusammenstellung von Kurzbiographien die Zahl 101 gewählt hat. Er gibt "außer der Tatsache, dass 101 eine originelle Zahl ist (die schon George Balanchine für seine "Stories of the Great Ballets" verwandte) und noch mehr Namen den ohnehin nicht geringen Umfang dieses Buches ins Unpraktische steigern würden..." [Seite 12] keinerlei Erklärung dafür, warum es gerade diese möglicherweise für den Autor magische Zahl sein mußte, an der nun wirklich nichts "Originelles", Besonderes oder Ungewöhnliches festzustellen ist. Allerdings spricht seine wortreiche Erläuterung " - im vermutlich aussichtslosen Versuch Missverständnissen vorzubeugen oder sie wenigstens so gering wie möglich zu halten - " [Seite 12] dafür, daß er sich gerade um d i e s e r Zahl willen gezwungen fühle, eine äußerst subjektive Auswahl zu treffen, bei der einige bedeutende Namen fehlen bzw., wie der Autor selbst sagt, "geopfert werden" mußten. Warum, fragt sich der unbedarfte Leser, der das Sichwinden und Entschuldigen um die völlig bedeutungslose Zahl allmählich leid ist, hat der Autor nicht einfach das Buch soweit komplettiert und ergänzt, daß es auch seiner Ansicht nach keiner Rechtfertigung mehr bedarf? Schließlich wirkt der langjährige Tanzkritiker in seinen Urteilen oder Verurteilungen der wahren oder vermeintlichen tanzgeschichtlichen Größen äußerst kompetent und souverän und scheint von seiner persönlichen Meinung auch durchaus überzeugt zu sein.

Unter dem einleitenden Titel "Vom Tanz als Elementarantrieb zum Tanz als Kunstform: Aufstieg und Niedergang", in dem die Anfänge des Tanzes zusammengefaßt werden, hatte ich mir mehr Einblick in die Entwicklungsgeschichte tänzerischer Bewegungen außerhalb seiner gesellschaftlichen Funktion, wie man sie heute kennt, erhofft als folkloristische Allgemeinplätze wie

Die Tänze primitiver Gesellschaften waren und sind Tänze zum Mitmachen, erst in einer zweiten Stufe auch religiöse Rituale. Beim Tanzen kam man sich näher, bald auch erotisch. Dass Frauen und Männer miteinander tanzten, war in vielen, nicht nur abendländischen Gesellschaften lange Zeit die einzige Möglichkeit, miteinander in einem wie auch immer beschränkten körperlichen Kontakt zu treten...

Jochen Schmidt macht es sich hier einfach, indem er seine Vorstellungen und die Herangehensweise heutiger Tänzer, Choreographen und Tanzexperten auf frühere, weitgehend unbekannte Verhältnisse überträgt. Spätestens seit der 68er Bewegung, die der Autor selbst u.a. für bestimmend für die Entwicklung des deutschen Tanztheaters hält (siehe Seite 299 "Das deutsche Tanztheater I: Die Gründer"), sind jedoch Strukturen des Zusammenlebens gerade auch in früheren Gesellschaftsformen sozialkritisch neu durchdacht und entwickelt worden. Als Tanzexperte könnte er somit zumindest theoretisch mit dem Gedanken vertraut sein, daß unsere Vorstellungen von Sexualität und Erotik nicht zwangsläufig auch für andere Gesellschaften gelten und ein "Sichnäherkommen" in früheren Formen des Zusammenlebens nicht unbedingt erotisch stimuliert sein mußte. Es sind durchaus Strukturen und Motive denkbar, die mit unseren heutigen keine Verbindung mehr haben.

Auch bei der Darstellung der Entstehung des Tanzes als Kunstform mögen sich dem Geschichtsinteressierten an vielen Stellen die Haare sträuben:

Die europäische Kunstform des Balletts - ... - hat ihren Ursprung in der Renaissance und natürlich in feudalen Verhältnissen. Sie entstand, zunächst durchaus als eine Mitmachkunst, als ein gesellschaftliches Vergnügen des Adels an italienischen Fürstenhöfen und entwickelte sich erst allmählich als ihre Formen immer komplizierter, ihre Bewegungen immer schwieriger wurden ...

Umsonst suchte ich in dieser Einleitung nach Hinweisen, wer bei diesen Anfängen der als Unterhaltung genossenen Tanzvorführungen die Darsteller waren. Denn daß es sich dabei zum größten Teil um Kurtisanen, Lustknaben oder Sklavinnen handelte, die letztlich mit ihren Körpern für den Genuß einer elitären Minderheit bezahlen mußten, wird aus diesem Teil der Geschichte ausgeklammert, obgleich sich doch gerade dieser Teil zwangsläufig im heutigen Selbstverständnis der Tänzer und Choreographen als Werkzeuge und formende Künstler widerspiegelt.


Ich will die Arbeit des Autors aber keineswegs schmälern. Tatsächlich stellt - wie der Klappentext behauptet - "Die Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band ein stattliches Überblickswerk zur internationalen Geschichte des Tanzes dar, festgemacht an seinen berühmtesten Exponenten des 20. Jahrhunderts - u.a. Isodora Duncan, Waslaw Nijinsky, George Balanchine, Martha Graham, Merce Cunningham, Hans van Manen, William Forsythe und Pina Bausch", aber auch vielen anderen weniger bekannten Namen.

In 23 Hauptkapiteln, strukturiert nach den wesentlichen Epochen des Tanzes in dieser Zeit, stellt Jochen Schmidt die seiner Meinung nach für die Entwicklung des Tanzes prägenden internationalen Choreographen mit ihren Lebensleistungen in chronologischer Folge vor. Ich halte die persönliche Wertung des Autors, aus der er nie einen Hehl macht, einen Gewinn für die Sammlung und Zusammenstellung, die damit immerhin über das gewöhnliche Format eines Ballettführers hinausgeht, in dem gemeinhin ohne ausgesprochene Bewertung nur die erfolgreichsten oder populärsten Choreographen aufgezählt, erwähnt und gelobt werden, die ohnehin jeder kennt.

Nachdem ich mich also trotz der stellungslosen und nichtssagenden Einleitung zum Weiterlesen durchgerungen hatte, gefiel mir das Buch zunehmend besser, zumal dann, wenn ich mir die Ermutigung vergegenwärtigte, die einem noch jungen Leser, der eine Tanzkarriere anstrebt, daraus erwachsen könnte.

Nach anfänglichen 67 Seiten lexikaler Pflichterfüllung über die Vertreter des klassischen Balletts (abgesehen von den vier alten Damen des Ausdruckstanzes Loie Fuller, Isodora Duncan, Ruth St. Denis und Grete Wiesenthal, die der Autor mag und gleich ganz an den Beginn der Entwicklungsgeschichte stellt), kommt er endlich auf die Bereiche der Tanzgeschichte zu sprechen bzw. auf die Personen, die ihn wirklich interessieren, und von denen er mit offensichtlich wachsender Freude aber auch mit unverhohlenem Biß (z.B. bei dem gemeinhin in Deutschland so gefeierten John Neumeier) berichtet.

Durch seine Vorliebe für "Eigenbrödler und Sonderlinge", denen er ein eigenes Kapitel widmet, die aber auch unter anderen Zuordnungstiteln immer mit besonderer Sorgfalt gezeichnet und dargestellt werden, läßt er diese Tanzgeschichte schließlich doch noch zur spannenden Lektüre werden, die vielleicht nicht unbedingt alle Fakten berücksichtigt, aber auf diese Weise vielleicht einen stärkeren Eindruck hinterläßt als andere Ballettenzyklopädien, die umfassender und vollständiger, aber schwerer zu lesen und zu behalten sind.

Und schließlich könnte es Tanzbesessenen, die erst spät zu dieser Darstellungsart gefunden haben, mit Biographien vieler Außenseiter (wie Mary Wigman, Pina Bausch, Susanne Linke, Trisha Brown, Henrietta Horn, um nur ein paar zu nennen), die trotz aller Widersprüche (zu groß, zu alt, ungelenke Knie, unpassende Sportlerkarriere (American Football) u.a.) große und einflußreiche Karrieren gemacht haben, Mut machen, den eingeschlagenen Weg weiter zu verfolgen.

Mit über hundert Portraits, Szenephotos und Tanzstudien und einem Register, das den zügigen Zugriff auf bereits bekannte Choreographen oder das schnelle Nachschlagen neuer Namen erlaubt, könnte man das Werk durchaus als Lehrbuch empfehlen, selbst wenn es nur eine mögliche Sicht der Dinge widerspiegelt.

Hierbei könnten den Ballettanfänger und Laien allerdings die vielen unerklärten Namen und Anspielungen stören, die wiederum nur Kenner der Szene (für die das Buch wohl eigentlich geschrieben wurde) richtig deuten kann, so daß der unbedarfte Leser für dieses Lehrexemplar noch einige weitere ergänzende Nachschlagewerke benötigen würde.


Jochen Schmidt, geb. 1936, arbeitet seit über 30 Jahren als Kulturkorrespondent mit dem Schwerpunkt Tanz für die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Von 1984 bis 1994 war er daneben Leiter des Tanzfestivals Nordrhein-Westfalen. Heute lebt Schmidt, auch Autor von "Tanztheater in Deutschland", "Tanzen gegen die Angst, Pina Bausch" und "Ich sehe Amerika tanzen, Isodora Duncan", in Düsseldorf-Oberkassel.


Jochen Schmidt
Tanzgeschichte des 20. Jahrhunderts in einem Band
Mit 101 Choreographenporträts
Henschel (Arte Edition) Verlag, Berlin, September 2002
ISBN 3-89487-430-9