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REZENSION/516: Raul Zelik - Die kolumbianischen Paramilitärs (SB)


Raul Zelik


Die kolumbianischen Paramilitärs

"Regieren ohne Staat?" oder terroristische Formen der Inneren Sicherheit



Mit seiner Analyse des Paramilitarismus in Kolumbien setzt Raul Zelik den Standard in der deutschsprachigen Debatte über dieses Phänomen wie auch dessen Einbindung in den Diskurs um sogenannte Neue Kriege und Failing States. Auf Grundlage einer langjährigen Feld- und Quellenforschung legt der Autor eine alternative Interpretation des Bürgerkriegs in dem südamerikanischen Land vor, das er seit 1985 immer wieder besucht hat. Bei diesen Reisen bewegte er sich an der Seite von Menschenrechtsgruppen, Kleinbauernorganisationen und Gewerkschaften, also jenen Gruppen, die von paramilitärischer Gewalt besonders stark betroffen sind. War er zunächst als Unterstützer bedrohter Aktivisten unterwegs, wobei er die meisten Reisen auch als freier Autor publizistisch verwertete, so verdichtete der Politikwissenschaftler die dabei gewonnenen Erkenntnisse in Verbindung mit einer fundierten Auswertung des anspruchsvollen Quellenmaterials zu einer Promotionsarbeit am Berliner Otto-Suhr-Institut.

Durch seine spezifische Form der teilnehmenden Beobachtung, die eine Parteinahme impliziert, konnte er Vertrauensbeziehungen zu den Betroffenen aufbauen und sich in Konfliktgebiete begeben, die ihm andernfalls verschlossen geblieben wären. Daraus resultiert eine ebenso positionierte wie kenntnisreiche Darstellung der paramilitärischen Umtriebe, die in wesentlichen Teilen von der gängigen akademischen und politischen Ausdeutung abweicht, ja diese geradezu vom Kopf auf die Füße stellt. Wird von Binnenflüchtlingen, Massakern, Attentaten, Entführungen, Drogenhandel und blutigen Gefechten berichtet, mutet Kolumbien wie das Paradebeispiel eines zerfallenden Gewaltmonopols an. Der Behauptung, die Erosion des Staates sei Folge eines ökonomisch motivierten Bandenkriegs, der zur Enthegung von Gewalt und Greueltaten gegen die Bevölkerung führt, widerspricht Raul Zelik entschieden. Wie er dezidiert darlegt, sind gerade die extremsten Gewaltanwendungen Folge einer Aufweichung des Gewaltmonopols, die von Teilen des Staates selbst vorangetrieben wird.

Der lange Forschungszeitraum von fast fünf Jahren mindert die Aussagekraft dieser Arbeit keineswegs, da sie Fragen zur Entwicklung der Kriegführung wie auch zur Verknüpfung von Staat, Ökonomie, Herrschaft und extremer Gewalt aufwirft. Zelik führt nicht nur in die Geschichte des kolumbianischen Konflikts und den Charakter des Paramilitarismus ein, wobei er dessen Praktiken und Verflechtungen weitreichend recherchiert, sondern befaßt sich auch kritisch mit der theoretischen Diskussion um Kriegführung, Staatlichkeit und Repression. Nicht minder erhellend ist die Aufschlüsselung von Gewaltunternehmertum und Drogenhandel im Kontext ökonomischer und politischer Kräfte, die weit über Kolumbien hinausreichen. Erst vor dem Hintergrund imperialer Militärkonzepte erschließen sich Genese und Zielsetzung dieses spezifischen Gewaltpotentials: Der kolumbianische Konflikt ist weder eine autochthone Tragödie noch ein bloßer Ordnungs- und Zivilisationsverlust, sondern vielmehr eine überaus effiziente Form herrschaftlicher Gewalt in einem Laboratorium des Krieges.

Der sicherheitspolitische Diskurs in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union wird heute von zwei miteinander verknüpften Paradigmen bestimmt, dem "internationalen Terrorismus" und den "zerfallen(d)en Staaten". Demnach werden bewaffnete Konflikte zunehmend von Guerillas, Banden und Terroristen ausgetragen, weshalb man staatliche Sicherheitspolitik grundlegend neu strukturieren müsse. Der Krieg der Zukunft sei als politisches, polizeiliches und mediales Unterfangen zu begreifen, wobei wie im Falle der neuen US-Politik räumliche und konzeptionelle Grenzen zwischen Polizeioperationen, Geheimdiensttätigkeit und Krieg aufgehoben werden. Dieser Lesart zufolge führt der Zerfall staatlicher Gewaltmonopole in Ländern der Peripherie zu einer Enthegung der Kriegsgewalt, weil irreguläre Akteure nicht an zwischenstaatliche Konventionen gebunden sind, sondern in dem Konflikt eine Einkommensquelle sehen. Dadurch wird Krieg angeblich von jeder politischen Kontrolle entbunden, während sich in zunehmend staatsfreien Räumen Anomie ausbreitet, die den Nährboden für illegale Geschäfte und Terror bildet. Als gefährlichster Ausdruck dieser Entregelung von Gewalt gilt der "internationale Terrorismus", der keine Grenzen kenne und Zivilisten zum Angriffsziel mache.

Diese Argumentation korrespondiert mit der Militärdoktrin und Sicherheitsdebatte der USA, der zufolge moderne Kriege nicht länger auf den geordneten Schlachtfeldern der Vergangenheit geführt werden. Da Aufständische netzwerkartige Strukturen bildeten und mit irregulären Mitteln operierten, gilt es Strategien zu entwickeln, in denen Politik, Kommunikation, wirtschaftliche Entwicklung, Polizeimaßnahmen und militärische Gewalt zu einem Gesamtkonzept verschmelzen. Plädiert wird für eine Governance, die als flexibles Zusammenspiel staatlicher und nichtstaatlicher Akteure, von zivilgesellschaftlichen und militärischen Handlungen in Erscheinung tritt. Solche Kriege zu führen, beschränke sich nicht nur auf Regierung und Militär, da Militärfirmen, vor Ort engagierte Wirtschaftsunternehmen und Nichtregierungsorganisationen einzubinden seien, um am Nation Building mitzuwirken. US-Militärstrategen sind bestrebt, die Beteiligung eigener Truppen zu reduzieren und statt dessen andere Konfliktakteure zu beeinflussen, also Streit zwischen verschiedenen Fraktionen zu schüren, verbündete Milizen einzusetzen oder geheim operierende Einheiten auszuschicken.

Wie Raul Zelik herausarbeitet, formulieren diese Sicherheitsdiskurse an entscheidenden Stellen unzutreffende Prämissen. Weder hat die Entstaatlichung des Krieges eine qualitativ neue Enthegung von Gewalt und somit eine Verschärfung der Unsicherheit in Gang gesetzt noch sind "asymmetrische" Konfliktformen historisch neu, weshalb die Behauptung, die westlichen Armeen stünden den Herausforderungen unvorbereitet gegenüber, schlichtweg falsch ist. In den Weltkriegen kam ein industrielles Zerstörungspotential zum Einsatz, das der Zivilbevölkerung größtmögliche Unsicherheit bescherte. Auch kann man von "Asymmetrie" der Auseinandersetzungen spätestens seit der Konstitution der europäischen und nordamerikanischen Kolonialmächte als imperiale Staaten sprechen.

Der Export der Nationalen Sicherheitsdoktrin durch die USA und andere NATO-Staaten führte seit den 1950er Jahren zu einer Transformation der Kriegführung, die sich in Korea und Vietnam, bei den französischen Kolonialkriegen in Algerien und Indochina oder bei der US-geleiteten Aufstandsbekämpfung in Lateinamerika, auf den Philippinen und teilweise auch in Südeuropa niederschlug. Im Rahmen dieser Irregularisierung wurde der Einsatz von Folter, der Aufbau von Spezialeinheiten, die gezielte Beeinflussung der Bevölkerung und die Bildung von Todesschwadronen forciert. Mithin sind also Angriffe auf Zivilisten kein Monopol von "Terroristen", sondern konstituierender Bestandteil einer staatlichen Kriegführung niedriger Intensität. Ebensowenig ist die Fortführung von Kampfhandlungen aus wirtschaftlichen Gründen ein Privileg von Warlords und Banditen, da die boomende Rüstungs-, Militär- und Sicherheitsdienstbranche von demselben Mechanismus beherrscht wird.

Im Falle Kolumbiens hebt der Autor hervor, daß die Aufweichung des staatlichen Gewaltmonopols heute von staatlichen Akteuren und insbesondere der Führungsmacht USA selbst forciert wird. Die Beschränkung der Staatsgewalt zugunsten anderer herrschaftlicher Gewaltpraktiken dient der Stärkung der Exekutive und der effizienten sozialen Kontrolle, so daß sich die These, zerfallende Staaten gefährdeten die globale Sicherheit, als Verschleierungsmanöver erweist. Der kolumbianische Paramilitarismus ist gleichermaßen Instrument und Motor eines umfassenden Transformationsprojektes, das der brutalen Aufstandsbekämpfung, Zerschlagung der Opposition und Zerstörung der sozialen Netzwerke dient. Durch die Auslagerung extremer Gewalt aus dem Staatsapparat wurden die politischen und ökonomischen Kosten der Aufstandsbekämpfung niedrig gehalten, wobei man den international anfechtbaren Übergang zur Diktatur vermied und dennoch einen dauerhaften Ausnahmezustand herstellte.

Die extreme Grausamkeit paramilitärischer Gewalt zielt auf die umfassende Kontrolle der Bevölkerung ab, wobei nicht nur konkrete Personen und Organisationen bekämpft, sondern die umfassende Unterwerfung unter ein Ordnungssystem angestrebt wird. Systematisch herbeigeführte Ohnmachtserfahrungen der permanent drangsalierten Bevölkerung sollen Alternativen zur dominanten Ordnung unvorstellbar machen, zumal die Straflosigkeit der Täter und ihre Verquickung mit dem Staatsapparat jeden Ausweg obsolet erscheinen lassen.

Mit solchen massiven Eingriffen werden in Kolumbien nicht zuletzt ökonomische Veränderungen wie die Schwächung der Gewerkschaftsbewegung, die Freisetzung billiger Arbeitskraft oder die Zwangskapitalisierung bislang subsistenzorientierter Lokalökonomien erzwungen. Auf diese Weise werden sozioökonomische Strukturen zugunsten nationaler Eliten geschaffen und dem transnationalen Kapital neue Investitions- und Akkumulationsmöglichkeiten eröffnet.

Beim kolumbianischen Paramilitarismus handelt es sich somit keineswegs um einen unkontrollierten Verlust staatlichen Gewaltmonopols, sondern vielmehr um eine Auslagerung repressiver Gewalt, die der Herrschaftssicherung von führenden Machtgruppen und Teilen des Staatsapparats dient. Daß sich die Paramilitärs durch die Kontrolle des Drogenhandels und anderer Teile der Schattenökonomie finanziell selbst versorgen, ist einerseits aus Sicht ihrer Profiteure attraktiv, führt aber andererseits zu einem Machtzuwachs gegenüber den Auftraggebern, welche in eine Mafiotisierung des Staates mündet. Der prinzipielle Herrschaftscharakter staatlicher Ordnung im Dienst gesellschaftlich dominanter Kräfte verschiebt sich tendenziell in Richtung klandestiner informeller Machtstrukturen, was den Bestand der Institutionen insgesamt gefährdet.

Daher stellen illegale Strukturen eines tendentiellen Regierens ohne Staat ein instabiles, weil potentiell von Strafverfolgung bedrohtes Instrument in Krisensituationen dar, das letztendlich wieder gegenreguliert werden muß. Die Regierung Uribe unternahm beträchtliche Anstrengungen, eine rechtliche Lösung des Phänomens Paramilitarismus herbeizuführen. Verbündete Fraktionen wurden legalisiert, und erst als dies wegen der kriminellen Eigendynamik des Gewaltunternehmertums scheiterte, nahm man führende Kommandanten fest und lieferte sie an die USA aus. So kann die Rückführung illegaler Akteure in formale Verhältnisse entweder zu deren Integration in prominente Positionen führen oder in strafrechtliche Verfolgung münden.

Die Standarderklärung, Paramilitarismus erwachse in Räumen beschränkter Staatlichkeit als gewissermaßen notwendige Form der Reaktion auf die Guerilla, stellt somit die Verhältnisse auf den Kopf. Enthegte Gewalt stellt sich vielmehr als eine informelle Regierungstechnik dar, mit der Herrschaft parallel und in Ergänzung zum Staat durchgesetzt wird. Wenngleich der kolumbianische Paramilitarismus keine bloße Erfindung der USA ist, kann er doch als eine sich selbst transformierende Strategie im Kontext einer international durchgesetzten Innovation von Kriegführung und staatlicher Gewalt aufgefaßt werden, wie sie auch im Irak oder in Afghanistan zu beobachten ist. Der erweiterte exekutive Staatsapparat führt keineswegs zum Zerfall des Staates, da ausgelagerte Strukturen in Gestalt privater Kriegsakteure eng in die Sicherheitsarchitektur eingebunden bleiben. Zudem stellt das Outsourcing von Drangsalierung, Folter und Gefangenschaft eine Verschärfung exekutiver Gewalt und nicht etwa deren Verlust an Saboteure staatlicher Ordnung dar.

Wie die USA in Kolumbien den aufstandsbekämpfenden Narcoparamilitarismus genutzt haben, geschah Vergleichbares mit der südeuropäischen Mafia nach dem Zweiten Weltkrieg, den Bergstämmen im Vietnamkrieg, den Contras in Nicaragua oder den Warlords in Afghanistan, wobei stets die Förderung des Drogenhandels ein wesentliches Element der Finanzierung darstellte. Als gouvernementales Mittel der USA und ihrer Verbündeten ist im Rahmen der asymmetrischen Kriegsführung die Kontrolle der Bevölkerung zum zentralen Motiv militärischen Handelns geworden, wobei die Gewaltausübung durch ausgelagerte Akteure nur einen ersten Schritt darstellt, neue Formen der Beherrschbarkeit durchzusetzen und zu verankern. Im Falle Kolumbiens handelt es sich mitnichten um einen zerfallenden Staat, wohl aber eine Form staatlicher Herrschaft, die das zivile und bewaffnete Aufbegehren gegen Armut und Ausbeutung mit massivsten Mitteln zu unterdrücken versucht.

Wie Raul Zelik abschließend anmerkt, ist es der entfesselten Repression auch nach Jahrzehnten "schmutzigen Kriegs" nicht gelungen, alle Widerstandsformen zu vernichten und Friedhofsruhe herzustellen. Der Autor verweist auf zahlreiche Basisorganisationen und soziale Netzwerke, die allen Massakern, Vertreibungen und Drangsalierungen zum Trotz an ihrer Vorstellung von gesellschaftlicher Veränderung festhalten. Mag der paramilitärische Krieg als Reaktion auf die latente Krise der 1980er Jahre im Sinne herrschaftssichernder Stabilisierung auch weitgehend gelungen sein, so ist er doch als politisches Transformationsprojekt mit dem Ziel vollkommener Einschüchterung unvollendet geblieben, da sich soziale Bewegungen und indigene Gemeinschaften bis heute dem aufgezwungenen Gewaltverhältnis widersetzen.

27. April 2010


Raul Zelik
Die kolumbianischen Paramilitärs
"Regieren ohne Staat?" oder terroristische Formen der Inneren
Sicherheit
Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2009
352 Seiten
ISBN 978-3-89691-766-9