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REZENSION/318: David Thomson - Seehundgesang (Mythen und Legenden) (SB)


David Thomson


Seehundgesang

Irische und schottische Legenden



The sea, O the sea,
A ghrá gheal mo chroí,
Long may it remain between England and me.
And the poor ol' Scots,
Sure they'll never be free,
Thank God we're surrounded by water.

Die Iren mögen kein auf maritimer Macht gestütztes Weltreich errichtet haben wie die Engländer, dennoch hat das Meer im Leben der Menschen auf der grünen Insel und ihrer keltischen Verwandten in Schottland immer eine sehr große Rolle gespielt, wie das zitierte humoristische Volksliedchen zeigt. Schon die Formulierung "A ghrá gheal mo chroí" - wortwörtlich "Reine Liebe meines Herzens" - zeugt von der Ehrfurcht, welche die Iren immer den ihr Land umgebenden Gewässern, der rauhen Irischen See im Osten und dem majestätischen Nordatlantik in den anderen drei Himmelsrichtungen, entgegengebracht haben.

Seit der großen Kartoffelpest Mitte des 19. Jahrhunderts bis vor wenigen Jahren war die Seefahrt für die meisten Iren - von den Werftarbeitern Belfasts einmal abgesehen - mit der Trauer über die eigene Auswanderung oder die der lieben Freunde und Familienangehörigen verbunden. Welche herzzerreißenden Szenen haben sich nicht millionenfach über die Jahrzehnte an den Kais von Dún Laoghaire (früher Queenstown), dem Dublin vorgelagerten Hafen, an dem die Englandfähre bis heute ablegt, und von Cobh (früher Kingstown) an der Bucht von Cork, von wo aus früher die großen Atlantikdampfer Richtung Nordamerika in See stachen, abgespielt. In letzter Zeit gibt es jedoch Bemühungen, die positiven, fast in Vergessenheit geratenen Seiten des Verhältnisses der Iren zum Meer wieder in den Vordergrund zu rücken. Hierzu gehört zum Beispiel das Anfang der achtziger Jahre erstmals erschienene, aufsehenerregende Buch "The Atlantean Irish" von dem Autor und Filmemacher Bob Quinn, der die zunächst seltsam klingende, jedoch nicht ganz von der Hand zu weisende These vertritt, die "gälischen" Bewohner von Irland, Schottland und Wales seien entgegen bisheriger Gelehrtenmeinung gar keine vom europäischen Festland übergesiedelten "Kelten" gewesen, sondern ein Seefahrervolk, dessen Wurzeln in Nordafrika lägen.

Nun, was die Ursprünge der Iren betrifft, so findet sich in der traditionellen Überlieferung, diese seien die Kinder des König Miles, die in grauer Vorzeit von Nordwestspanien, dem heutigen Galizien, mit zahlreichen Schiffen gekommen seien. Zu jenem Zeitpunkt soll die Insel jedoch vom mythischen Volk der Tuatha Dé Danaan bewohnt gewesen sein, die nicht freiwillig den eines Tages aufgetauchten Eindringlingen Platz machen wollten. Also kam es zu einem schichsalhaften Wettstreit. Die Tuatha Dé Danaan wendeten ihre Zauberkünste an und erzeugten vor der Küste einen gewaltigen Sturm. Setzten die Milesianer nur einen Fuß an Land, dürften sie bleiben. Sollten sie es nicht schaffen, müßten sie nach Spanien zurücksegeln. Doch einem Sohn von Miles sollte der lebensgefährliche Sprung ans Ufer gelingen, woraufhin die Insel den Name seiner Schwester Éire bekam, während sich die Tuatha Dé Danaan in die Feenberge und Hünengräber zurückzogen und seitdem nur als Leprechauns und sogenanntes "kleines Volk" in Erscheinung treten.

Über das Verhältnis der gälischsprechenden Bevölkerung an den Atlantikküsten Irlands und Schottlands zu den aus ihrer Sicht verzauberten Robben berichtet David Thompson in seinem wunderschönen Buch "Seehundgesang - Irische und schottische Legenden". Der 1914 in Indien geborene Sohn einer britischen Offiziersfamilie verbrachte krankheitsbedingt seine Jugend fast ausschließlich bei den Großeltern in der Nähe der schottischen Nordseestadt Nairn. Als Mitarbeiter der British Broadcasting Corporation (BBC), die nach dem Zweiten Weltkrieg Dichter und Schriftsteller aussandte, um mündliche Überlieferungen der einfachen Bevölkerung aufzuzeichnen und zu sammeln, bereiste er Ende der vierziger Jahre die am Atlantik liegenden Küstenstriche und vorgelagerten Inseln des Vereinigten Königreichs und der Republik Irland. Eine Reportage über diese Reisen erschien 1954 unter dem Titel "The People of the Sea". Im Jahr 2001 ist dieser Klassiker der modernen Anthropologie in Edinburgh neu verlegt und mit einem Nachwort von Thomsons Bekanntem und Bewunderer, dem irischen Literaturnobelpreisträger Seamus Heaney, versehen worden. Die neue Ausgabe "The People of the Sea - Celtic Tales of the Seal-Folk" hat der Hamburger Verlag Mare in einer äußerst gelungenen Übersetzung von Eike Schönfeld und in einer in jeder Hinsicht - Umschlag, Druck, Papier, Typographie, Karten, Gesangstexte und Noten - liebevollen Form aufgelegt.

Mit seinen leicht erzählten Ausführungen nimmt Thomson den Leser nicht nur in die Welt der keltischen Legenden und Mythen, sondern auch noch zurück in eine Zeit in Großbritannien und Irland mit, in der die letzten Reste der präindustrialisierten Gesellschaft der Clans, der Fischer und der Kleinbauern noch existierten. In den Katen und Kneipen, wo Thomson seiner "Seehund-Manie" nachgeht, gibt es keinen Strom und kein Gas, keinen Fernseher und nur in seltensten Fällen ein Radio. Seine Gesprächspartner, ihre Frauen und ihre Kinder sind in der Regel in materieller Hinsicht bettelarm, jedoch in den Gebräuchen und Überlieferungen sowie der Achtung vor den jenseitigen Aspekten und Möglichkeiten der menschlichen Existenz - Stichwort zweites Gesicht - überaus reich. Nach eigenen Angaben schätzte sich der 1988 verstorbene Thomson glücklich, "gerade noch rechtzeitig" gekommen zu sein, "um die Erzählungen und Gesänge der vorchristlichen Kultur zu hören". (S. 9)

Mit sehr viel Feingefühl begegnet Thomson als "Fremder" aus England den Menschen in den irischen Grafschaften Galway, Kerry und Mayo sowie auf den schottischen Hebriden, Shetland- und Orkney-Inseln. Der Lohn seines respektvollen, wißbegierigen Umgangs mit den Einheimischen sind fürwahr phantastische Geschichten, die man eigentlich nur unter seinesgleichen und im kleinen Kreise erzählte: von Männern, die Seehundsweibchen zur Frau nahmen; von Robben, die sich für den gewaltsamen Tod ihrer Artgenossen an dem Täter rächten; von Besuchen in unterseeischen Städten; von heldenhaften Auseinandersetzungen zwischen Menschen und alten keltischen Göttern; von Seehunden, welche das Leben von Menschen gerettet haben; von Gestalten, die mal auf dem Land als Mensch, mal im Wasser als "Selchie" oder Kegelrobbe leben konnten. Dem, der dieses Buch in die Hände bekommt, sind traumhafte Lesestunden gewiß.


David Thomson
Seehundgesang
Irische und schottische Legenden
Aus dem Englischen (Originaltitel "The People of the Sea
- Celtic Tales of the Seal-Folk) von Eike Schönfeld
Mare Buchverlag, Hamburg, 2005
318 Seiten
ISBN 3-936384-38-X

30. März 2006