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REZENSION/280: Werner Rügemer - arm und reich (Soziologie) (SB)


Werner Rügemer


arm und reich

Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Band 3



Am Beispiel des Publizisten Werner Rügemer kann man das Verhältnis von offiziell erhobenem Anspruch auf journalistische Aufklärung und praktizierter Mißachtung derselben exemplarisch studieren. Obwohl der Kölner Autor mit seinen Arbeiten zur ruinösen Praxis des Cross Border Leasing in deutschen Kommunen, zur Branche der kommerziellen Politikberatung, zur Ausschnüffelung von Arbeitslosengeld-II-Empfängern, zum nicht nur Kölner Klüngel in all seinen schillernden Farben korruptiver Verwesung oder zu den Aktivitäten jener berüchtigten US- Finanzinvestoren, die Gegenstand der sogenannten Kapitalismusdebatte waren, zu der kleinen Gruppe Journalisten gehört, die den Anspruch der Medien, als vierte Gewalt und demokratisches Korrektiv Einfluß auf die Machtverteilung in Staat und Gesellschaft zu nehmen, vollends erfüllt, wird ihm nicht annähernd die Unterstützung und Beachtung zuteil, die ein investigativer Aufklärer seines Formats verdient hätte.

Da es jedoch naiv wäre anzunehmen, Medien hätten in einer kapitalistischen Gesellschaft eine wesentlich andere Funktion als die der Befriedung explosiver Widerspruchslagen, gibt es keinen Grund, sich darüber zu wundern, daß Rügemer trotz seiner großen Produktivität und brisanten Enthüllungen zu den weniger bekannten politischen Autoren der Republik gehört. Bei der Verleihung renommierter Journalistenpreise wird er regelmäßig zugunsten konformistischer Repräsentativprojekte übergangen, und selbst wenn eine seiner Enthüllungen einmal für preiswürdig erachtet wird, dann ehrt man die Kolporteure, die sich ins mühsam gemachte Bett gelegt haben, wie vor zwei Jahren im Falle des vom Verband Hessischer Zeitungsverleger ausgelobten Wächterpreises der Tagespresse geschehen. Wenn Rügemer, wie im August 2003, als ihn der Verband Kommunaler Unternehmer für seine Ein-Mann-Kampagne gegen das Cross Border Leasing mit einem Preis würdigen wollte, selbst einmal ausgezeichnet werden soll, dann treten politische Gegner auf den Plan und versuchen, dies zu verhindern. In diesem Fall bedurfte es erst der Einschaltung eines Gerichts, um der ursprünglichen Entscheidung der Jury, die sie selbst revidiert hatte, wieder Geltung zu verschaffen.

Bei der diesjährigen Kapitalismusdebatte der SPD fungierte Rügemer mit einem in den WSI-Mitteilungen Januar 2005 der Hans- Böckler-Stiftung unter dem Titel "Investitionen ohne Arbeitsplätze" erschienenen Aufsatz, in dem er die Praktiken in Deutschland tätiger amerikanischer Finanzinvestoren ausführlich analysierte, gar als Pate der Ausführungen des SPD-Vorsitzenden Franz Müntefering. Was dieser jedoch unter dem Reizwort der "Heuschrecken" als parasitäres Ausbeuten deutschen Volksvermögens darstellte, unterschlug die in Rügemers Artikel umfassend dargestellte Tatsache, daß die sogenannten Investoren nur mit politischer Unterstützung der rot-grünen Bundesregierung tätig werden konnten, es sich also keineswegs um einen einseitigen Raubzug handelte.

Was Rügemer als Folge des neoliberalen Strukturwandels in die Nähe einer systemischen Entwicklung kapitalistischen Wirtschaftens rückt, an dem schließlich nicht nur besonders rücksichtslose, nach schnellem Profit zulasten der Lohnabhängigen strebende Abwracker florierender Unternehmen teilhaben, erhielt in der Instrumentalisierung des Themas durch die SPD eine nationalistische Schlagseite, die auf ihn schließlich in Form des unausweichlichen Antisemitismusvorwurfes zurückschlug. Anlaß war sein Artikel "Die Plünderer sind da" in der Mai-Ausgabe der IG Metall-Zeitschrift Metall. Dabei war Rügemer weder für die inkriminierte Wortwahl "Die Aussauger" noch für die Illustration, die US-Investoren als blutgierige Mücken karikierte, verantwortlich. Was die Redaktion des Monatsmagazins als reißerischen Aufmacher gedacht hatte, löste von interessierter Seite her einen Sturm der Entrüstung aus, der die Kritik an den ruinösen Praktiken der Finanzinvestoren gleich mit vom Tisch fegen sollte.

Die Beispiele zeigen, daß der Kölner Journalist vorzugsweise empfindliche Themen berührt, die direkt unter der Oberfläche des schönen Scheins gesellschaftlicher Befriedung darauf warten, ihre widrige Wirkung zu entfalten. Das gilt auch für die kleine Schrift "arm und reich". Diese Grundachse sozialer Diskrepanz scheint eine so alltägliche Lebensrealität zu sein, daß der krasse Mißstand einer Koexistenz exorbitanten Wohllebens und ein würdiges Leben ausschließender Armut kaum mehr ins Auge fällt. Um so mehr gilt dies für den Umstand, daß das Nebeneinander sozialer Unterschiede ein Produkt administrativer Erhebungen ist, die die hochgradige Interdependenz, die in dieser Polarisierung wirksam wird, verharmlosen.

Rügemer hat einen grundsätzlichen Ansatz der Untersuchung gewählt, indem er betont, "dass es keine Aufeinanderfolge von Empirie und philosophischer Vertiefung gibt, sondern dass sich die philosophische Klarheit und Wahrheit bereits in der Empirie beweist". Dem hohen Anspruch der a priori vorgenommenen kritischen Positionierung und der daraus resultierenden Unmittelbarkeit der Erkenntnis gemäß geht es ihm darum, Aufklärung über ein "Dauerproblem menschlichen Zusammenlebens", ja eine "Menschheitsfrage" (S. 8) zu erlangen. Dieses Vorhaben ist, wenn man die desaströsen Zustände zur Kenntnis nimmt, unter denen Millionen von Menschen ihr Leben im wahrsten Sinne des Wortes fristen müssen, so es doch armutsbedingt meist sehr viel kürzer ist als die durch Wohlstand gedehnte Lebensspanne, keineswegs zu ambitioniert. So zeigt die Selbstverständlichkeit, mit der selbst in der reichen Bundesrepublik eine halbe Million Menschen Suppenküchen besuchen müssen, um satt zu werden, während es einem Besucher aus den Elendszonen des Südens beim Anblick des Wohlstands der meisten deutschen Haushalte die Sprache verschlüge, daß sich an der Akzeptanz sozialer Mißstände seit Jahrtausenden nichts geändert hat, obwohl zumindest der europäische Teil der Menschheit in den letzten 200 Jahren durch humanistische Aufklärung und egalitäre Werte einen rasanten Wandel zum Besseren vollzogen haben soll.

Rügemer nimmt seine Untersuchung mit einer gründlichen Analyse der Bemessung von Einkommen und Vermögen auf und gelangt dabei unter anderem zu dem Schluß, daß das Ausmaß der weltweiten Armut heruntergespielt wird und die politisch gewollte Korrumpierung der Maßstäbe zur Folge hat, "dass es der Menschheit unmöglich gemacht wird, sich ein wahrheitsgemäßes Bild von sich selbst zu machen". Der Autor fordert, daß "aus universellem, menschenrechtlichem Anspruch ohnehin ein einziges Armutskriterium gebildet werden" müsse. Aufschluß über das ganze Ausmaß der Armut jedoch wollen "die Globalisten, die die gegenwärtig vorherrschende Form der kapitalorientierten Globalisierung vorantreiben, überhaupt nicht" (S. 15).

Es geht eben um die Ausbeutung ökonomischer Gefälle, die mit der im Verhältnis zu den tatsächlich erbrachten volkswirtschaftlichen Leistungen überdimensionierten Aufblähung vorhandener Geldmengen Expansionsmöglichkeiten simulieren sollen, indem die zunehmende Deckungslosigkeit des Kapitals durch die wachsende Erzeugung von Mangel unter den Lohnabhängigen, Arbeitslosen und sonstigen Empfängern von Versorgungsleistungen kompensiert wird. Da es viel mehr Geld gibt, als sich in Form von Gütern und Leistungen realisieren ließe, rückt das simple Überleben und seine Organisation durch die Inhaber der administrativen und finanziellen Verfügungsgewalt immer mehr in den Mittelpunkt der Wertbestimmung.

So liefert Rügemer anhand der Forderung des Urvaters wirtschaftsliberaler Theorie, Adam Smith, die "Arbeitenden auf die unmittelbaren Bedürfnisse" (S. 24) zu reduzieren und sie nicht für ihre Leistung zu entlohnen, sondern ihnen lediglich "eine nach jeweiligem Kräfteverhältnis auszuhandelnde, möglichst geringe Überlebensration" zuzugestehen, "einen wissenschaftlichen Begriff der Armut", der sich nicht daran bemesse, "dass ein Reicher viel besitzt, also ein hohes Einkommen oder viele Grundstücke hat". Vielmehr bestände Reichtum darin, "über das Ergebnis der Arbeit anderer und damit über eine ständige Gewinnquelle verfügen zu können, und den anderen Arbeitenden nicht den Gegenwert der Arbeit, sondern nur einen Beitrag zum unmittelbaren Überleben zahlen zu müssen" (S. 25).

Rügemer greift damit über die traditionelle Armuts- und Reichtumssoziologie, die sich auf statistische Erhebungen beschränkt, welche in ihren Voraussetzungen und Meßmethoden ohnehin fragwürdig, da häufig interessenbedingt verzerrt sind, hinaus und stellt das ökonomische Gewaltverhältnis, das die großzügigen Lebens- und Konsummöglichkeiten der Reichen mit den Entbehrungen der Armen untrennbar miteinander verknüpft, in den Mittelpunkt der Kritik. Dieses Verhältnis sei von einer dialektischen Verlaufslogik bestimmt, da nach Marx das Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums und der Produktivkraft der Arbeit auch das Anwachsen der arbeitslosen und ausgegrenzten Elendsbevölkerung bedingt. Wie sehr diese Verknüpfung zutrifft, läßt sich am tatsächlichen Ergebnis des neoliberalen Strukturwandels studieren, da die Begünstigung des Kapitals gerade nicht, wie behauptet, zur Schaffung von Arbeitsplätzen führt, sondern zur Vernichtung derselben.

Obwohl es laut Rügemer bei den "Begriffspaaren 'arm-reich' und 'Armut-Reichtum' (...) im Kern um das dialektische Verhältnis von Arbeit und Kapital geht", hält er deren Verwendung für "nicht nur sinnvoll, sondern notwendig", da die meisten Armen "nicht arm wegen eines unmittelbaren Lohnarbeitsverhältnisses oder einer nachfolgenden Arbeitslosigkeit, sondern nur infolge einer Fernwirkung 'des' Kapitalismus" seien. Rügemer geht es um einen umfassenderen, den Bedingungen der Globalisierung gerecht werdenden Armutsbegriff, der sich nicht nur in der kapitalistischen Moderne verorten läßt, sondern eine 4000jährige Geschichte aufweise, die "in der gegenwärtigen Menschheit angehäuft" ist und "als ein scheinbar normal gewordener Alptraum auf uns" (S. 31) laste.

So spannt der Autor den Bogen der Aufklärung von der Verklärung der griechischen Philosophenrepubliken als Hort demokratischer Emanzipation, in denen eine vergeistigte Elite die Grundlagen europäischer Kultur auf dem Rücken einer Mehrheit von allen Bürgerrechten ausgeschlossener Sklaven und Bauern legte, bis zur neoliberalen Propaganda der Gegenwart. Er demontiert den Mythos von der leistungsgerecht bezahlten Arbeit, erinnert an den Zusammenhang des Reichtums westlicher Demokratien mit den Elendsbedingungen in den Ländern des Südens, klärt über die Bedeutung der Geheimhaltung des Vermögens reicher Menschen für dessen Zustandekommen und Bestandssicherung auf und schildert die Bedingungen einer international vernetzten Kapitalakkumulation, die mithilfe von Insiderwissen, Steuerflucht, Korruption, Überschuldung und anderen Formen offiziell geächteter Vorteilsnahme beweist, daß sich der Staat keineswegs in einem antagonistischen Verhältnis zu den Kapitaleignern bewegt.

Rügemer verzichtet nicht darauf, die Beteiligung der Armen an der Fortschreibung sozialer Polarisierung zu erwähnen. Indem sie dem Traum vom Reichtum auf welch illusionäre und simulative Weise auch immer nachjagen, indem sie den Erfolg der Reichen bewundern und sich selbst als Verlierer bezichtigen, anstatt die systemischen Voraussetzungen für ihre Lage in Frage zu stellen, bestätigen sie das ihren delinquenten Status zementierende ökonomische Gewaltverhältnis in seiner Gültigkeit. Die Klassengrenzen determinierende Konkurrenz sich in ihren Arbeitsbedingungen und Lebenschancen miteinander vergleichender Menschen ist wesentlich für das Verständnis des Scheiterns sozialrevolutionärer Bewegungen. Solange der Sklave nicht frei, sondern Herr sein will, reproduziert er das Verhängnis sich einander in Raubabsicht gegenüberstehender Menschen.

Der wesentliche Ertrag dieser programmatischen Schrift liegt in der Aufklärung über den interessenbedingten, Dogmen wie den leistungsbezogenen Charakter jeglichen Einkommens und die Selbstverständlichkeit der gegebenen sozialen Polarisierung widerlegenden Charakter des sozialökonomischen Verhältnisses. Rügemer schließt mit einem Plädoyer für "Reichtum als relative Unabhängigkeit von Natur- und Gesellschaftskatastrophen", den er "in der freien Assoziation, die auch die Assoziation oder Gemeinschaft der Freien ist", ansiedelt. Allerdings meint er damit nicht die Überwindung jeglichen Eigentums, sondern eine Form des gemeinschaftlichen Reichtums innerhalb einer "mit den dafür notwendigen Instrumenten bewaffneten, gesellschaftlichen Eigentumsordnung" (S. 47).

Inwiefern man Rügemers Geschichtspositivismus, mit dem er diese Erfordernis begründet, adaptieren will, muß jeder Leser selbst entscheiden. So spricht der Autor sich unter Verweis auf die Geschichte dafür aus, "die Gewalt der Reichen gegen die Armen", die "weltweit viele Formen" und in ihrer "gegenwärtig vorherrschenden Form (...) längst keine Legitimation mehr" habe, "abzuschaffen - mit Hilfe der dafür notwendigen Gewalt" (S. 48). Das sollte unter anderem zu einer radikalen Umgestaltung des Verhältnisses von Kapital und Arbeit führen, denn der Autor erklärt abschließend:

Lohn und Gehalt sind mehr denn je im Wesen nur Fürsorge, sie sind unsichere und jederzeit widerrufbare Zugeständnisse, genauso wie die durch politischen Druck bewirkte Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Staat nur eine verkappte Form der vor- bzw. nachläufigen Fürsorge sind. Es ist unter der menschlichen Würde, Freiheit und Möglichkeit, dass die Mehrheit der Lebendigen, gefangen in der Herrschaft des Reichtums, für ewig auf Fürsorge angewiesen sei. (S. 48)

Werner Rügemers Schrift gibt viele Anstöße zum Nachdenken über Fragen von gleichsam menschheitsgeschichtlicher Tiefe wie brennender Aktualität. In ihrer Kürze bietet sie einen Einblick in die theoretischen Grundlagen und menschlichen Motive, die den investigativen Arbeiten dieses rührigen Gesellschaftskritikers zugrundeliegen und ihn antreiben.


Werner Rügemer
arm und reich
Bibliothek dialektischer Grundbegriffe, Band 3
transcript Verlag, Bielefeld 2003
49 Seiten
ISBN 3-933127-92-0