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REZENSION/487: Moshe Zuckermann - Sechzig Jahre Israel (SB)


Moshe Zuckermann


Sechzig Jahre Israel

Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus



Der israelische Historiker Moshe Zuckermann gehört seit Jahren zu den profiliertesten Kennern und Kritikern des zionistischen Entwurfs, dessen politische Krise er schonungslos offenlegt und in ihrer Genesis mit bemerkenswerter Tiefenschärfe entschlüsselt. Seine Schrift "Sechzig Jahre Israel" überzeugt durch eine differenzierte Analyse jenes Komplexes, der von Verfechtern und Gegnern gleichermaßen allzu oft als unreflektierter oder gezielt ideologisierter Kampfbegriff ins Feld geführt wird. In seinen Voraussetzungen, seinem Verlauf und seinen Konsequenzen vielfach mißverstanden, verzerrt und funktionalisiert, nimmt "Zionismus" einen Fetischcharakter an, der in seiner schier unauflöslichen Verstrickung zur Gestalt eines Gordischen Knotens geronnen ist, der einen finalen Gewaltakt in den Rang der einzig verbliebenen Option zur Überwindung qualvoller Stagnation zu erheben droht.

Die apokalyptische Vision eines übergreifenden Krieges, der die gesamte Region in Schutt und Asche legt, könnte ausgelöst werden durch die endgültige Vertreibung der Palästinenser mittels einer ethnischen Säuberung, welche die Regime der arabischen Nachbarländer um ihres Überlebens willen ebensowenig hinnehmen können, wie jene Fraktionen der israelischen Bevölkerung, die Humanität nicht als bloßen Selbstbezug in ihr Gegenteil verkehren. Wahrscheinlicher ist jedoch die Entscheidung für eine der beiden verbliebenen Möglichkeiten des schmerzlichen Wegs aus der Sackgasse, die Zuckermann als Wahl zwischen Skylla und Charybdis beschreibt. Da die arabische Bevölkerung sowohl in Israel als auch in den Palästinensergebieten wesentlich rascher wächst als die jüdische, tickt aus Perspektive der letzteren eine demographische Zeitbombe, die in einem gemeinsamen Staat in absehbarer Zeit auf ein Apartheidregime hinausliefe, das den zionistischen Traum im Inneren zu Grabe trüge, wie es auch seinen Fortbestand der Unterstützung von außen beraubte.

Nahe läge daher die Gründung eines Palästinenserstaats, dessen unabdingbare Voraussetzungen jedoch durch das Freiluftgefängnis des Gazastreifens und die Fragmentierung des Westjordanlands systematisch zunichte gemacht werden. Um einen überlebensfähigen palästinensischen Staat zu schaffen, der mehr als die Farce eines demütigenden Protektorats wäre, müßte die Okkupation beendet und der Rückzug aus den besetzten Gebieten in Angriff genommen werden. Das aber liefe auf eine Konfrontation mit den Siedlern hinaus, die einer beispiellosen Zerreißprobe der israelischen Gesellschaft gleichkäme und einen Bürgerkrieg auszulösen drohte. Unwiderruflich der nie aufgegebenen Durchsetzung eines Großisraels zu entsagen, wäre nicht nur mit einem Verzicht auf weitere Expansion verbunden, es erforderte darüber hinaus auch eine Rücknahme all jener vollendeten Tatsachen, die sämtliche israelischen Regierungen unter Bruch des Völkerrechts wie auch diverser Abkommen in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten geschaffen haben.

An dieser historischen Weggabelung, vor die sich der Staat Israel heute gestellt sieht, ist nicht auszuschließen, daß sich der real existierende Zionismus als vorübergehende Episode in der Geschichte des jüdischen Volkes erweisen wird. Der Autor spricht in diesem Zusammenhang von einem geschichtlich gewordenen Projekt, "das scheitern mußte, weil sein politisch-gesellschaftlich-ideologisches Dasein und das damit einhergehende Selbstverständnis seines Kollektivsubjekts tendenziell selbstzerstörerisch, ja suizid angelegt waren". (S. 10)

Zuckermann wählt zur umfassenden Klärung dieser Frage ein Fortschreiten vom Ende zum Anfang, "von der Höhe des nachmaligen Wissens um die existenzielle Lage des im Gestrüpp seiner Probleme, dysfunktionalen Strukturen und der Ideologie seines zunehmend pervertierten Weges gefangenen zionistischen Israels zu den historischen Prädispositionen all dessen, was es zu dem hat werden lassen, was es heute ist. Es soll hier der zweite Weg beschritten werden, mithin die Genese der auf Israel lastenden Drohung geklärt werden, wobei die Drohung selbst als ein feststehendes Faktum erachtet wird, das der Erörterung bedarf. Darin wäre auch die Raison d'être des vorliegenden Bandes zu sehen." (S. 11)

Der Leser hat Teil an einer aus tiefschürfender wissenschaftlicher Auseinandersetzung resultierenden Schärfe des Diskurses, die bei aller Präzision doch niemals in die Not gerät, sich hinter Expertenwissen zu verschanzen oder zu Schlußfolgerungen zu drängen, wo sich diese nicht aus der Stichhaltigkeit der Argumente ergeben. Die wesentlichen Bestimmungsmerkmale und Entwicklungsverläufe zionistischer Durchdringung der israelischen Staatsräson werden mit einer bemerkenswerten Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit dargelegt, die nicht auf den Konsens abstellt, sondern im Gegenteil die Konsequenzen der Untersuchung auch dann nicht scheut, wo diese auf weithin tabuisiertes, verdrängtes und gefürchtetes Terrain führt.

Moshe Zuckermann streitet aus Sorge um die gesellschaftlichen Verhältnisse des Landes, in dem er lebt, was alle Anfeindungen obsolet macht, ihm sei daran gelegen, den Feinden Israels das Wort zu reden. Auch ist er kein Antizionist, da er den Entstehungszusammenhang des Zionismus vor dem Hintergrund des Lebens in der Diaspora, der Judenverfolgung und insbesondere der Shoah nicht nur dezidiert erläutert, sondern diesen Entwurf auch als keineswegs von vornherein festgelegte Entwicklungsmöglichkeit zu würdigen weiß. Das hindert ihn jedoch nicht darin, die vielfältigen Momente und Formen jener Funktionalisierung und Fetischisierung aufzudecken, die maßgeblich zu der Wirkmächtigkeit historischer Weichenstellungen beitrugen, die schließlich in die verhängnisvolle Konstellation gegenwärtiger Verhältnisse mündeten.

In seinem Geschichtsverständnis bestreitet der Autor jede Schicksalhaftigkeit und Unvermeidlichkeit historischer Entwicklung. Wie er hervorhebt, könne sich immer nur aus Perspektive des Resultats der irrige Eindruck aufdrängen, die Vergangenheit habe jederzeit zielstrebig und unabwendbar auf diesen Punkt zugesteuert. Vom momentanen Stand des geschichtlichen Prozesses ausgehend, lassen sich jedoch durchaus die letztlich durchsetzungsfähigsten inneren und äußeren Einflüsse benennen und bewerten. So trug beispielsweise die Einbindung Israels durch die Westmächte im Kalten Krieg maßgeblich zu Ausrichtung und Bedeutungszuwachs des jungen Staats bei, da sie die dauerhafte wirtschaftliche, militärische und ideologische Unterstützung garantierte.

Damit korrespondierte eine definitive Abkehr von den sozialistischen Anteilen und Strömungen in der zionistischen Bewegung, die zugunsten einer explizit kapitalistischen Gesellschaftsordnung ad acta gelegt wurden. Daß in den Anfangsjahren des Staates Israel eine andere Entwicklung nicht gänzlich ausgeschlossen war, illustriert auch die Kibbuzbewegung, die sowohl durch eine staatlicherseits verordnete Kurskorrektur als auch ihre Verhaftung an einer auf Produktion und Tausch von Waren beruhenden Wirtschaftsweise frühzeitig kontaminiert und vereinnahmt wurde.

Auch im Kontext kultureller Einflüsse in der durch Einwanderung aus höchst unterschiedlichen Regionen und Lebensweisen entstandenen Mischgesellschaft Israels dringt Zuckermann zu den kapitalistisch organisierten Herrschaftsverhältnissen vor. Er legt schlüssig dar, daß die westlich-säkulare Kultur nicht aus sich selbst heraus dominierte, sondern als Wesensmerkmal der wirtschaftlichen und politischen Eliten des Landes Durchsetzungskraft erlangte. An anderer Stelle schildert er den desaströsen Niedergang der politischen Linken, die sich in die Staatsdoktrin einbinden ließ und in jüngster Zeit fast vollständig der Drift zum rechtsnationalistischen Rand des politischen Spektrums anschloß.

Für den deutschen Leser ist Moshe Zuckermanns Zwischenbilanz nach sechzig Jahren Israel besonders aufschlußreich und empfehlenswert, gewährt er doch kenntnisreich Einblicke in Ereignisse und Aspekte der Umsetzung des zionistischen Entwurfs, die hierzulande nur wenigen geläufig sein dürften und in ihrer Zusammenschau pointiert das Gesamtbild komponieren. Daß Gelehrsamkeit im besten Sinn und die Fähigkeit zu lebendiger Vermittlung Hand in Hand gehen, wenn die errungene Position Streitbarkeit im Diskurs entfaltet, dokumentiert nicht zuletzt der Anhang, in dem der Autor noch einmal gesondert auf die deutsch-israelischen Beziehungen eingeht. Adorno formulierte den neuen kategorischen Imperativ, wonach die Menschen angehalten sind, ihr Denken und Handeln so einzurichten, "daß Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe".

Zuckermann stellt dar, wie die Monstrosität des Geschehenen anfänglich in beiden Kollektiven beschwiegen wurde, und sodann in einen pekuniären Tauschvertrag namens Wiedergutmachung mündete. Das 1952 geschlossene Abkommen zwischen der BRD und Israel lief auf eine Materialisierung der Sühne hinaus, womit ein Tauschwert für das zu bewältigende Grauen festgelegt wurde. Westdeutschland wurde geläutert und als Bollwerk gegen den Kommunismus installiert, die israelische Führung brauchte dringend Kapital und setzte die Zweckrationalität gegen Widerstände im eigenen Land durch. Damit war die Basis der Beziehungen zwischen den beiden Staaten gelegt, die nichts mit Moral, wohl aber mit deren Ideologisierung und einer Verdinglichung von Schuld, Schande und Scham durch das Tauschprinzip zu tun hat.

Der Autor verwahrt sich gegen vorgebliche Solidarität mit Israel, die Antisemitismus durch Islamophobie ersetzt. Er widerlegt die Behauptung, daß heute in Deutschland erneut Antisemitismus tobt, und stellt dessen offenbar unausrottbaren Bodensatz in den Kontext genereller Fremdenfeindlichkeit und deren inhärent rassistische Tönungen. Israelsolidarität als Teil der deutschen Staatsräson, zumal wenn sie die Hamas oder Hisbollah mit den Nationalsozialisten in einen Topf wirft, ignoriert gezielt die grundverschiedenen historischen Konstellationen. Wer noch immer nicht den Unterschied zwischen Judentum, Zionismus und Israel, mithin zwischen Antisemitismus, Antizionismus und Israel-Kritik begriffen hat, wird zwangsläufig vermengen, was auseinandergehalten werden muß. Die Deutschen sollten sich davor hüten, ihre befindlichkeitsgeschwängerte Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus über ein fetischisiertes Israel-Bild und eine interessengeleitete Abstraktion von Juden und Zionismus zu betreiben, rät uns Moshe Zuckermann.

8. Juni 2009


Moshe Zuckermann
Sechzig Jahre Israel
Die Genesis einer politischen Krise des Zionismus
Pahl-Rugenstein Verlag, Bonn 2009
166 S., 16,90 Euro
ISBN 978-3-89144-413-9