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REZENSION/230: Albrecht Müller - Die Reformlüge (Politik) (SB)


Albrecht Müller


Die Reformlüge

40 Denkfehler, Mythen und Legenden,
mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren



Oft muß sich Albrecht Müller die Frage gefallen lassen, warum er angesichts seiner vehementen Kritik an der Reformpolitik auch der aktuellen Bundesregierung eigentlich noch in der SPD sei. Dem entgegnete der 66 Jahre alte Wirtschaftswissenschaftler und ob seiner Thesen begehrte Interviewpartner einmal, aus seiner Argumentation leuchteten die Grundwerte der Sozialdemokratie wie auch der sozial orientierten Christdemokraten heraus. Man sollte doch diejenigen, die diese Reformen betreiben, einmal fragen, warum sie immer noch in der SPD seien.

Auch in eine zweite geradezu obligatorische Schublade klischeehafter Kategorisierung läßt sich der Redenschreiber von Wirtschaftsminister Karl Schiller, Wahlkampfmanager von Bundeskanzler Willy Brandt, Mitarbeiter des Bundeskanzleramtes bis 1963 und SPD-Abgeordnete von 1987 bis 1994 nicht stecken. Wenn man ihn "Oskar den Zweiten" nennt, wie das jüngst eine deutsche Tageszeitung getan hat, weist er diese Anspielung auf Oskar Lafontaine sachlich zurück, ohne sich in den ausgelegten Fallstricken von Anbiederung oder Distanzierung zu verfangen. Wie Müller nüchtern erläutert, stimme daran nur, daß Oskar Lafontaine ähnliche Akzente zur Belebung der Wirtschaft setze wie er selbst und ebenfalls die Priorität darin sehe, die Konjunktur zu stimulieren und auf Wachstum zu setzen. Heute müsse die Politik dafür sorgen, daß die Menschen wieder etwas zu tun haben, daß die Unternehmer Aufträge haben und daß die Innenstädte nicht veröden, weil die Menschen nicht mehr konsumieren und keinen Mut zu investieren mehr haben. Ambitionen, etwa auf seine alten Tage eine neue Partei links von der SPD mitzugründen, habe er nicht im Geringsten.

Ausbildung, Lebensweg und Sachkompetenz Albrecht Müllers machen es seinen Gegnern außerordentlich schwer, ihn als Person zu diskreditieren, um damit die Auseinandersetzung mit seiner Kritik zu vermeiden. Geboren 1938 in Heidelberg, wuchs er in der Zeit des Wiederaufbaus und der Lebensmittelkarten heran. Sein Vater besaß eine Zündholzgroßhandlung und eine kleine Lederwarenfabrik, beides Gewerbe, mit denen man in den fünfziger Jahren nicht viel verdienen konnte. Er selbst war von Kindesbeinen an in diesem Betrieb mit tätig und bekam eigenen Angaben zufolge viel mit von der Realität der Wirtschaftsordnung und der Verteilung von Macht. Nicht die Leistungsfähigkeit sei das Entscheidende, sondern die Macht, sei eine seiner Lektionen aus dieser Zeit gewesen. Daraus habe er den Schluß gezogen, daß Wettbewerb wichtig sei, dieser jedoch auch geschützt werden müsse.

Seine Politisierung vollzog sich Anfang der fünfziger Jahre an der Frage, ob man nicht die Angebote auf Wiedervereinigung von seiten Molotows in den Jahren 1952 und 1954 wenigstens prüfen sollte, statt sie rundweg zu verwerfen. Als Gustav Heinemann als Minister aus der Regierung Adenauer ausschied und die Gesamtdeutsche Volkspartei gründete, klebte Albrecht Müller als 14jähriger für diese Partei Plakate. Vor allem über Kirchentage pflegte er viele Kontakte mit Ostdeutschen.

Müller nahm ein Studium der Betriebswirtschaftslehre auf und sattelte später auf Volkswirtschaftslehre in Berlin und München um. Er schätzte die Arbeit des Evangelischen Studienwerks in Villigst angesichts der Grundidee, Studenten sollten ein Semester im Betrieb arbeiten, um eine andere Lebenswirklichkeit kennenzulernen. Dem lag die Auffassung zugrunde, evangelische Akademikerschaft und Bildungsbürgertum hätten versagt, weil sie keine Ahnung von der Lage der Arbeiterschaft hatten. Nach dem Examen in München wurde Müller Assistent und Sprecher eines politischen Klubs, der die schon zur Studentzeit aufgeworfenen Themen weiterverfolgte. Ein Forum strebte die Verbindung von theoretischer Ökonomie mit der Praxis an, wozu man auch Politiker als Diskussionspartner einlud.

Einer dieser Gäste im Range eines parlamentarischen Staatssekretärs war von der Arbeit des Forums so angetan, daß er einen Kontakt zu dem damaligen Wirtschaftsminister Karl Schiller vermittelte. Als dieser Redenschreiber suchte, wurde Müller als einer von zwei erfolgreichen Bewerbern eingestellt. Schon zuvor hatte er sich bei der Sozialdemokratie heimisch gefühlt und der studentischen Linken skeptisch gegenübergestanden, deren Gesellschaftsentwürfe er nicht teilte. Nun übernahm er in der SPD rasch anspruchsvolle Aufgaben und war ab 1969 zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Dabei untersuchte und kommentierte er auch die Beschlüsse der Jusos und argumentierte in der damals präsenten Diskussion gegen die Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

Auf seine Empfehlung hin sorgte Schiller 1969 dafür, daß ein vermeintlich sperriges Thema wie die Aufwertung der D-Mark zu einem Schwerpunkt des Bundestagswahlkampfs gemacht wurde. Das kam gut an, wobei es natürlich vor allem die Person Willy Brandt und die Ostpolitik waren, die den Durchbruch brachten. Müllers Rat war geschätzt, und so wurde er Wahlkampfmanager Willy Brandts im Jahr 1972, der mit 45,9 Prozent das beste Ergebnis einfuhr, das die SPD je auf Bundesebene erzielte. Albrecht Müller, der dies als die tollste Zeit seines Lebens bezeichnet, weist darauf hin, daß zahllose Leute an diesem Erfolg mitgearbeitet und mit anderen gesprochen hätten, was als entscheidender Faktor galt, um die Medienbarriere von Springerpresse, ZDF-Magazin und anderen konservativen Kräften zu durchbrechen.

Damals herrschte in weiten Teilen der Gesellschaft Aufbruchstimmung, die Arbeitslosigkeit war rückläufig, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wurde von Angestellten auch auf Arbeiter übertragen, das gleiche Kindergeld für alle eingeführt. Auch unter Bundeskanzler Helmut Schmidt setzte Müller seine Arbeit fort, bis mit der Kanzlerschaft Kohls 1982 die Wende kam. Müller wurde entlassen und sprang als Kandidat bei der Oberbürgermeisterwahl in Heidelberg ein, die er nur knapp verlor. Er führte 1985/86 den Wahlkampf für Schröder und war von 1987 bis 1994 Abgeordneter im Bundestag. Obwohl in einflußreiche Position aufgestiegen, war er doch kein Parteikarrierist, der dem Erfolg die Überzeugungen früherer Tage geopfert hätte. So monierte er beispielsweise im Zuge der deutschen Einheit die zahlreichen Geheimverträge, die den Amerikanern ohne Kenntnis der Öffentlichkeit weiterhin Rechte einräumten. Dies wurde von der Kohl-Regierung durchgesetzt und von der SPD-Fraktion mitgetragen, deren Mitglieder von der Parteiführung massiv zur Zustimmung gedrängt wurden. Müller zählte damals zu den zwei bis drei Abgeordneten, die dagegen waren.

Wenn Albrecht Müller, der heute als Publizist, Politik- und Unternehmensberater tätig ist, der SPD vorhält, sie verrate die Errungenschaften, die sie selbst erkämpft habe, kann angesichts seines politischen Werdegangs niemand den Vorwurf erheben, er komme mit einer irrelevanten Außenseiterposition daher. Für ihn spricht die fachliche Kompetenz als gelernter Ökonom, die er heute bei führenden Politikern wie der Physikerin Merkel, den Juristen Schröder, Clement und Merz oder dem Lehrer Eichel vermißt. Dabei hat er durchaus keine Einwände gegen das Eindringen solcher Berufe in Spitzenpositionen, doch hegt er den Verdacht, daß sich diese Riege offenbar nicht von Experten beraten läßt, die gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge durchschauen.

Auch sein politischer Werdegang in der SPD, der eng mit deren größten Erfolgen der Nachkriegszeit und verehrten Lichtgestalten verknüpft ist, verbietet jede plumpe Retourkutsche. Und da ihm auch Ambitionen abhold sind, mit reißerischen Tönen etwa die eigene Wiederauferstehung als Parteipolitiker zu befördern, zählt seine Kritik zweifellos zu den schwersten Kalibern, die aus dem bürgerlichen Lager gegen die Reformpolitik in ihrer Gesamtheit wie auch die im Verbund mit den Grünen regierenden SPD in Stellung gebracht wurden.

Als Leitfaden für sein Buch "Die Reformlüge" hat der Autor einen Kernsatz aus George Orwells "1984" gewählt, dessen Held Winston erkennt, wie Worte manipulieren können, bis am Ende alle dasselbe glauben: "Wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten - wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten - dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit." Sich mit Blick auf die hiesige Regierungspolitik auf den Orwellschen Klassiker zu beziehen, der ja ein diktatorisches Regime beschreibt, ist in der Tat harter Tobak, hinter den Albrecht Müller in seiner gesamten Argumentation mitnichten zurückweicht. Er wirft ebenso erzürnt wie fundiert einem Meinungskartell aus Unternehmern, Politikern und Journalisten vor, dem Volk so lange die immer gleichen Phrasen vorzubeten, bis jedermann sie für objektive Tatsachen hält, an denen nicht zu rütteln sei. Er moniert zahllose immer wieder nachgeplapperte Behauptungen, deren Urheber sich nicht einmal mehr die Mühe machten, eine Begründung vorzulegen. Obgleich Sachargumente fehlten, lebten vor allem die Eliten wie in einem kollektiven Wahn, das alles nachzubeten.

Wenn er in seiner Streitschrift die Grundthese in Frage stellt, daß tiefe Einschnitte ins soziale Netz unumgänglich seien, stößt er eine ökonomische Grundsatzdebatte an, wie sie hierzulande nahezu erlahmt ist. Zwei zentrale Vorwürfe erhebt er in seinem Diskurs: Erstens würden die Bürger von allen am Reformprozeß Beteiligten systematisch belogen, die zweitens das Land auf diesem Weg in den Ruin führten. So bezeichnet er als Hauptunwahrheit, daß die durchgeführten und für die Zukunft konzipierten Reformen die wirtschaftliche Misere beseitigen können. Ebenso unwahr ist seiner Meinung nach, daß überhaupt ein sogenannter Reformstau existiere. So verweist er darauf, daß schon unter Kohl permanent reformiert worden sei und die Steuern mehrfach gesenkt wurden. Der ewige Ruf nach Reformen erinnere längst an einen Hamster im Laufrad.

Dabei nennt sich Müller selbst von Herzen einen Reformer und erinnert daran, daß er ja etliche selbst angeregt habe. Ein fundamentaler Unterschied zur damaligen Zeit sei jedoch, daß der Reformbegriff früher im Sinne einer Veränderung zugunsten der Bevölkerungsmehrheit und sozial Schwächeren verstanden wurde, denen man heute mit einem unbegründeten und als angeblichen Fortschritt verkauften, jedoch in seinem Wesen pervertierten Reformverständnis immer neue Opfer abverlange, ohne die Talfahrt damit im Geringsten bremsen zu können. Mit dem Begriff "Reform" eine Veränderung zum Besseren zu assoziieren, gehöre in Deutschland der Vergangenheit an: "Die gängige Reformpolitik leidet nicht nur unter einem Defizit an Gerechtigkeit. Genauso schlimm ist ihre Unwirksamkeit." So werde "seit über zwanzig Jahren auf neoliberale Weise reformiert! Ohne nachhaltigen Erfolg. Die wirtschaftliche Lage wurde immer kritischer."

Den Hauptteil des Buches nehmen die 40 am meisten verbreiteten Behauptungen über den Zustand unseres Landes ein, die Müller auf ihren Wahrheitsgehalt hin untersucht. Dabei durchforstet er ebenso fundiert wie ausgiebig dokumentiert das Gestrüpp von Denkfehlern, Halbwahrheiten und Legenden, wobei er volkswirtschaftliche Zusammenhänge auch für Laien verständlich darzustellen versucht. Eingeteilt in fünf große Blöcke zu den Komplexen "die neuen Herausforderungen" der Globalisierung, die "demographische Frage", "Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung", "Löhne und Arbeitsmarkt" sowie "Schulden, Staatsquote und Sozialstaat" gestattet dieser Hauptteil dem Leser, mit dem Thema zu beginnen, das ihn am meisten interessiert, und dann nach Gutdünken wie in einem anregend geschriebenen Nachschlagewerk umherzuwandern. Dabei ist jedes Kapitel für sich verständlich und mit den erforderlichen Querverweisen versehen.

Bei Hartz IV, um dieses Thema als Beispiel für die Argumentationslinie Müllers anzureißen, bestehe die Lüge darin, daß darüber neue Arbeitsplätze geschaffen würden. Diese Reformen dienten vielmehr allein dem Zweck, die Mittel der Menschen zu beschneiden, die von der Beschäftigung in die Arbeitslosigkeit übergehen. Wenn auf 100 Arbeitslose eine offene Stelle komme, nütze es überhaupt nichts, die Arbeitslosen mit der Forderung zu traktieren, sie müßten sich mehr um einen Job bemühen.

Ein anderes markantes Beispiel für eine öffentliche Debatte, die von Übertreibungen und Dramatisierungen lebe, sei das Argument einer zunehmenden Vergreisung, die zum Aussterben der Deutschen führe. Mit Formulierungen wie "Generationenkrieg" oder "Methusalemkomplott" werde die Behauptung munitioniert, die zu wenigen Jungen könnten die zu vielen Alten nicht mehr ernähren. Müller führt Modellrechnungen an, die als wahrscheinlichste Variante darauf hinauslaufen, daß wir statt heute 82 Millionen Bundesbürgern im Jahr 2050 75 Millionen sein werden. Von Aussterben könne keine Rede sein, da diese Zahl immer noch höher als die des Jahres 1950 für Gesamtdeutschland sei. Die entscheidende Alterung habe zwischen 1900 und 1970 stattgefunden, während es seither zu einer Pendelbewegung gekommen sei, bei der die Alterung nie so dramatisch war wie jene bis 1970.

Entscheidend für die Frage, ob die Jungen künftig für die Alten sorgen können, sei die weitere Entwicklung der Produktivität. Wie der Autor anführt, würde schon ein minimaler Zuwachs von 1,5 Prozent im Jahr, der deutlich unter den bisherigen Werten liegt, bis 2050 ausreichen, um die zu versorgende Kinder- und Altengeneration mindestens gleichzustellen. Abgesehen davon gebe es keine seriöse Prognose bis zum Jahr 2050, da selbst das Statistische Bundesamt maximal Aussagen für die nächsten vier Jahre wage. So seien Geburtenrate, Produktivitätsentwicklung und Lebenserwartung keine zuverlässig vorherzusagenden Größen.

Was die Lohnnebenkosten betrifft, die ebenfalls in aller Munde sind, bestreitet Müller keineswegs, daß sie relativ hoch seien. Er wendet sich jedoch gegen die darüber transportierte Behauptung, die Wirtschaft lasse sich beleben, wenn man die Lohnnebenkosten senke. Die Entscheidung der Unternehmen, zu produzieren oder zu investieren, hänge von diversen Faktoren ab, unter denen die Löhne und Lohnnebenkosten zwei unter vielen und nicht zwangsläufig die wichtigsten seien. Der Autor rügt daher die trügerische Vereinfachung, Beschneidungen auf diesem Gebiet zur unverzichtbaren Voraussetzung wirtschaftlichen Aufschwungs zu erklären.

Was hier nur in aller Kürze angedeutet werden kann, erschließt sich dem Leser als eine Fülle oftmals überraschender Einwände gegen vermeintlich unverrückbare Tatsachen, die Argumentationshilfen und insbesondere Anregungen zur weiteren Auseinandersetzung mit den dargebotenen Themenkomplexen liefern, die heute die öffentliche Debatte beherrschen. Albrecht Müller spricht von einem "Versagen der Eliten, der Parteien und der kritischen Intelligenz" und warnt:

Wer den Systemwechsel will, wer Abschied nehmen will von wichtigen Strukturen und Eigenschaften des Sozialstaats und der Tarifautonomie, verläßt die Grundlage unserer Verfassung.

Von einer Reformlüge im Sinne einer systematischen Irreführung von Menschen zu sprechen, hat Müller den Vorwurf eingebracht, er betätige sich als Verschwörungstheoretiker. Dem entgegnet der Autor, er sei schon von seiner Ausbildung und seinem beruflichen Werdegang her ein pragmatischer Mensch und spreche nur von Dingen, die er auch belegen könne. So verweist er etwa auf die Arbeitgeber der Metallindustrie, die für eine Propagandakampagne in den nächsten fünf Jahren 500 Millionen Euro bereitgestellt haben. Dies sei in Magazinen wie Stern und Spiegel nachzulesen und sicherlich keine Ausgeburt einer Verschwörungstheorie, sondern die Realität dieser Republik. Die Rede sei von einer Zukunftsplanung durch Menschen und Gruppen mit klaren Interessen, wie auch im Falle der Privatisierung der Altersvorsorge. Diese habe José Piñera in den neunziger Jahren zunächst in Chile und seither in Europa und Asien im Interesse der Banken und Lebensversicherungskonzerne mit bemerkenswertem Erfolg vorangetrieben. Man könne niemandem das Recht streitig machen, das zu tun und dafür mit Kampagnen zu werben, wohl aber Politik, Wissenschaftler und Medien kritisieren, die darauf hereinfielen.

Wer derart harsche Kritik übt wie Albrecht Müller, wird zwangsläufig aufgefordert anzugeben, wie man es seiner Meinung nach besser machen sollte. Da fühlt sich der Autor erst recht in seinem Element und fordert eine Konzentration aller politischen Kräfte auf die Belebung der Wirtschaft in Form eines massiven Konjunkturprogramms. Volkswirtschaftlich gesehen müsse man in der Rezession nicht etwa sparen, sondern vielmehr Geld ausgeben. Wenn am Ende etwas herauskommen solle, bräuchten die Menschen mehr Geld, um es ausgeben zu können. Sollte der Dollar weiter im Wert sinken, drohe der Export als Lokomotive einzubrechen. Daher müsse man die Binnenkonjunktur gerade in der Konjunkturdelle anschieben, wie das in den siebziger Jahren erfolgreich geschehen sei.

Den Vorwurf, er plädiere ja nur für eine Rückkehr in vergangene Zeiten und erweise sich als lupenreiner Keynesianer, will Müller nicht gelten lassen. Er komme auf das zurück, was auch heute noch brauchbar sei, und habe sich als Ökonom immer dafür verwendet, alle Instrumente der Wirtschaftspolitik einzusetzen, sowohl die keynesianischen als auch die angebotsökonomischen. Wenn man sich aber am Rande einer schlimmen Rezession befinde, sei es geboten, entschieden auf Wachstum und Ankurbelung der Binnenkonjunktur zu setzen. So hätten es die Briten, Franzosen, Amerikaner und auch die Niederländer gemacht und damit spürbar besser abgeschnitten als die Deutschen. Der Autor empfiehlt in der gegenwärtigen Situation Beschäftigungsprogramme und eine Abkehr von großen Strukturreformen, an deren Stelle kleine Vorhaben etwa dergestalt, daß Eltern Familie und Beruf besser vereinbaren können, ratsam seien.

Von den Meinungsführern in Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Medien bis tief ins Lager der Gewerkschaften hinein propagierte Dogmen variieren nahezu einhellig dieselbe unzutreffende Diagnose und dieselben angeblich alternativlosen Lösungsansätze, moniert Müller. Er versteht sein Buch in gewisser Weise als eine Auftragsarbeit sozialdemokratischer Freunde und möchte Abhilfe schaffen mit dem erschreckend niedrigem Niveau und der Einseitigkeit der öffentlichen Diskussion. So fordert er seine Leser dazu auf, Zweifel an den vorgegebenen Denkschablonen zu hegen und kritische Fragen zu stellen.

Als gestandener Sozialdemokrat beschwört Albrecht Müller das traditionelle Selbstverständnis seiner Partei, die gesellschaftlichen Widersprüche auf dem Wege einer Reformpolitik zum Wohle der arbeitenden Bevölkerung zu glätten und den kapitalistischen Wildwuchs mit dem Instrumentarium des Sozialstaats zu zügeln. Daher muß er die Verwandlung des Reformansatzes in ein Werkzeug der Drangsalierung eben jener Bevölkerungsteile, welche die Sozialdemokratie als ihr ureigenstes Klientel für sich reklamiert, bitter beklagen und zu einem Irrweg erklären.

Anders stellt es sich freilich dar, wenn man mit Müllers Charakterisierung der Sozialdemokratie nicht einverstanden ist und sie als Sammelbecken jener Kräfte begreift, welche die Möglichkeit des Ausgleichs gesellschaftlicher Widersprüche zur Denkvoraussetzung ihres Strebens nach Versöhnung erklären. Unter diesem Ansatz entschlüsselt sich die historische Funktion sozialdemokratischer Politik als phasenweise favorisierte staatstragende Alternative zum Zweck der Entschärfung und Einbindung potentiellen Aufbegehrens und Verwaltung von Arbeitskraft, über die zu verfügen Wesensmerkmal von Herrschaft ist.

Reformen, die den Bürgern einen geringfügig größeren Bruchteil des zuvor Geraubten zurückerstatten, und Reformen, die diesen Bruchteil weiter beschneiden, lassen sich so als Etappen im Verlauf der Qualifizierung von Verfügungsgewalt durchaus miteinander in Verbindung bringen und als Schrittfolge ein und desselben Prozesses ausweisen. Erst ein auf den vermeintlichen Segen des Sozialstaats eingeschworener Mensch wird zu jedem Opfer bereit sein, wenn man ihm mit dem Untergang desselben droht. So begehrt die zugeworfenen Brocken auch sein mögen, die einem den Konkurrenzkampf schmackhaft machen, und so schmerzlich deren Entzug auch erlebt wird, sind Himmel und Hölle bürgerlicher Existenz doch nur einander bedingende Instrumente eines perfektionierten Regimes von Ausbeutung und Zuteilung.

Da Albrecht Müller einer grundsätzlichen Kritik der kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine entschiedene Absage erteilt und einer Variante wirtschaftswissenschaftlicher Ausdeutung den Zuschlag gibt, muß er in seiner Bestimmung zugrundeliegender Interessen und Verlaufsformen Zuflucht zu dem diffusen Modell wirtschaftlicher Lobbyisten nehmen, denen Staat und Gesellschaft auf den Leim gingen. Auch sein anerkennender Verweis auf die exzellente Propagandakampagne gewisser Fraktionen des Wirtschaftskomplexes vermag nicht schlüssig zu erklären, warum sich alle übrigen gesellschaftlichen Kräfte diesem Bestreben nachordnen sollten und damit nicht als initiative Handlungsträger, sondern als getäuschte Opfer einzustufen seien, deren Beteiligung sich mehr oder minder auf denkträgen Nachvollzug vorgefertigter Deutungsmuster beschränkt.

Die trügerische Hoffnung, man könne den dieser Wirtschaftsordnung immanenten Keim der Zerstörung neutralisieren und den Sozialstaat zurückliegender Jahrzehnte wiederauferstehen lassen, nährt sich von einer verhängnisvollen Mißdeutung der gegenwärtigen Phase sogenannter Reformpolitik. Albrecht Müllers These, die Reformer wüßten nicht, was sie tun, verschleiert das weitaus furchterregendere Verhängnis qualifizierter Verfügungsgewalt, die den Menschen unter dem Vorwand unumgänglicher Reformwerke aufgezwungen wird.


Albrecht Müller
Die Reformlüge
40 Denkfehler, Mythen und Legenden,
mit denen Politik und Wirtschaft Deutschland ruinieren
Droemer Verlag, München 2004
240 Seiten, 19,90 Euro
ISBN 3-426-27344-6