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REZENSION/376: Laurenz J. Wurzinger et al. - Duale Reihe Anatomie (Medizin) (SB)


Laurenz J. Wurzinger et al.


Duale Reihe Anatomie



Der aus dem Griechischen entlehnte Begriff "Anatomie" bedeutet "zerschneiden" und beschreibt damit die zentrale Methode, derer sich die Lehre vom Bau der Körperteile bedient. Mit Hilfe dieser "Kunst des Zergliederns" versuchte man seit alters her Kenntnisse über den Funktionszusammenhang der Gewebe zu erhalten. Doch die Begrenztheit der Vorgehensweise liegt in der Methode selbst. Die Untersuchung einer toten aus dem körperlichen Zusammenhang gerissenen Struktur kann lediglich dazu beitragen, Unterschiede in den Geweben zu beschreiben und zu benennen, nicht jedoch dazu, die wesentlichen Merkmale dessen, was ihre Funktionalität im lebenden Organismus ausmacht, zu erfassen. Denn zum Zeitpunkt der Analyse sind diese bereits irreversibel verloren gegangen.

Schon in den ersten Semestern werden Studenten der Medizin mit dem umfassenden Gebiet der Anatomie und der damit verbundenen Denk- und Herangehensweise vertraut gemacht. In kürzester Zeit müssen sie sich neben den Grundlagen in der Biochemie und Physiologie die Namen der zahllosen anatomischen Strukturen aneignen, um die vorklinischen Semester erfolgreich abschließen zu können.

Wer jemals einen Medizinstudenten kurz vor einer Anatomieprüfung ohne Voranmeldung besucht hat, dem wird das Tohuwabohu in der "Studierstube" sicher noch in guter Erinnerung sein: ein oder zwei Lehrbücher, sowie diverse Notizzettel auf dem Schreibtisch, darüber hinaus auf dem Bett, dem Fußboden oder der Fensterbank weitere aufgeschlagene Lehrbücher, Atlanten und Karten sowie die unübersehbaren Reste der unverzichtbaren Nervennahrung, seien es nun Papiere von Schokoriegeln, eine angebrochene Kekstüte oder der volle Aschenbecher. Wie froh wäre manch einer gewesen, hätte er über ein Lehrbuch verfügt, das auch nur die Hälfte dieses Chaos verhindert hätte.

Jeder, der selbst einmal mit einer so intensiven Lernsituation konfrontiert war, wird bestätigen, wie sinnvoll es ist, nicht nur die Fakten und Namen zu pauken, sondern sich die funktionellen Zusammenhänge klar zu machen, soll denn der gelernte Stoff länger als nur für die bevorstehende Prüfung im Gedächtnis haften bleiben. Viele der herkömmlichen Bücher liefern jedoch lediglich den Sachverhalt des jeweiligen Fachgebietes, ohne die traditionellen Fachgrenzen jemals zu überschreiten. Insbesondere in der Anatomie ist es üblich, neben einem kurzgefaßten Kompendium, das auf eine Prüfung so gerade eben oder eben auch gerade nicht ausreichend vorbereitet, ein etwas umfangreicheres, meist dreibändiges Lehrbuch der Anatomie sowie einen ebenfalls dreibändigen Anatomieatlas zum gezielten Nachschlagen bereitliegen zu haben. Stößt man darüber hinaus beim Lernen auf eine Frage, auf die nur das Histologie-, Physiologie- oder Biochemiebuch eine Antwort geben kann, ist das oben beschriebene Szenario komplett.

Eine wirklich sinnvolle Neuerung auf dem Markt der zahllosen Anatomiebücher und -atlanten ist das im Oktober 2006 im Thieme Verlag erschienene Buch mit dem schlichten Titel "Anatomie". Es gehört zu den Lehrbüchern der "Dualen Reihe", die sich in zahlreichen klinischen Fächern bereits bewährt haben. Das Konzept besteht in der Kombination eines ausführlichen Haupttextes mit einem integrierten Kurzlehrbuch am Seitenrand, welches zur raschen Orientierung oder zur Wiederholung des bereits Gelernten genutzt werden kann.

Der übersichtliche, weil einheitliche Kapitelaufbau beginnt jeweils mit der funktionellen Bedeutung einer anatomischen Struktur. Dieser Kunstgriff vereinfacht das Lernen der zahllosen anatomischen Details, die in den meisten herkömmlichen Lehrbüchern zunächst als Fakten präsentiert werden, bevor näher auf die Funktion und oder die Bedeutung einzelner Gewebe eingegangen wird. Damit berücksichtigt das Konzept dieses Buchs die Tatsache, daß einmal verstandene Funktionszusammenhänge leichter und länger behalten werden können, als bloß auswendig gelerntes lexikalisches Wissen.

Neben dem funktionellen Verständnis wird als weitere Neuerung auch die Klinikrelevanz in den Mittelpunkt gerückt. Dies ist nicht zuletzt den Anforderungen durch die Novellierung der Approbationsordnung für Ärzte geschuldet, die eine wesentlich stärkere Ausrichtung der vorklinischen Lehrinhalte an Aspekten, die für den klinischen Alltag wichtig sind, fordern.

Der erste Eindruck beim Aufschlagen des Buchs liefert ein recht buntes Bild, das sich aus zahllosen anatomischen Abbildungen, bunt umrahmten Kästen und verschiedenfarbiger Schrift mit vielen fett hervorgehobenen Begriffen auf rosa und weiß hinterlegtem Grund zusammensetzt. Doch schon auf den zweiten Blick ordnet sich diese Vielfalt zu einem nach ausgeklügeltem System sinnfällig strukturierten Ganzen, in dem man sich ohne lange Einarbeitungszeit rasch zurechtfindet. So gibt es die übersichtlich beschrifteten anatomischen Abbildungen, rosa umrahmte Definitions- und Merkekästen, sowie zahllose grünumrahmte Kästen mit Klinik-Links und Fallbeispielen, die den Bezug zur späteren ärztlichen Tätigkeit herstellen und den häufig als äußerst trocken empfundenen Stoff interessanter und leichter verdaulich machen.

Besonders hervorzuheben sind die zahllosen Querverweise innerhalb des Buchs, die mit großer Sorgfalt die verschiedenen Kapitel verknüpfen und äußerst hilfreich sind, wenn man sich zu einem bestimmten Thema umfassend informieren möchte.

Die Qualität spiegelt sich auch in der soliden Verarbeitung des 1344 Seiten starken Lehrbuchs wider. Flexibel gebunden ist es trotz seiner Dicke und des entsprechend großen Gewichts gut zu handhaben. Es läßt sich an jeder Stelle gut aufschlagen, ohne daß die Seiten wieder von allein zurückblättern oder der Rücken so weit aufgebogen werden müßte, daß das Buch in der Mitte aufbricht und sich einzelne Seiten herauslösen.

Als besonderes Extra wurde dem Buch eine CD-Rom mit einem interaktiven Präparierkurs beigelegt, der anhand zahlreicher Fotos von anatomischen Präparaten das Erkennen anatomischer Strukturen trainiert.

Der günstige Preis von Euro 54,95 steht im Kontrast zur überdurchschnittlichen Ausstattung der Dualen Reihe Anatomie und macht sie auch für den schmalen Geldbeutel eines Studenten erschwinglich. Das einzige, was diesem didaktisch hervorragend aufbereiteten Lehrbuch fehlt und für die nächste Ausgabe zu wünschen wäre, sind zwei oder besser noch drei oder sogar vier verschiedenfarbige Lesebändchen.

26. März 2007


Laurenz J. Wurzinger et al.
Duale Reihe Anatomie, mit CD-Rom zum Präp-Kurs
Georg Thieme Verlag, 2006
1344 Seiten mit 1820 meist farbigen Abbildungen, 208 Tabellen, Euro
54,95
ISBN 3-13-136041-0
ISBN 978-3-13-136041-0