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REZENSION/173: Karl Georg Zinn - Wie Reichtum Armut schafft (SB)


Karl Georg Zinn


Wie Reichtum Armut schafft

Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel



Angesichts des von einem breiten Bündnis aus Politik und Publizistik getragenen Angriffs auf die verbliebenen sozialstaatlichen Garantien für Arbeitslose und Erwerbsunfähige tut Kritik an den theoretischen Grundlagen dieser marktradikalen Offensive not. Das gilt um so mehr, als daß es sich bei dem immer rasanter verlaufenden Strukturwandel um eine gesellschaftliche Auseinandersetzung handelt, die von den Protagonisten des Kapitals mit dem Ziel angestoßen wurde, das Dogma vom Ende der Geschichte Wirklichkeit werden zu lassen. Mit dem Sieg über den Staatssozialismus als letzte säkulare Herausforderung des omnipotenten Organisationsprinzips kapitalistischer Marktwirtschaft sei die Irrelevanz jeglicher gesellschaftlichen Utopie unter Beweis gestellt worden, lautet der Subtext der voranschreitenden Verelendung einer immer größeren Zahl von Menschen in aller Welt, die schon mangels Alternativen in Kauf zu nehmen sei und ansonsten natürlich nur ein temporäres Manko immer noch nicht vollständig eingelöster Marktprinzipien darstelle.

Der Arroganz wie Ignoranz solcher Ideologeme ist kein Kraut gewachsen, das nicht zum einen über ein theoretisches Fundament von wissenschaftlicher Gültigkeit verfügt, zum andern aber auch nicht auf die Machtfrage verzichtet und real existierende Herrschaftsverhältnisse mit gebotener Streitbarkeit ins Visier nimmt. Diese Voraussetzung erfüllt der Volkswirtschaftler Karl Georg Zinn schon mit dem Titel seines jüngsten Werks "Wie Reichtum Armut schafft". Dieser Kausalnexus hält sich nicht mit dem schicksalhaften Nebeneinander von arm und reich unter dem alle ökonomische Gewalt negierenden Gerechtigkeitspostulat neoliberaler Freiheitsdoktrin auf, sondern setzt die mangelgestützte und notgenerierende Intentionalität marktwirtschaftlicher Kapitalakkumulation voraus.

Zinn geht es als Verfechter der keynesianischen Nachfragetheorie zwar nicht um die prinzipielle Überwindung des Kapitalismus, er kommt im Rahmen seiner Analyse jedoch nicht umhin, Schlußfolgerungen zu dessen Verwertungspraxis und dem politischen Überbau neoliberaler Ideologie zu ziehen, die im Kontext vorherrschender Lehrmeinung durchaus als radikal zu bezeichnen sind. Weniger als das wäre allerdings auch ungenügend, streben die Verfechter einer marktradikalen Bewertung nicht nur der ökonomischen Belange von Staat und Gesellschaft, sondern eines jeglichen Bereichs menschlicher Lebenspraxis doch im besagten finalen Sinne nichts geringeres an als die Etablierung unumkehrbarer Verhältnisse, die selbst die eigenen neoliberalen Organisationsprinzipien zugunsten einer rigiden Herrschaftsordnung transzendieren. Schon im Grundsatz ist der vorherrschende Marktradikalismus widersprüchlich - wo er Eigenverantwortung und Gerechtigkeit predigt, mahnt er beim Gros der Bürger an, sich in reale Raub- und Ausbeutungsverhältnisse zu fügen; wo er Staatsferne verlangt, will er auf den die Eigentumsordnung absichernden Gewaltapparat des Staates keinesfalls verzichten, sondern fordert dessen Ausbau.

Ohne ordnungspolitisches Fundament kann es keinen auf Geld gestützten Warentausch geben, und ohne die institutionellen und sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen der Globalisierung fehlte den westlichen Marktwirtschaften jener Expansionsraum, ohne den die immanenten Widersprüche des Kapitalismus längst zu systemgefährdenden Zusammenbrüchen auch in den Wohlstandsinseln Westeuropa und Nordamerika geführt hätten. Zinn geht es um die Regulation dieser krisenhaften Entwicklung, die seiner Ansicht nach durch die neoliberale Angebotspolitik deutlich forciert wird:

"Die moderne Arbeitslosigkeit ist kein Mangel-, sondern ein Überflußproblem, und insofern auch nicht im entferntesten Sinn natürlich bzw. naturbedingt, sondern historischen Konstellationen geschuldet. Geschichtliche Entwicklungen unterliegen jedoch menschlichem Handeln, und daher ist das Beschäftigungsproblem prinzipiell zu lösen. Es ist eine politische Machtfrage, ob und wie Vollbeschäftigung erreicht wird und wie Reichtum in gesellschaftlichen Wohlstand übersetzt wird." (S. 47/48)

Und diese Frage wird mehr denn je zugunsten der Kapitaleigner und ihrer Gewährsleute in Staat und Politik beantwortet. Der Autor belegt ausführlich die wachsende Polarisierung der Einkommens- und Vermögensunterschiede in der westlichen Welt und korreliert sie mit Sozialdaten, die insbesondere in den USA den direkten Zusammenhang zwischen Reichtumskonzentration und Verelendung belegen. Zwar mag man, was die Frage absoluten Überflusses im weltweiten Maßstab betrifft, hinsichtlich des bereits grassierenden Hungers und der kontinuierlich schrumpfenden Nahrungsmittelreserven zu einer pessimistischeren Ansicht neigen, bezogen auf die Verteilungsgerechtigkeit in der westlichen Welt präsentiert Zinn jedoch ein überzeugendes Plädoyer für eine staatsinterventionistische Beschäftigungspolitik, wie sie einst der Ökonom John Maynard Keynes konzipiert hat.

Insbesondere in dem Unterkapitel "Von der Ausbeutung zur Arbeitslosigkeit - Ursachen der Beschäftigungskrisen", das am Ende des mit "Arbeit - Fundament jeder Gesellschaft und kulturellen Entwicklung" überschriebenen ersten von vier Abschnitten des Buches steht, widerlegt Zinn ausführlich die Dogmen der neoklassischen Theorie. Mit der umfassenden Erklärung ökonomischer Parameter wie "Überakkumulation", "Nachfragemangel", "Stagnation" oder "Relative Sättigung" sowie Ausführungen "Zur These von der Unbegrenztheit der Bedürfnisse", zu den "anthropologischen Grundlagen des Sparverhaltens", zum "prekären Gleichgewicht von Sparen und Investieren", zu "Keynes' Vorhersage der gegenwärtigen Stagnationskrise" sowie zu "Strukturwandel und Strukturkrise" schlägt er Schneisen ins Dickicht einer wissenschaftlichen Theoriebildung, die damit auch für den interessierten Laien verständlich wird.

Das ist auch erforderlich, wenn man die Argumentation des in Aachen lehrenden Professors mitvollziehen und seine Ausführungen zur Geschichte der politischen Ökonomie verstehen will. Gerade angesichts der neoliberal verengten Sicht der Gesellschaft auf ökonomische Fragen ist das Verständnis grundlegender Probleme der Volkswirtschaftslehre gering. Nur dank des Verzichts auf profunde Kritik an den argumentativen Achsen der Angebotstheorie läßt sich eine Politik wie die der Agenda 2010 ohne nennenswerten Widerstand seitens der Mehrheit der davon negativ betroffenen Bürger durchsetzen.

Wenn Zinn im zweiten Abschnitt "Überfluß und Mangel - das Paradoxon kapitalistischen Wohlstands" den irreführenden Charakter des Begriffs "Wirtschaftswunder", mit dem der bundesrepublikanische Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg metaphysisch verklärt wurde, darstellt und den Verlauf weltwirtschaftlicher Entwicklung im Rahmen der Ablösung des Keynesianismus durch den Neoliberalismus nachzeichnet, dann vermittelt er aufklärerisches Grundlagenwissen, das sich als Rüstzeug für jede politische Auseinandersetzung mit marktradikalen Standpunkten bestens eignet. Das gilt auch für seine Ausführungen zum Thema Globalisierung, seine Kritik an der nationalökonomischen Vorbildfunktion der USA und seine Bewertung technologischer Innovation als Strategie zur Bewältigung kapitalistischer Krisen.

Allerdings ist die geringe Bedeutung, die der Autor der technologischen Produktivkraftentwicklung für die Vernichtung von Arbeit zuweist, auch mit der Erklärung, es handle sich bei der Massenarbeitslosigkeit um ein Nachfrageproblem, nicht ganz nachzuvollziehen. Das Rationalisierungspotential mikroelektronischer Produktionsweisen ist längst nicht ausgeschöpft, und die Schaffung neofeudaler Arbeitsplätze im Dienstleistungssektor ist nicht unbegrenzt möglich. Wenn jeder Kapitaleigner über einen eigenen Hausdiener verfügt und an jedem Bahnhof ein Schuhputzer auf Kundschaft wartet, blieben immer noch genügend Menschen ohne Arbeit. So fällt Zinns Prognose für den Fall, daß man auf tief ins Fleisch des Kapitals schneidende Maßnahmen verzichtet, denn auch düster aus:

"Wegen der sättigungsbedingten Stagnation und der von ihr ausgelösten Kontraktionsspirale der Massenkaufkraft wird die Regeneration eines Nachfragebooms praktisch nicht möglich sein, und wegen der Umweltprobleme wäre eine breite Belebung der Konsumlust auf Überflüssiges auch gar nicht zu verantworten. Ein temporäres Konsumwachstum in größerem Umfang ist lediglich möglich und notwendig, um die während der Krise auf das skandalös niedrige Verbrauchsniveau gedrückten Einkommensschichten wieder dem Durchschnitt anzugleichen." (S. 124) "Die zur Bewältigung der gegenwärtigen globalen Krise erforderlichen Reformen würden die Grenzen des bestehenden kapitalistischen Systems sprengen. Denn die auf Dauer einzig sachgerechte Antwort auf die Stagnationskrise sowie auch auf die Umweltkrise ist die politisch geordnete Abkehr der reichen Länder vom Wachstum. Ohne Wachstum und Kapitalakkumlation kann das bestehende System jedoch nicht stabil gehalten, die Arbeitslosigkeit im Systemrahmen beseitigt werden. Vollbeschäftigung ohne Wachstum verlangt Umverteilung von Arbeit und Einkommen, vor allem der Besitzeinkommen. Es ist nicht vorstellbar, wie dies ohne veränderte Verteilungsstrukturen des Vermögens möglich sein soll." (S. 214/215)

Zinn wähnt sich zwar im Besitz praktikabler Lösungen zur Eindämmung der Krise und zur Herstellung relativer sozialer Gerechtigkeit, sieht sich jedoch aus gutem Grund einer Übermacht ideologischer wie realpolitischer Art gegenüber, die man nicht einfach mit den besseren Argumenten überzeugen kann, da sie handfeste Interessen verfolgt. So lassen Zinns im dritten Abschnitt "Orthodoxie, Außenseiter und der Aufstieg des Faschismus" angestellte Überlegungen zu den ökonomischen Voraussetzungen, unter denen sich der Nationalsozialismus durchsetzen konnte, erahnen, daß das aktuelle politische Entwicklungspotential hinsichtlich der Ausbildung autokratischer bis diktatorischer Strukturen längst nicht ausgereizt ist. Der Experte für die Geschichte der politischen Ökonomie zieht hier einige sehr anschauliche Parallelen zwischen dem scheinbar unaufhaltsamen Vormarsch der Angebotsprotagonisten und der wirtschaftspolitischen Debatte am Ende der Weimarer Republik, die der heutigen auf frappante Weise ähnelt.

In diesem Rahmen unterwirft Zinn auch die Rolle der eigenen Wissenschaft als Legitimationsfaktor für eine im Endeffekt destruktive Interessenpolitik einer kritischen Betrachtung:

"Entscheidend waren die falschen wissenschaftlichen Auffassungen für die wirtschaftspolitische Fehlentwicklung aber nicht, sondern der machtpolitisch bestimmte, ideologische Selektionsprozeß, dem ökonomische Lehrmeinungen unterworfen sind, bildet den ausschlaggebenden Mechanismus dafür, welche Deutungen von den herrschenden Eliten zur Legitimation ihres Tuns bzw. Nichttuns herangezogen werden. Es geht eben nicht um Wahrheit, sondern um Interessenwahrnehmung - durchaus im doppelten Wortsinn; deshalb kann es sogar zu falschen Wahrnehmungen derart kommen, dass verkannt wird, auf welchem Weg das eigene Interesse langfristig am besten erfüllt wird." (S. 183)

Wie elementar der interessenbedingte Charakter politischer Entscheidungen von so irrationaler Art, daß sie sich für einzelne Akteure in ihrer Auswirkung sogar als kontraproduktiv erweisen, ist, zeigt sich auch im vierten und letzten Abschnitt des Buches "Realität und Realitätsverkehrung - Zum Ideologieproblem in der politischen Ökonomie". Hier geht der Autor weit über die rein ökonomische Fragestellung hinaus und verläßt sie dennoch nicht, indem er den unauflöslichen Zusammenhang von politischer Wirkung und persönlicher Teilhaberschaft feststellt: "Das nur scheinbar wertneutrale Schweigen über Unrecht und strukturelle Gewalt bedeutet Komplizentum mit ihm" (S. 193).

Anhand einiger wohlvertrauter Ideologeme aus dem Wunderhorn neoliberaler Sinnstiftung führt Zinn aus, daß sich die Widersprüchlichkeit des marktradikalen Dogmas nur mittels seiner ideologischen Verklärung ausblenden läßt. Hier geht der Autor noch einmal ausführlich auf die Bedeutung von Wissenschaft und Medien für die Vermittlung einer ökonomischen Doktrin ein, die ihrem quasireligiösen Charakter gemäß abgesegnet wird, obwohl sie den Lebensinteressen vieler ihrer Adapten diametral entgegengesetzt ist. Anhand der Aufforderung zum "lebenslangen Lernen", mit dem die Bundesbürger auf die Belange der sogenannten Wissensgesellschaft konditioniert werden sollen, stellt er kategorisch fest:

"Denn nicht die Ideale der autonomen Persönlichkeit, der demokratischen Zivilcourage, der Erweiterung des individuellen Bewusstseins für das geschichtliche Werden aller kulturellen, sozialen und ökonomischen Erscheinungen und nicht zuletzt der moralischen Befähigung zum 'guten Leben' im philosophischen Sinn bilden die Kernbestandteile der angepeilten Inhalte des lebenslangen Lernens, sondern das Schwergewicht liegt auf der ökonomischen Funktionstüchtigkeit der Arbeitskraft." (S. 197)

So trägt eine den Maßgaben der kapitalistischen Verwertbarkeit des Menschen unterworfene Bildungspolitik nicht nur zur Popularisierung grundlegender Irrtümer ökonomischer Rationalität bei, sondern zu einem generellen Niedergang der Kultur, der selbst elementare Befähigungen wie das sprachliche Vermögen mit einer letztlich sozialdarwinistischen Ratio kontaminiert. Daß sich die "Träger der Ideologie ihrer ideologischen Denkweise nicht bewußt" wären, wie Zinn anläßlich der Differenzierung zwischen "Ideologie und simpler, manipulierter Zweckpropaganda und zynischer Demagogie" behauptet, sollte jedoch zugunsten der bei aller Fremdbestimmung uneingeschränkt zu postulierenden individuellen Willensfreiheit und Verantwortlichkeit in Frage gestellt werden. Andernfalls liefe man Gefahr, weltanschauliche Konzepte zu begünstigen, die den Subjektcharakter des Menschen zum Zwecke seiner totalitären Verfügbarkeit dementieren.

In seinem abschließenden Fazit betont der Autor noch einmal die Unverzichtbarkeit "der Kenntnis des Zusammenhangs von politischer Ökonomie und ideologischer Legitimationsfunktion", die erst "ein realitätsgerechtes Verständnis der Krisenentwicklung" ermögliche. Sein Buch geht also deutlich über die bloße Darstellung und Analyse ökonomischer Mechanismen aus der Warte des nachfrageorientierten Reformismus hinaus und tangiert Fragen von Macht und Herrschaft, die konstitutiv für jeden wirksamen Widerstand gegen herrschende Verhältnisse sind. Angesichts der Massivität neoliberaler Indoktrination und des Zwangs ökonomischen Mangels ist grundstürzende Kritik allemal gefragt, und Karl Georg Zinn trägt einen wichtigen Teil dazu bei.


Karl Georg Zinn
Wie Reichtum Armut schafft
Verschwendung, Arbeitslosigkeit und Mangel
PapyRossa Verlag, Köln, 2003
226 Seiten, 14,80 Euro
ISBN 3-89438-249-X