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REZENSION/301: Pesek - Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika (SB)


Michael Pesek


Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika



Das militärische Engagement der Bundesrepublik Deutschland in Afrika hat in den letzten Jahren unübersehbar zugenommen. Die auf die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gegründete Zurückhaltung wurde Zug um Zug aufgegeben. Es fällt auf, daß die Bundeswehr in den letzten Jahren nicht mehr zur Hungerhilfe, sondern nur noch im Rahmen des weltweiten Anti-Terrorkriegs und internationaler Befriedungsmissionen zum Einsatz gekommen ist. Kenia, Dschibuti, Demokratische Republik Kongo sowie Sudan sind die jüngsten Stationen deutscher Beteiligung an Militäroperationen in Afrika. Und es verdichten sich die Hinweise, daß "Deutschland" - deutsche Werte in Politik, Wirtschaft und Kultur - demnächst auch in der westsudanesischen Provinz Darfur und im rohstoffreichen Ostkongo verteidigt wird, was Anlaß zu der Vermutung gibt, es dämmere eine neokoloniale Phase herauf.

Womöglich werden künftige Historiker die verschiedenen Entwicklungen und Eckpunkte gegenwärtigen deutschen Einflußstrebens in Afrika genauso detailliert herausarbeiten, wie dies Michael Pesek für spezifische Aspekte der frühkolonialen Epoche Deutschlands in Ostafrika im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts unternommen hat. Insofern bietet das Buch "Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika" aus dem Campus-Verlag über seinen rein wissenschaftlich-informativen Gehalt hinaus den Lesern die Möglichkeit eines Vergleichs von damals zur heutigen Zeit, in der selbstverständlich keine Expeditionen von Abenteurern wie Carl Peters mehr stattfinden - dieser war mit der Absicht ins Innere Afrikas vorgestoßen, territoriale Ansprüche zu reklamieren -, in der es aber diplomatische Vorstöße seitens deutscher Regierungsmitglieder gibt, die auf ihre Weise ebenfalls bestrebt sind, deutschen Interessen in Afrika zur Durchsetzung zu verhelfen.

Auf der Grundlage einer detaillierten Recherche auch in vielen Originalquellen, die das Bundesarchiv Berlin-Dahlem über die deutsche Kolonialpolitik verwahrt, hat Pesek diese als Dissertation vorgelegte Arbeit neben Einleitung und Schluß in sechs Oberkapitel gegliedert, die jeweils aufeinander aufbauend Mittel und Methoden der Herrschaftsentwicklung beschreiben. Dabei folgt der Autor nicht der mitunter etwas altbacken bleibenden Geschichtsforschung, die sich auf die Schilderung von Truppenstärke, Marschierordnung und Verlauf der Vorstöße beschränkt - solche Faktizität wird nicht ausgespart, aber Pesek stellen sich andere Fragen -, sondern er will zum einen "historische Konfigurationen der Beziehung zwischen Raum und Herrschaft ... jenseits der westlichen Welt" und zum anderen "interkulturelle und intertemporale Vergleiche dieser unterschiedlichen Konfigurationen" (S. 15) nachspüren und aufzeigen.

Die koloniale Herrschaft Deutschlands wurde nicht mittels einer Invasion und anschließend flächendeckenden Besetzung Ostafrikas etabliert, sondern erfolgte auf anderen Wegen und konnte sich dabei auf Korrespondenzen der Einwohner stützen, genauso wie umgekehrt afrikanische Verhaltensweisen von Deutschen adaptiert wurden. Von dieser gegenseitigen Beeinflussung handelt das vorliegende Buch.

Im ersten Kapitel über den "interregionalen Karawanenhandel des 19. Jahrhunderts" zeigt Pesek zunächst auf, daß mit der Ostafrika vorgelagerten Insel Zanzibar bereits ein traditioneller Handelsstützpunkt für arabische und indische Kaufleute bestand und daß diese regelmäßig Karawanen ins Innere Afrikas sandten, lange bevor die Deutschen begannen, ihr am Verhandlungstisch "erworbenes" Territorium in Besitz zu nehmen. Wobei Besitz, darauf legt der Autor großen Wert, anfangs kaum über jene kurze Zeitspanne hinausreichte, den eine Expedition für ihre Reise durch die aus ihrer Sicht unerschlossene Wildnis Afrikas benötigte. Diese Frühphase der kolonialen Herrschaftsentwicklung könnte man mit der Frage charakterisieren: Warum sollten sich die afrikanischen Stämme unterworfen fühlen, wenn die Kolonisierenden jahrelang nichts von sich hören oder sehen ließen?

Dadurch hat sich selbstverständlich nicht erübrigt, daß das heutige Tansania und seine angrenzenden Regionen, die einst als Deutsch-Ostafrika firmierten, zu einem späteren Zeitpunkt mit großer Brutalität und unter rücksichtslosem Einsatz und Vernutzung afrikanischer Söldner unterworfen wurden. So kurz die deutsche Kolonialzeit auch währte (1885-1914), aus der Sicht der niedergerungenen Völker machte es keinen nennenswerten Unterschied, ob ihre "Herren" deutsch sprachen oder wie andernorts in afrikanischen Kolonien englisch, französisch, portugiesisch etc. Aber den Anfang der deutschen Kolonialisierung bestimmten weniger Bajonett und Patronen, sondern Handel und Verträge, theatralische Zeremonien und prunkvolle Uniformen.

Der Autor setzt im zweiten Kapitel - "Im Morgengrauen der Kolonialherrschaft: Europäische Reisende" - seine Untersuchung mit der Adaption der etablierten Karawanenkultur durch die ersten deutschen Reisenden fort. Für sie war das Wissen der Händler und Karawanenführer unverzichtbar, und auch "unerläßlich für die Eroberung der Kolonie als Vorbedingung für die Errichtung einer bürokratischen Herrschaft der Kolonisierenden" (S. 36), wie Pesek schreibt, denn "oftmals begann Kolonialisierung als eine Einverleibung lokaler Praktiken in die Diskurse der europäischen Reisenden" (S. 37). Dieser Erkenntnis folgend befaßt sich der Autor im dritten Kapitel, das er mit "Von der Metropole nach Ostafrika" überschreibt, schwerpunktmäßig mit der Usagara- Expedition von Carl Peters im Jahre 1884, wobei Pesek sich nicht damit zufrieden gibt, diese pauschal als Beginn der deutschen Kolonialherrschaft in Ostafrika zu bezeichnen. Er will es genauer wissen, weil:

Die Usagara-Expedition von Peters, der wie ein Forschungsreisender reiste und handelte und wie ein Kolonisierender dachte, markiert einen Moment, in dem die Praxis der Forschungsreisenden in eine koloniale umschlug.
(S. 37)

Das Verbindende zwischen Forschung und Kolonialisierung liegt nach Ansicht des Autors hauptsächlich in der Expedition. Diese Aussage läßt den einfachen Umkehrschluß zu, daß der Kolonialisierung Expeditionen von Forschenden vorausgingen - was manche Stämme zu ahnen schienen, denn sie traten allen Fremden, ohne sich auf deren Handelsabsichten einzulassen, feindlich entgegen. Und tatsächlich beweist die Geschichte der Kolonialisierung des dunklen Kontinents, daß Forscher und Abenteurer mit ihren teils detaillierten Reisebeschreibungen und kartographischen Feldskizzen wichtige Vorarbeit für die spätere Okkupation leisteten - ob gewollt oder ungewollt, spielt dabei keine Rolle, da die Früchte ihrer Arbeit zum gleichen Resultat führten, das der Unterwerfung. Wenn Pesek dennoch schreibt, daß "der Reisende kam und ging" und "nur wenige Spuren seiner Anwesenheit" (S. 102) hinterließ, dann gilt das für den unmittelbaren Zeitrahmen, nicht jedoch für die Konsequenz aus den anfänglich sporadischen Kontakten zwischen den Reisenden und der ursprünglichen Bevölkerung. Diese Begegnungen waren eine unverzichtbare Voraussetzung für das koloniale Projekt.

"Inseln von Herrschaft" ist das anschließende Kapitel des Buchs überschrieben, und wie der Titel schon ahnen läßt, ist damit die präkoloniale Phase abgeschlossen. Die deutschen Eroberer haben inzwischen militärisch gesicherte Stationen errichtet und beginnen mit der Entsendung von Strafexpeditionen gegen Völker, die sich ihnen widersetzen. Trotz der Qualifizierung der Herrschaftsstrukturen während dieser Zeit trifft die Vorstellung einer abgeschlossenen territorialen Eroberung nicht zu, allzu gering war die Zahl der deutschen Soldaten, die ohne die Aufstellung von 'Askari'-Heeren mit Söldnern aus Sudan und Ägypten sowieso kaum Chancen zur Eroberung und Besetzung des Gebiets gehabt hätten. Um so stärker versuchten die Kolonisierenden zu imponieren, also die Einheimischen so sehr zu beeindrucken, daß die Erinnerung an den Reisenden länger präsent blieb. "Dieses Imponieren hatte Dimensionen des Terrors und der Theatralität" (S. 327), resümiert Pesek, dessen Herkunft aus der Theaterwissenschaft an der einen oder anderen Stelle in der Bemühung durchschimmert, die Entstehung der Kolonie Deutsch- Ostafrika mit anderen Augen zu sehen.

Im Kapitel "Die Grenzen des kolonialen Staates" ist das militärische Projekt bereits etabliert. Nun beginnt die innere Festigung, also die Bildung administrativer Strukturen, die gewaltsame Durchsetzung von Recht sowie erste Versuche, Profit aus der "Investition" der kolonialen Unterwerfung zu ziehen. Im sechsten Kapitel schließlich widmet sich Pesek der Beteiligung der Einheimischen an der Kolonialisierung. Unter dem Titel "Afrikaner als Intermediäre kolonialer Herrschaft" wird die "Disziplinierung der 'askari'", und auch die Bereitschaft von Trägern, in den Dienst der Deutschen zu treten, sowie die Adaption deutscher Verhaltensweisen durch die afrikanischen Führer beschrieben. Im Jargon des Historikers geht es hierbei um die "koloniale Subjektbildung der Kolonisierenden und Kolonisierten" (S. 38).

Für die Lektüre dieses Buchs ist es wichtig zu wissen, daß es sich um eine wissenschaftliche Arbeit handelt. Dazu gehört, daß der Autor es nicht als seine Aufgabe ansieht, die deutsche Kolonialpolitik zu kritisieren oder einen politischen Gegenentwurf vorzustellen. Weder verurteilt noch befürwortet er sie, die persönliche Meinung bleibt außen vor. Vielmehr beschreibt der Afrikanist, wie die Kolonialisierung ablief, und gibt dabei selbstverständlich beide Seiten wieder, wie an folgendem Beispiel gezeigt werden soll:

Während die Deutschen ihren Terror als den Beginn von Ruhe und Ordnung beschrieben, schilderten die Afrikaner diese Zeit als eine des Chaos, als eine Zeit, in der Ereignisse gleich unbeherrschbaren Naturgewalten die hergebrachte Ordnung der Dinge bedrohten und in der sie gezwungen waren, die Orte ihrer Zivilisation, die Dörfer und Residenzen der Chiefs, zu verlassen.
(S. 204)

"Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika" erfüllt zweifellos die wissenschaftlichen Kriterien, die an solch ein Forschungsgebiet gestellt werden. Eine leicht verdauliche Behandlung des Themas sollte indessen nicht erwartet werden. Auch werden keinerlei Bezüge zur heutigen deutschen Ostafrikapolitik hergestellt. Dennoch bekommt der Leser eine "intellektuelle Lupe" an die Hand, mit der er das allmähliche Wachsen der deutschen Kolonialpolitik in Ostafrika und die dabei zur Wirkung gelangten vielschichtigen Mechanismen aus der Geschichtschreibung hervorheben und mit heutigen politischen Vorgängen abgleichen kann.


Michael Pesek
Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika
Expeditionen, Militär, Verwaltung seit 1880
Campus Verlag, Frankfurt/New York, 2005
354 Seiten
ISBN 3-593-37868-X

3. Februar 2006