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REZENSION/401: Elizabeth Kolbert - Vor uns die Sintflut (SB)


Elizabeth Kolbert


Vor uns die Sintflut

Depeschen von der Klimafront



45 Grad Celsius in Bulgarien, weite Teile Englands überschwemmt, 40.000 Blitzeinschläge innerhalb von 16 Stunden in der chinesischen Metropole Chongqing - drei Wettermeldungen aus jüngster Zeit, die stellvertretend für die seit einigen Jahren zu beobachtende Zunahme an Extremereignissen stehen. Mit diesen Berichten wird nicht die Existenz des Klimawandels bewiesen, denn das können sie prinzipiell nicht, da zu solch einem Beweis eine größere statistische Datenmenge erforderlich wäre, aber sie passen exakt in das Bild, das Wissenschaftler für den Beginn des Klimawandels zeichnen.

Die US-Journalistin Elizabeth Kolbert schildert in dem 2006 im Berlin Verlag erstmals auf Deutsch erschienenen Buch "Vor uns die Sintflut. Depeschen von der Klimafront" auf teils reportagenhafte Art ihre Besuche unter anderem bei den Inuit in Alaska, Gletscherforschern auf Island, niederländischen Deichbauexperten und auch bei einer Schweizer Forschergruppe im Zeltlager auf dem grönländischen Eis. Außerdem hat sie mehrmals mit James E. Hansen gesprochen, einem der führenden Klimaforscher der USA, der seit Jahren vor den Folgen der globalen Erwärmung warnt und sich vor einiger Zeit erfolgreich gegen den Versuch der US-Regierung gewehrt hat, ihm einen Maulkorb anzulegen - ein Thema, auf das Kolbert allerdings nicht eingegangen ist.

So wie es in den Vereinigten Staaten nicht unüblich ist, daß sich sogar Geschäftspartner beim Vornamen nennen und damit eine gewisse Vertrautheit andeuten, scheint auch Kolbert mit vielen der von ihr interviewten Wissenschaftler rasch per Du gewesen zu sein. Das trägt mit dazu bei, daß es der Autorin gelungen ist, Kernaussagen der heutigen Klimaforschung mit Schilderungen aus dem Leben und der Arbeit der Wissenschaftler anzureichern und den Leserinnen und Lesern einen vergleichsweise seichten Einstieg in die Klimawandelthematik zu verschaffen. Diese gefällige, zugleich informative Art erinnert an die Tätigkeit Kolberts als langjährige Journalistin für die "New York Times" und heutige Reporterin für das Magazin "The New Yorker".

Als typisch für den Stil des Buchs kann der Bericht über eine Expedition amerikanischer Geophysiker angesehen werden. Diese waren 1997 mit dem Eisbrecher "Des Groseilliers" ins Nordpolarmeer aufgebrochen, um eine mächtige Eisscholle aufzusuchen, in die sie mit ihrem Schiff hineinfahren und sich von ihr über den Winter hinweg zwölf Monate lang treiben lassen wollten. Jahrelang hatten sich die Forscher auf die Expedition vorbereitet. Doch als sie den 75. Grad nördlicher Breite erreichten, stellten sie zu ihrer Überraschung fest, daß die Eisschollen dort nicht, wie bei einer früheren Expedition im Jahr 1975 gemessen, drei, sondern nur noch maximal zwei Meter dick waren.

Notgedrungen wählten sie eine Eisscholle von 0,90 bis 1,80 Metern Dicke, schlugen dort ihre Zelte auf, in denen sie die Meßinstrumente unterbrachten, und führten einige Sicherheitsmaßnahmen ein; beispielsweise nicht allein und nur mit Handy aufs Eis zu gehen, um im Notfall Hilfe herbeirufen zu können. Einige Forscher mutmaßten anfangs, daß ihre Eisscholle im Laufe des Winters noch dicker werden würde. Ein Irrtum, wie sich nach den zwölf Monaten, in denen die Eisscholle samt der "Des Groseilliers" 500 Kilometer weiter nordwärts getrieben war, herausstellte: Trotz der kalten Jahreszeit war die Eisscholle um bis zu einem Drittel ausgedünnt, und Kolbert wußte zu berichten: "Im August 1998 waren so viele Wissenschaftler im Eis eingebrochen, dass eine weitere Sicherheitsvorschrift erlassen wurde: Wer von Bord ging, musste eine Schwimmweste tragen." (S. 38)

Die Autorin beläßt es nicht bei solchen Anekdoten. Einige Seiten weiter erklärt sie in wenigen Sätzen, was eine Albedo ist und wie sie gemessen wird: "Das Spektralradiometer mißt, wenn es auf die Sonne ausgerichtet wird, die einfallende Lichtmenge und, zur Erde ausgerichtet, die reflektierte Lichtmenge. Dividiert man Letztere durch Erstere, erhält man eine 'Albedo' genannte physikalische Größe." (S. 40)

Die Albedo ist ein wichtiger Faktor in der Klimaforschung und spielt eine zentrale Rolle bei einem sich selbst verstärkenden Prozeß, durch den der Klimawandel eine Beschleunigung erfährt: Die weißen Eisflächen der Arktis reflektieren den größten Teil des eintreffenden Sonnenlichts. Verringert sich die Eisfläche, wird das Sonnenlicht von dem dunkleren Wasser absorbiert und als Wärme gespeichert. Infolgedessen schmilzt das Eis schneller, seine Ausdehnung nimmt weiter ab, und es kommt zu eine Beschleunigung der Erwärmung. In zwei Abbildungen (S. 39) wird gezeigt, daß das dauerhafte Meereis des Nordpolarmeeres zwischen September 1979 und September 2005 drastisch zurückgegangen ist, was bedeutet, daß mit dem Rückkopplungseffekt kein zukünftiges Ereignis beschrieben wird, sondern daß es bereits angelaufen ist.

Wer sich schon mit der Klimaproblematik befaßt hat, dem wird dieses Beispiel vertraut sein und der wird auch sonst in dem Buch nichts grundsätzlich Neues erfahren. Wie die Autorin selbst berichtet, hätte sie auch zig andere Beispiele anführen können, um den Klimawandel zu beschreiben. Wobei sie sicherlich auf einige "Klassiker" - Schwund des Meereises, Unterbrechen der thermohalinen Zirkulation (Versiegen des Golfstroms), Auftauen der Permafrostböden in der Arktis - nicht hätte verzichten dürfen. An manchen Stellen geht Kolbert fachlich etwas mehr in die Tiefe und fordert von ihrer Leserschaft, die Gedankenschritte der Wissenschaftler mitzugehen, um anschließend zu den gleichen Schlußfolgerungen wie sie zu gelangen, an anderen Stellen werden klimarelevante Informationen durch die bloße Schilderung - beispielsweise jene bemerkenswerten Umstände der "Des Groseilliers"-Expedition - eindrücklich vermittelt.

In jüngster Zeit sind so viele Bücher zur Problematik des Klimawandels erschienen, daß es nicht leicht fällt abzuwägen, welches zu welchem Zweck besser oder weniger gut geeignet ist. Die meisten erfüllen zumindest die wissenschaftlichen Grundvoraussetzungen. Die Stärken von Kolberts Buch liegen in der gerade für Laien angenehm zu lesenden Mischung aus Erlebnisberichten und persönlichen Begegnungen mit Wissenschaftlern und den häufig in einfachen Worten wiedergegebenen Sachinformationen.

Als weniger günstig hat sich herausgestellt, daß die Leserinnen und Leser, die einen Einstieg zur Thematik des Klimawandels erwarten, nicht unbedingt die Möglichkeit haben, die Relevanz der aufgeführten Beispiele zu beurteilen. So stellt sich die Frage, welche Bedeutung es hinsichtlich des Problems des Klimawandels hat, wenn sich bei einer Stechmückenart, die allein aufgrund abnehmender Tageslichtlänge (kritische Photoperiode) in den Ruhezustand (Diapause) verfällt, diese Phase der reduzierten Lebensvorgänge im Laufe der Jahre verkürzt hat (S. 86ff). Deshalb bleibt die Einordnung der Beispiele denjenigen überlassen, die sich bereits ein wenig auf dem Gebiet des Klimawandels auskennen. Die werden dann allerdings kaum auf Kolberts Buch zurückgreifen, eben weil ihnen das meiste vertraut sein dürfte.

Dennoch kann "Vor uns die Sintflut" allen empfohlen werden, die sich über die tagesaktuelle Berichterstattung hinaus mit dem Thema befassen möchten und nach einem alles in allem leicht verdaulichen Einstieg suchen. Nicht zuletzt regt Kolberts Kapitel über den klimabedingten Untergang von Kulturen (S. 105ff) dazu an, über die gegenwärtigen geostrategischen Bestrebungen der Staaten, sich vorteilhafte Ausgangspositionen am Vorabend künftiger Ressourcenkriege zu verschaffen, besser einschätzen zu können. Denn Klimafragen werden schon lange nicht mehr nur im Elfenbeinturm der Wissenschaft behandelt, sondern auch in den Bunkern der Militärs und Geheimdienste. Deren Expertisen lassen keinen Zweifel aufkommen, daß Wasser, Nahrung, Energie und allgemein Lebensraum weltweit auch aufgrund des rapiden Wandels der klimatischen Verhältnisse mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln umkämpft sein werden.

27.7.2007


Elizabeth Kolbert
Vor uns die Sintflut. Depeschen von der Klimafront
Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt
Berliner Taschenbuch Verlag, Berlin 2007
222 Seiten, 8,90 Euro
ISBN 978-3-8333-0520-7