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REZENSION/486: D. Harvey - Kleine Geschichte des Neoliberalismus (SB)


David Harvey


Kleine Geschichte des Neoliberalismus



Aktuell macht die Weltwirtschaft eine Krise durch, wie man sie seit dem Börsencrash 1929 an der Wall Street und der nachfolgenden großen Depression nicht mehr erlebt hat. Wie die damalige Krise endete, ist hinlänglich bekannt, nämlich mit der schlimmsten Abschlachterei der Menschheitsgeschichte, dem Zweiten Weltkrieg. Ein baldiges Ende der aktuellen Krise ist angesichts des Bankrotts des früheren Vorzeigeindustrieunternehmens General Motors, der dramatischen Einbrüche bei den Ausfuhrzahlen der beiden einstigen Export-Weltmeister Deutschland und Japan und der Entuferung des Haushalts- und Handelsdefizits der USA, das zu einem guten Teil von der Volksrepublik China durch den Aufkauf von Schatzbriefen der amerikanischen Notenbank finanziert wird und das die dringende Gefahr eines Absturzes des Dollars als internationale Leitwährung mit sich bringt, nicht in Sicht. Begleitet werden die derzeitigen ökonomischen Turbulenzen von bedrohlichen politischen Entwicklungen - wie die anhaltenden Kriege der USA und ihrer Verbündeten im Irak und in Afghanistan, der internationale Streit um die Atomprogramme des Irans und Nordkoreas und die zunehmend instabile Lage in Pakistan -, die nur allzuleicht in einem dritten Weltinferno ausarten können.

Jemand, der die aktuelle Akkumulationskrise, wofür das letztjährige Platzen der Immobilienblase in den USA und das weitaus schwierigere und deshalb weniger thematisierte Problem hyperinflationierter Werte auf dem völlig unüberschaubaren Derivatenmarkt die auffälligsten Symptome sind, vorausgesehen und vorausgesagt hat, ist der englische Marxist David Harvey. In seinem 2005 auf englisch erschienenen Buch "A brief history of Neoliberalism", das letztes Jahr auf deutsch veröffentlicht wurde, erläutert Harvey die wichtigsten wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte zwar ausführlich, jedoch auf eine Weise, die sie für jeden interessierten Leser leicht nachvollziehbar machen dürfte. Harvey, der eigentlich studierter Geograph und Anthropologe ist, hat eine beeindruckende politisch-ökonomische Kurzgeschichte der Welt seit dem Ende der sechziger Jahre verfaßt und damit eine Ära, die im Zeichen des sogenannten Neoliberalismus steht, verständlich gemacht.

Laut Harvey, der heute als Professor an der City University of New York (CUNY) lehrt, hat der Neoliberalismus in erster Linie als politische Ideologie gedient, damit die reiche Oberschicht in allen Ländern in den letzten fast vier Jahrzehnten im Namen der "Freiheit", der "Entfesselung marktwirtschaftlicher Kräfte" und des vermeintlich effizienteren Haushaltens eine beispiellose Umverteilung gesellschaftlicher Ressourcen von unten nach oben bewerkstelligen konnte. Er beweist seine These unter Verweis auf zahlreiche Fälle, in denen die rein neoliberale Lehre jedesmal über den Haufen geworfen wurde, wenn ihre Umsetzung für das Großkapital unangenehme, sprich negative, finanzielle Konsequenzen gehabt hätte. Ähnliches erlebt man dieser Tage. Während die großen Wall-Street-Banken - mit Ausnahme der Lehman Brothers -, welche die aktuelle Finanzkrise verursacht haben, Billionen von Dollar aus dem US-Staatshaushalt geschenkt bekommen, über deren Verwendung sie zu keinerlei Rechenschaft verpflichtet sind, müssen im Vergleich Amerikas Autobauer um Darlehen und Bürgschaften lediglich in Milliardenhöhe betteln, für deren Abzahlung dann die gemeinen Fabrikarbeiter zu einer Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus gezwungen werden sollen.

Wie Harvey zeigt, ist die Sozialisierung der Verluste der Hochfinanz bei gleichzeitiger Privatisierung von staatlichen oder kommunalverwalteten Betrieben und Versorgungsunternehmen ein Erkennungsmerkmal der neoliberalen Krisenbewältigung, wobei die Vermutung auf der Hand liegt, daß die Finanzkrisen, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten in regelmäßigen Abständen in verschiedenen Teilen der Weltwirtschaft manifestierten - z. B. Mexiko 1982, Asien 1997/1998 - , keine Naturereignisse waren, sondern von Menschenhand herbeigeführt wurden und einer klaren, berechnenden Logik folgten. Vor diesem Hintergrund trifft Harveys Vorhersage, daß die jetzige Katastrophe einschließlich der durch die kostspielige Rettung der angeblich so "systemrelevanten" Banken entstandenen Löcher in den Staatsfinanzen der USA oder Deutschlands genauso wie Irlands oder Islands zum Anlaß genommen wird, weitreichende Privatisierungen und einen drastischen Abbau von Arbeiterrechten und Sozialstandards durchzudrücken, voll zu.

In einzelnen Kapiteln erläutert Harvey, wie die neoliberale Wirtschaftslehre in den verschiedenen Ländern unter anderem in Augusto Pinochets Chile, Deng Xiaopings China, Margaret Thatchers Großbritannien und Ronald Reagans USA jeweils auf unterschiedliche Weise greifen konnte. Die Tatsache, daß diese Ideologie, mittels derer angeblich den Menschen über den Weg der Entscheidungsfreiheit in diversen Lebenslagen zu ihrem Glück verholfen werden soll, letztendlich mit militärischer oder polizeistaatlicher Gewalt durchgesetzt wurde, entlarvt den Neoliberalismus als Blendwerk. Wie Harvey nachweist, ging es bei diesem Großprojekt in erster Linie um die Restauration von Klassenmacht, und zwar derjenigen der Plutokratie. Die vielbeschworene Freiheit hat für die Lohnabhängigen wenige Vorteile gebracht, aber sie in allen Lebensbelangen - bis hin zu Partnerschaft und Familie - disponibler gemacht.

Diese Eroberung menschlichen Bewußtseins einschließlich der Verabsolutierung wirtschaftlicher Effizienz- und kultureller Coolness-Kriterien, die den einzelnen entweder zum Schwerreichen, zum Konsumroboter, zum Mitglied des Präkariats oder zum Hungerleider degradieren, ist es, die Harvey in seinem Buch am eindrücklichsten schildert. Gegen diese Individualisierung bei gleichzeitiger Vorgaukelung irgendwelcher Selbstverwirklichungs-Chimären à la Madison Avenue muß sich der Mensch wehren, will er in einer Gesellschaft leben, in der jeder für den nächsten da und nicht einfach dessen Konkurrenten am Futtertrog ist. Um sich gegen dieses ideologische Mittel des Teilens-und-Herrschens - mehr steckt hinter dem Neoliberalismus auch nicht - gedanklich zu wappnen oder um sich zumindest ein Bild vom erschreckenden Ausmaß seiner Verbreitung überhaupt zu machen, lohnt sich die Lektüre von Harveys "Kleiner Geschichte...".

3. Juni 2009


David Harvey
Kleine Geschichte des Neoliberalismus
(Aus dem Englischen "A brief history of Neoliberalism" von Niels Kadritzke)
Rotpunktverlag, Zürich, 2008
279 Seiten
ISBN: 978-3-85869-343-3