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REZENSION/236: J. Neale - Der amerikanische Krieg · Vietnam 1960-1975 (SB)


Jonathan Neale


Der amerikanische Krieg

Vietnam 1960-1975



Seit 1945 hat kein geschichtliches Ereignis die USA so nachhaltig geprägt wie der Krieg in Vietnam bzw. Indochina. Nicht umsonst wird in den amerikanischen Medien das jüngste Militärabenteuer Washingtons im Irak, wo sich die US-Streitkräfte mit einem zunehmend durchsetzungsfähigen Widerstand konfrontiert sehen, immer wieder mit Vietnam verglichen. Die brutale Rückeroberung Falludschas, die an den notorischen Satz "Wir mußten das Dorf zerstören, um es zu retten" erinnert, die Pläne, die Rebellenhochburg in das zu verwandeln, was man früher in Vietnam ein "strategisches Dorf" nannte, oder die jüngsten Vorwürfe des Pulitzerpreisträgers Seymour Hersh, wonach die US-Streitkräfte im Irak bei Militäroperationen ums Leben gekommene Zivilisten regelmäßig zu den getöteten Aufständischen zählten, um Greueltaten zu vertuschen und Erfolge vorzutäuschen - all das deutet auf Leid und Vernichtung in einem Ausmaß hin, wie es die Welt seit Vietnam nicht mehr gesehen hat.

Mit dem Buch "Der amerikanische Krieg - Vietnam 1960-1975", ein Titel, der die Bezeichnung der Vietnamesen für jenen Konflikt wiedergibt und damit deren Kampf gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung in den Mittelpunkt stellt, wollte der englische Autor Jonathan Neale nach eigenen Angaben die damaligen Vorgänge in Indochina den jüngeren Mitgliedern der heutigen Antikriegsbewegung begreifbar machen. Dies ist ihm auch meisterhaft gelungen. Doch selbst den etwas älteren Lesern, welche die US-Militärintervention in Indochina als Zeitzeugen miterlebt haben, bietet das Buch allerlei aufschlußreiche Aspekte. Neale, der damals selbst in der Antikriegsbewegung aktiv war, hat nicht nur die Werke wichtiger Historiker wie Gabriel Kolko sowie die Erinnerungen von Staatsmännern wie Henry Kissinger und einfachen GIs wie Tim O'Brien, sondern auch die Berichte und Romane vietnamesischer Zivilisten und Veteranen zu einem packenden Gesamtbild verarbeitet.

Bedenkt man, daß das vorliegende Buch samt Abkürzungsverzeichnis, Bibliographie und Personenregister lediglich 267 Seiten umfaßt, kann man nur über die Fülle an Themen staunen, die hier ihre angemessene Würdigung finden. Anders als der Titel vermuten ließe, beläßt es Neale nicht dabei, die Geschichte des Vietnamkrieges zwischen den Jahren 1960 und 1975 zu erzählen, sondern holt viel weiter aus und behandelt unter anderem folgende Bereiche: Vietnamesischer Kommunismus; der Luftkrieg; Nordvietnamesische Soldaten; Vietkongguerilla; GIs; politische Strippenzieher in Washington; die Antikriegsbewegung in Amerika; Vietnamveteranen gegen den Krieg; die Soldatenrevolte; My Lai; amerikanische Veteranen; vietnamesische Veteranen; Indonesien; Kambodscha; Thailand; China und Vietnam; Vietnam nach 1975; Staatskapitalismus.

In der von ihm selbst so genannten "Geschichte von unten", die er im wesentlichen bei der Niederlage der Japaner in Vietnam 1945 aufgreift und bis zum heutigen Tag verfolgt, geht es Neale darum, die damalige Verstrickung der USA in Südostasien in ihrer ganzen geo- und sozialpolitischen Dimension verständlich zu machen. Die Erinnerungen an "die Kraft der Bewegungen der 1960er Jahre" und die damals entstandene, emanzipatorische Entwicklung, welche die Machthaber in den USA seit den siebziger Jahren durch Geschichtsverklärung, Polizeistaatsmethoden und Sozialkürzungen zurückzudrehen beziehungsweise zu zerstören versuchen, möchte der Autor erneut ins öffentliche Bewußtsein rücken. Den Grundtenor und das Anliegen des Buchs bringt Neale, der seine Diplomarbeit in Geschichte über die Meutereien in der British Royal Navy, der Königlichen Britischen Marine, schrieb, mit folgenden Sätzen auf den Punkt:

Drei Bewegungen hatten die amerikanische herrschende Klasse geschlagen - die amerikanische Friedensbewegung, die Revolte der GIs und die Bauernguerilla. Die größte von ihnen war die Bauernrevolte. Hunderttausende von Kommunisten und Guerilleros hatten ihr Leben gegeben, und Millionen von Bauern waren gestorben, weil sie ihre Heimat nicht verlassen wollten oder konnten. Dutzende von Millionen hatten um sie getrauert. Der Vietnamkrieg ist eine Geschichte des Schreckens, der Vergewaltigungen und der Grausamkeiten. Aber es ist auch die Geschichte von unvorstellbarem, unaufhörlichem Mut, von dem, wozu Männer und Frauen und Kinder fähig waren, wenn sie für einen gerechten Anteil an dem Reis, den sie anbauten, kämpften - und für eine anständige Welt. (S. 191)

Anders als es dem allgemeinen Geschichtsbild entspricht, hätten laut Neale die US-Streitkräfte den Krieg gegen die Vietkong in Südvietnam durchaus gewinnen können, wenn die eigenen Soldaten und die amerikanische Öffentlichkeit die nach der Tet-Offensive 1968 eingeleitete Zermürbungsstrategie General William Westmorelands einschließlich des zugehörigen, mörderischen Phönix-Programms, mitgetragen oder zumindest geduldet hätten. Erst vor diesem Hintergrund wird es richtig verständlich, warum die Psy-Ops-Experten im Pentagon dermaßen penibel die Berichterstattung über die aktuellen Kriege in Afghanistan und im Irak kontrollieren und manipulieren - siehe die Fälle Jessica Lynch und Pat Tillman. Mittels (Des)Information - Unterdrückung der Verlustzahlen bei Soldaten und Zivilisten, ständige Dämonisierung der Gegner als irrationale, blutrünstige Fanatiker, Hurrapatriotismus à la Fox News - soll vor allem verhindert werden, daß in der amerikanischen Bevölkerung die Frage nach dem Sinn des sogenannten Global War on Terrorism (GWoT) allzu drängend gestellt wird beziehungsweise daß es zu einer Identifizierung mit der leidtragenden Zivilbevölkerung in den eroberten Ländern kommt. Anhand Jonathan Neales "Der amerikanische Krieg" erfährt der Leser nicht nur jede Menge über das Militärabenteuer der USA in Indochina, sondern bekommt gleichzeitig einen anderen, aufgeklärteren Blick für das, was derzeit im aktuellen Konflikt rund um den Persischen Golf zur Disposition steht, nämlich die Globalisierung unter amerikanischer Vorherrschaft.

Ohne die Verdienste Neales, der hier eine kaum zu übertreffende Einstiegslektüre zum Thema Vietnam vorgelegt hat, schmälern zu wollen, gibt es vielleicht zwei Punkte, die im Sinne der konstruktiven Kritik einen Einwurf verdienen. Was die Feststellung Neales betrifft, Vietnam habe "keine bedeutenden natürlichen Ressourcen" gehabt und sei daher "wirtschaftlich gesehen unwesentlich" gewesen, ist der Historiker und ehemalige kanadische Diplomat Peter Dale Scott in seinem 2003 in den USA erschienenen Buch "Drugs, Oil and War - The United States in Afghanistan, Columbia and Indochina" zu etwas anderen Ergebnissen gekommen und hat unter anderem nicht nur die Wichtigkeit des weltweiten Drogenhandels und damit der Kontrolle über das Goldene Dreieck für die CIA, sondern auch das Interesse namhafter US-Energiekonzerne an den zum Teil vor der Küste Vietnams vermuteten, großen Öl- und Gasreserven des Südchinesischen Meers als nicht zu unterschätzende Motive ausgemacht.

Im Rahmen seiner Behandlung des "Gegenschlages" der Ära Ronald Reagan/George Bush sen. tut Neale kurzerhand das vor allem von revanchistischen Kreisen hochgespielte Thema der angeblich von Vietnam nach 1973 nicht freigelassenen US-Kriegsgefangenen ab. "Diese Gefangenen gab es nicht", stellt er auf Seite 235 kategorisch fest. Wiewohl man Verständnis dafür haben kann, daß Neale der rechtkonservativen "Missing-in-Action"-Lobby um den Milliardär Ross Perot und den Schauspieler William Shatner keinen Raum für ihre abstrusen Verschwörungstheorien à la "Rambo 2" geben will, sind über die Jahre glaubhafte Indizien dafür aufgetaucht, daß die Regierung Nordvietnams tatsächlich eine unbekannte Anzahl gefangener US- Soldaten als Druckmittel jahrelang zurückbehalten hat. Hintergrund der umstrittenen Aktion soll der Streit zwischen Washington und Hanoi nach dem Vietnamkrieg über nicht eingehaltene Wiedergutmachungszusagen der USA in Höhe von drei Milliarden Dollar gewesen sein.

In dem 2002 in den USA unter dem Titel "Into the Buzzsaw - Leading Journalists Expose the Myth of a Free Press" erschienenen Buch berichtete die preisgekrönte US-Fernsehjournalistin Monika Jensen- Stevenson von der Unterdrückung ihrer Recherchen über den erschütternden Fall Bobby Garwood. Dem US-Marineinfanteristen gelang 1979 die Flucht aus vietnamesischer Gefangenschaft. Doch weil es zu diesem Zeitpunkt offiziell keine US-Soldaten mehr in Vietnam geben konnte und weil die tatsächliche Lage Hanoi und Washington dermaßen peinlich war, daß sie auf gar keinen Fall öffentlich bestätigt werden durfte, wurde Garwood vor ein Standgericht zitiert und als Deserteur verurteilt. Gerade der am Beispiel des Bauernopfers Bobby Garwood ersichtliche, zutiefst perfide Umgang des Machtapparats in Washington mit den eigenen "Kriegshelden" stellt einen unmißverständlichen Beweis für die absolute Menschenfeindlichkeit des kapitalistischen Verwertungssystems dar, das zu bekämpfen sich nach Meinung Jonathan Neales lohnt.

16. Dezember 2004


Jonathan Neale
Der amerikanische Krieg
Vietnam 1960-1975
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning
Originaltitel "The American War - Vietnam 1960-1975"
Neuer ISP Verlag, Köln 2004
ISBN 3-89900-111-7
Atlantik Verlag, Bremem 2004
267 Seiten
ISBN 3-926529-17-2