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REZENSION/430: Berry/Philo - Israel und Palästina (SB)


Mike Berry/Greg Philo


Israel und Palästina

Kampf ums "gelobte" Land - eine vergleichende Betrachtung



Kaum ein Konflikt der Gegenwart polarisiert extremer als jener zwischen Israelis und Palästinensern, da er gleichsam als Matrix und Frontverlauf politischer und militärischer, aber ebenso kultureller und ethischer Denk- und Handlungsweisen Maßstäbe setzt. Auch nach mehr als einem halben Jahrhundert unablässiger Konfrontation ist kein Ausgleich oder Friedensschluß in Sicht, drohen im Gegenteil immer neue Stadien der Eskalation, die den permanenten Kriegszustand verstetigen und die Leiden der Menschen steigern. Spricht man im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt von einem Pulverfaß, so kann man die Kontroverse um das Für und Wider der beiderseitigen Positionen als Gang durch ein Minenfeld ins Bild setzen, bei dem man jederzeit Gefahr läuft, durch Berührung mit einem brisanten Reizthema die Explosion erbitterten Widerspruchs auszulösen. Hat man den Streitparteien im Nahen Osten oftmals eine verselbständigte Erzfeindschaft attestiert, die der Mäßigung und Vernunft nicht mehr zugänglich sei, so dürfte kaum ein politischer Diskurs so vorbelastet mit ideologischen Grundsatzerklärungen sein, die jede aufkeimende Pflanze konstruktiver Kritik wie ein Panzer zu überrollen drohen.

Mike Berry und Greg Philo haben sich dennoch nicht abschrecken lassen, mit einer vergleichenden Betrachtung markanter Aspekte dieses Konflikts auf der Möglichkeit fundierter Erkenntnis zu beharren, aus der eine begründete Stellungnahme resultiert. Dieser Grundanspruch jeder wissenschaftlichen Forschung und journalistischen Recherche ist beileibe keine Selbstverständlichkeit, wie gerade die Beschäftigung mit dem Nahostkonflikt lehrt. Indem die Autoren beide Seiten zu Wort kommen lassen, wollen sie den Vorwurf der Voreingenommenheit aus dem Feld schlagen. So verzichten sie am Ende ihrer Ausführungen explizit auf abschließende Worte und versichern noch einmal, daß es nicht ihre Absicht gewesen sei, sich in diesem Streit auf eine der beiden Seiten zu stellen oder zu bewerten, was die unterschiedlichen Parteien am besten tun sollten. Ihnen sei es lediglich darum gegangen, die gegensätzlichen Argumente in der Hoffnung vorzustellen, einen informativen Beitrag zum öffentlichen Diskurs um die Ursachen des Konflikts, die möglichen Lösungen und die dazu nötigen Schritte zu leisten.

Geburtshelfer dieser Form der Darstellung war die Erkenntnis der Autoren, daß es nicht eine einheitliche Geschichte des Konflikts gibt, sondern viele unterschiedliche und einander nicht selten fundamental widersprechende Versionen. Das gilt sowohl für die großen Diskrepanzen zwischen den Ausführungen israelischer und palästinensischer Historiker, als auch die Aussagen der Vertreter innerhalb der beiden Lager, die mitunter erheblich voneinander abweichen. Was Wahrheit sei, wird sich für den orthodoxen Juden zwangsläufig anders darstellen als für einen israelischen Sozialisten, der sich vermutlich einem palästinensischen Revolutionär verbunden fühlt, doch wiederum dem Verfechter eines islamischen Gottesstaats ablehnend gegenübersteht.

Wenngleich Meinungsverschiedenheiten bis zu einem gewissen Grad charakteristisch für jede Form der Auseinandersetzung seien, hätten sie in diesem Fall doch eine starke ideologische Dimension, da sie zur Rechtfertigung politischer Positionen eingesetzt werden könnten. Beispielsweise stellt eine Gruppe "neuer" israelischer Historiker die zionistische Darstellung der Entstehung des Staates Israel in Frage und sieht dessen Rolle hinsichtlich des Konflikts mit den Palästinensern durchaus kritisch. Dies hatte massive öffentliche Angriffe bis hin zur Tilgung solcher Auffassungen aus den Schulbüchern zur Folge.

Zwangsläufig gleicht das Unterfangen, den Anspruch eines monolithischen Geschichtsbilds zugunsten einer Bandbreite unterschiedlicher Auffassungen aufzugeben, ohne dabei in konturlose Beliebigkeit zu verfallen, einer Gratwanderung. Es hieße jedoch, den lebendigen Diskurs zu knebeln und die Doktrin der Forschung vorzuziehen, wollte man bestreiten, daß es sich so und nicht anders auf allen erdenklichen Gebieten des Erkenntnisgewinns verhält.

Während Berry und Philo bemüht sind, die gesamte Bandbreite der Standpunkte zu den jeweiligen historischen Ereignissen durch eine Auswahl charakteristischer Vertreter darzustellen, verfallen sie doch nicht auf die Ausflucht, die Argumente kommentarlos wiederzugeben. Sie bestreiten vielmehr entschieden, daß man alle Darstellungen gleichermaßen akzeptieren müsse, und bestehen darauf, daß sehr wohl ein Unterschied zwischen unbewiesenen Behauptungen und sorgsam recherchierten Fakten zu machen sei. Voneinander abweichende Ansichten könne und wolle man keineswegs ausschließen, doch dürfe man auch nicht unterschlagen, welche Auffassungen durch die bislang zugänglichen Beweise am besten gestützt würden. Dabei wolle man dem Leser vor allem die Möglichkeit geben, sich selbst ein Bild zu machen und die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Die Autoren greifen die wichtigsten Ereignisse im Verlauf des Konflikts auf und stellen sie in chronologischer Abfolge dar, was wesentlich dazu beiträgt, Grundmuster der beiderseitigen Argumentationsweisen wie auch langfristige strategische Entwürfe herauszuarbeiten und erkenntlich zu machen. Sie ziehen dazu Darstellungen des gesamten ideologischen Spektrums heran, um der Breite der vertretenen Ansätze ebenso Rechnung zu tragen wie die Tiefe des unversöhnlichen Streits samt den darin zum Ausdruck kommenden Kräften, die weit über die unmittelbaren Akteure hinausreichen, zu charakterisieren.

Wenngleich die ersten jüdischen Siedler in Palästina eine fast verschwindende Minderheit waren, deren künftiges Schicksal völlig ungewiß schien, sollte sich daraus eine rasch erstarkende Bewegung entwickeln, die in mehreren Wellen der Zuwanderung Fuß faßte und sich nicht nur in ihrem neuen Lebensumfeld durchsetzte, sondern dafür auch internationale Unterstützung gewann. Treibende Kraft dieser Einwanderung war der Zionismus als umfassender Entwurf zur Begründung und Schaffung einer Heimstatt für das jüdische Volk, zu deren Errichtung die Hilfe der Großmächte gewonnen werden mußte. Diese beiden Elemente, nämlich ein ungewöhnlich durchsetzungsfähiger und expansiv ausgerichteter ideologischer Komplex wie auch dessen Funktionalisierung im Kontext weltpolitischer Interessen zeichnen die Geschichte des Staates Israel von seinen Vorläufern bis auf den heutigen Tag aus.

Oft ist die Frage gestellt worden, ob ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben von Palästinensern und Israelis möglich gewesen wäre oder künftig möglich sein wird. Wenngleich beide Seiten dazu beigetragen haben, Ansätze in dieser Richtung zunichte zu machen, fällt doch auf, daß Israel aus jeder Kontroverse, jedem Krieg und jedem Abkommen gestärkt hervorgegangen ist, während die Palästinenser in das Freiluftgefängnis des Gazastreifens und das zerstückelte Bantustan des Westjordanlands zurückgedrängt und eingepfercht worden sind. Will man nicht in die rassistische Sichtweise verfallen, eine überlegene Art und Kultur setze sich gegen eine minderwertige durch, kommt man nicht darum herum, die wachsende Asymmetrie dieses Konflikts in Entstehung und Verlauf zu untersuchen.

Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang auch und gerade die britische Mandatszeit in den 1930er Jahren, da damals noch nicht entschieden war, ob die jüdischen Zuwanderer dauerhaft in Palästina Wurzeln schlagen würden und welche Folgen dies für das Zusammenleben mit der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung hätte. Mit Blick auf diese Phase einer geschichtlichen Weichenstellung gehen die Einschätzungen weit auseinander, aus welchen Gründen die Feindseligkeiten zunahmen und die Möglichkeit einer Koexistenz zusehends schwand. So vertreten etliche israelische Historiker die Auffassung, das zionistische Projekt wäre prinzipiell auch für die Araber von Vorteil gewesen, hätte nicht deren Unnachgiebigkeit und Fremdenfeindlichkeit die Annäherung verhindert. Während die Juden nicht nur das Land erschlossen, den Lebensstandard gehoben und neue Arbeitsplätze geschaffen, sondern darüber hinaus immer wieder versucht hätten, Lösungen zu finden, sei die Gegenseite nicht verhandlungsbereit gewesen und habe insbesondere den Teilungsplan durchweg abgelehnt.

Andere Forscher sehen hingegen in den materiellen Problemen der Palästinenser infolge Vertreibung der Bauern von ihrem Land und dem Boykott arabischer Arbeitskräfte die wesentlichen Ursachen eines wachsenden Grolls. So zitieren die Autoren den israelischen Historiker David Hirst (1977):

Nachdem man sie von den Landstücken vertrieben hatte, strömten die Bauern auf der Suche nach Arbeit scharenweise in die schnell anwachsenden Städte. Viele von ihnen endeten als Arbeiter, die Häuser für eben jene Immigranten bauten, die sie gleichzeitig hassten und fürchteten, und sie lebten im Elend. In der Altstadt von Haifa lebten 11.000 von ihnen zusammengepfercht in Hütten, die aus Benzinfässern gebaut worden waren und weder über eine Wasserversorgung noch über auch nur rudimentärste sanitäre Einrichtungen verfügten. Andere, die ohne Familie waren, schliefen unter freiem Himmel. Diese Lebensbedingungen standen auf beschämende Weise in Kontrast zu den schmucken Häusern, die diese Bauern für die wohlhabenden Neuankömmlinge bauten, aber auch zu den Unterbringungen für die jüdischen Arbeiter, die von den jüdischen Baufirmen ausgestattet wurden. Sie [die ehemaligen Bauern] verdienten nur die Hälfte, manchmal nur ein Viertel dessen, was ihre jüdischen Kollegen verdienten und durch die zunehmend exklusive Arbeitsvergabe an jüdische Arbeiter verloren sie nach und nach auch das noch.
(S. 29)

Angesichts dieser Beschreibung fühlt man sich zwangsläufig an die Lebensverhältnisse im heutigen Gazastreifen erinnert, als sei damals bereits alles im Keim angelegt worden, was später zum Schicksal des gesamten palästinensischen Volkes reifen sollte. Offensichtlich haben die jüdischen Einwanderer das Land keineswegs für alle, sondern für sich selbst erschlossen, ihren eigenen Wohlstand gemehrt und gutbezahlte Arbeit für ihresgleichen geschaffen. Daß dies nur auf Grundlage von Vertreibung, Ausbeutung und Ausgrenzung möglich war, legt die zitierte Passage eindrücklich nahe.

So trägt die weit gefächerte Auswahl der von den Autoren herangezogenen Quellen mit ihren höchst widersprüchlichen Einschätzungen und Interpretationen gerade in ihrem nur allzu deutlichen Kontrast maßgeblich dazu bei, dem Leser sowohl eine repräsentative Auswahl vertretener Standpunkte vorzulegen, als auch seine Urteilskraft zu schärfen.

Kann man ein eindeutiges und wachsendes Machtgefälle zwischen den Konfliktparteien ausmachen, ist die Annahme nicht länger von der Hand zu weisen, daß sich das Erstarken der einen Partei aus der systematischen Schwächung der anderen speist. Gelangt man in der Prozeßanalyse zu diesem Schluß, verbietet sich die Ausrede vorgeblicher Neutralität oder nicht wertender Objektivität von selbst, sofern man es nicht vorzieht, die Augen vor der verhängnisvollen Entwicklung zu verschließen und sich damit stillschweigend auf die Seite des Stärkeren zu schlagen.

18. März 2008


Mike Berry/Greg Philo
Israel und Palästina
Kampf ums "gelobte" Land - eine vergleichende Betrachtung
Kai Homilius Verlag Berlin 2007
184 Seiten
12,80 Euro
ISBN 978-3-89706-846-9